EU-Kommission pocht auf Lohndumping
Anfang Februar ging eine Meldung durch viele Schweizer Medien: Künftig werde die EU zehn Hilfswerke nicht mehr fördern. Hinter dieser Ankündigung steckt, wie BeobachterInnen vermuten, eine nur schlecht versteckte Drohung: Die EU will auf Drängen baden-württembergischer Handwerkskammern das geplante Rahmenabkommen mit der Schweiz für weitere Liberalisierungen nutzen – und Lohnkontrollen zum Schutz der Beschäftigten aushebeln.
Kurz vor Weihnachten bekamen zehn Schweizer NGOs Post aus Brüssel: Sie würden ab 2019 kein Geld mehr von der EU erhalten. Bisher hatten Hilfswerke wie Ärzte ohne Grenzen, Solidar Suisse, Alliance Sud, Terre des hommes, Caritas auf Basis einer Konvention des Europarats jährlich 50 Millionen Euro von der Kommission erhalten. Doch damit sei es jetzt vorbei, schrieb die Generaldirektion Humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz – und machte für die Entscheidung eine „fehlende Rechtsgrundlage“ geltend. Einen Zusammenhang mit den stockenden Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU um ein institutionelles Rahmenabkommen gebe es nicht. Doch genau das bezweifeln die Hilfswerke; laut Medienberichten Anfang Februar vermutet Mark Herkenrath, Geschäftsleiter von Alliance Sud, hinter dem Schritt „politische Ränkespiele“.
Seit 2014 verhandeln die EU-Kommission und die Schweizer Regierung – der Bundesrat – über ein neues Rahmenabkommen, das die über hundert bilateralen Verträge ersetzen soll, die bisher die Beziehungen zwischen der EU und dem Nicht-EU-Land Schweiz regelten. Die EU will künftig neue Marktzugangsabkommen nicht mehr über Einzelverträge abschliessen – und die bürgerlichen Parteien der Schweiz zeigten sich nicht abgeneigt; jedenfalls plädieren sie für einen Abschluss des Vertrags. Doch die Gewerkschaften machen nicht mit. Bereits im Spätsommer 2018 legten sie ein Veto ein und stellten das Gespräch mit dem Bundesrat ein.
Der Grund dafür sind Bemühungen der EU, die sogenannten Flankierenden Maßnahmen einzudampfen, die der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) durchgesetzt hatte, um Lohndumping in der Schweiz zu verhindern. Sie waren eine Bedingung dafür gewesen, dass der SGB der Personenfreizügigkeit zustimmte: Alle EU-Staatsangehörigen und in der EU ansässigen Firmen bekommen Zugang – aber unter der Voraussetzung, dass sie die ortsüblichen Löhne zahlen. Um dies sicherzustellen, müssen Unternehmen eine achttägige Anmeldefrist beachten, wenn sie Beschäftigte zur Arbeit in der Schweiz entsenden, sie müssen Lohnkontrollen akzeptieren – und eine Kaution hinterlegen, mit der etwaige Geldstrafen beglichen werden, sollten sie die Regel „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ verletzen.
Diese Bedingungen störten vor allem süddeutsche Unternehmen, die seit langem lauthals eine Verkürzung der Anmeldefrist, geringere Kautionen und weniger Lohnkontrollen fordern. Bereits 2015 publizierte der baden-württembergische Handwerkstag ein Positionspapier zu den „bestehenden Hemmnissen bei der Auftragsabwicklung deutscher Handwerksunternehmen in der Schweiz“ und beauftragten Anwälte, die in der Schweiz vorstellig wurden. Besonders hervorgetan hat sich dabei nach Informationen von Andreas Rieger der CDU-Europaparlamentarier Andreas Schwab. Laut Rieger, früher Co-Vorsitzender der größten Schweizer Gewerkschaft Unia und heute Vorstandsmitglied des Europäischen Gewerkschaftsbunds EGB, beklage sich Schwab immer wieder lauthals darüber, dass die Flankierenden Maßnahmen das Prinzip der Personenfreizügigkeit verletzen „und ein Übermaß an bürokratischer Arbeit schaffen“ würden. So beschreibt es in Rieger in einer Analyse für den gewerkschaftsnahen Thinktank „Denknetz“. MdEP Schwab ist übrigens seit einiger Zeit Chef der CDU Südbaden.
Dass die Unternehmen „Probleme haben“ (so Schwab), ist unbestritten: Je nach Branche sind bei den rund 40.000 Lohnkontrollen, die 2017 vorgenommen wurden, zwischen 20 und 40 Prozent der Firmen dabei erwischt worden, dass sie ihren Beschäftigten weniger als den in der Schweiz üblichen Lohn bezahlten; vor allem die südwestdeutsche Bauwirtschaft ist dadurch aufgefallen, dass sie auf dem lukrativen Immobiliensektor die Schweizer Konkurrenz auf Kosten der eigenen Beschäftigten zu unterbieten versucht.
Nicht alle Handwerksbetriebe sehen das so. Es gibt auch Firmen, laut denen die Flankierenden Maßnahmen helfen, die Qualität gegen Dumpingangebote zu verteidigen und denen die achttägige Vorlauffrist hilft, sich gegen übertriebenen Termindruck zu wehren. Aber diese Stimmen fanden in der neoliberal orientierten EU-Kommission weniger Gehör. Sollte sich die EU in den Verhandlungen durchsetzen, „würde der Lohnschutz in der Schweiz in wesentlichen Bereichen grundlegend in Frage gestellt“, schrieb kürzlich die Gewerkschaft Unia in einer Pressemitteilung. Und weiter: „Die vorgeschlagene Schwächung der Flankierenden Maßnahmen werden die Gewerkschaften nie akzeptieren.“ Denn: „Wer die Flankierenden Maßnahmen preisgibt, stellt auch die Personenfreizügigkeit in Frage. Nur ein soziales Europa mit starken Arbeitnehmerrechten und Lohnschutz kann ein geeintes Europa sein.“
Mit dieser Position stehen die Schweizer Gewerkschaften übrigens nicht allein. Sie bekommen auch von einem Teil der Bevölkerung Rückendeckung – und vom EGB, dessen Generalsekretär Luca Visentini kürzlich zur Verteidigung der Flankierenden Maßnahmen aufrief: „Was hier passiert, ist Teil eines größeren Bilds. Wir wollen, dass innerhalb der EU – aber auch in Ländern wie der Schweiz, die durch spezielle Abkommen mit der EU verbunden sind – die Arbeiterrechte überall im gleichen Maß geschützt sind.“ Sollte der Lohnschutz in der Schweiz durch einen neuen Vertrag mit der EU untergraben werden, „könnte das den Schutz auch in anderen Ländern schwächen. (…) Wir führen also einen gesamteuropäischen Kampf.“
Nur hat das hier noch niemand mitbekommen.
Pit Wuhrer (Foto: SGB-Protest zur Verteidigung der „roten Linien“ gegen die EU; www.unia.ch)
Mich stört die Behauptung, die Flankierenden Massnahmen (für den Arbeitsschutz) sollten „eingedampft“ werden. Klingt so,als ob sie völlig verschwinden sollten. Das ist aber nicht so. Es gibt im Text des Rahmenabkommens (kann auf der Webseite des Bundes abgerufen werden) genau zwei Änderungen: statt 8 sollen es nur noch 4 Tage Vorankündigung von Arbeitseinsätzen sein und es sollen nicht mehr von allen Betrieben Kautionen verlangt werden können, sondern nur noch von solchen, die bereits einmal gegen die Vorschriften der Flankierenden Massnahmen verstossen haben. Ansonsten wird ganz klar weiterhin das Recht eingeräumt, die Einhaltung der Schutzvorschriften zu überprüfen. Die wiederum entsprechen – bis auf die zusätzliche Meldefrist samt Kaution – der neuen EU-Entsenderichtlinie 2018/957/EU, in der in Art. 3 ebenso klar festgehalten ist, dass für entsandte ArbeitnehmerInnen die gleichen Löhne und Arbeitsbedingungen gelten, wie für Einheimische. EU-Staaten könen untereinander die Einhaltung dieser Richtlinie auch überprüfen (genau wie in der Schweiz geprüft werden kann).
Die Frage ist doch, ob die Halbierung der Anmeldefrist nun wirklich für die Gewerkschaften derart unzumutbar ist. Problematischer scheint mir, dass die Kautionen nur noch für bereits „Erwischte“ zulässig wären. Denn Schlaumeier lösen dann einfach ihre (kleine) Firma auf und kommen mit einem neuen Namen erneut. Allerdings müsste man mal nachsehen, für wieviele der bisher Erwischten das denn eine Option gewesen wäre.
@Lukas Barwitzki: Erst einmal hätte die Ablehnung des Rahmenabkommens keine Auswirkungen auf die Bilateralen, denn es soll ja geschlossen werden, weil die Schweiz weitere Verträge für freien Marktzugang will. Die EU wiederum macht solche davon abhängig, alle (bis heute 120) Verträge zwischen der EU und der Schweiz einem Rahmenabkommen zu unterstellen. Auf bisherige Verträge würde sich die Ablehnung erst auswirken, wenn „alte“ Verträge auslaufen und neu verhandelt oder verlängert werden müssten. Es gibt – jedenfalls bis jetzt – keine Auswirkungen der Guillotine-Klausel. Auch die Grenzgänger-Abkommen wären davon so lange nicht betroffen, als sie kein „Ablaufdatum“ haben oder auf neue Füsse gestellt werden sollten.
Als Grenzgänger, der täglich nach Zürich pendelt, sehe ich diese Diskussion mit großer Sorge. Die Schweizer Bau- und Handwerksbranchen benötigen dringend deutsche und europäische Facharbeiter, die aus der Grenznähe in die Schweiz pendeln, ebenso wie sie ganze Firmen braucht, die aus dem Ausland heraus operieren und Aufträge in der CH durchführen. Ohne beide Arbeiterströme wird die CH in massive Probleme bei der Durchführung von Projekten bekommen, die den Schweizer Steuerzahlen noch viele Millionen Franken kosten werden.
Das wirkliche Problem ist leider mal wieder, dass die Bilateralen (mit Guillotine-Klausel) immer als „alles oder nichts“ formuliert sind. Sollte der Punkt mit den Bauarbeitern und den acht Tagen (was ich persönlich für sehr fair halte, es waren mal 20 Tage im Gespräch) nicht klappen, wird es nachhaltige, negative Konsequenzen haben für alle Facharbeiter in der Schweiz, die (wie ich) „normale“ Jobs haben. Ein Blick in die Krankenhäuser, Altenheime, Schulen und Bildungseinrichtungen der Deutschschweiz zeigt schon jetzt, dass die Roten Pässe nun wirklich nicht mehr die überwiegende Masse der Angestellten darstellen. Die Konsequenz eines Wegfalls der Grenzgänger in gerade diesen Bereichen wäre für die Schweiz ebenfalls ein massiver Einschnitt.
Und noch ein Punkt zur Statistik: „Je nach Branche sind bei den rund 40.000 Lohnkontrollen, die 2017 vorgenommen wurden, zwischen 20 und 40 Prozent der Firmen dabei erwischt worden, dass sie ihren Beschäftigten weniger als den in der Schweiz üblichen Lohn bezahlten;“
Types und Token wären hier aufgeschlüsselt ganz nett. 20% bis 40% der *Firmen* ist erreicht, wenn auch nur ein einziger von Hunderten Angestellten falsch bezahlt wurde pro Firma. Die spannende Zahl wäre tatsächlich, wie viele Firmen das systematisch machen.