Neun Stockwerke neues Deutschland?
Ein Hochhaus in Gladbeck. Die eine Hälfte Deutsche, die andere Hälfte Migranten aus zehn Nationen. Verschiedene Sprachen, Kulturen und Lebenswirklichkeiten treffen aufeinander, wobei manches aus dem Ruder zu laufen droht. Das Hochhaus als Mikrokosmos und Modell eines durch Geflüchtete und Arbeitsimmigranten sich wandelnden Deutschlands?
Der Autor Reinhard Schneider hat seine Bewohner*innen begleitet und ist mit seinem vielfach ausgezeichneten ARD-Radiofeature zu Gast bei der Konstanzer hörBAR.
Als der Journalist und Autor Reinhard Schneider das Haus in Gladbeck 2010 zum ersten Mal porträtierte, traf er auf ein Dorf in der Vertikalen, mit Spannungen zwischen den Bewohner*innen, aber auch Freiräumen für ein „Leben und Leben lassen“ mit Hartz 4. Heute sind neue Herausforderungen dazugekommen. Lebens-, Flucht- und Überlebens-Geschichten treffen aufeinander, mannigfache Hoffnungen, Träume und Konflikte überkreuzen sich. Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen.
Die Frage nach wechselseitiger Empathie oder auch nur Toleranz stellt sich schärfer denn je. Ein Problem bildet zunächst die Sprache. Austausch in Übersetzungsketten mit Informationsverlusten. Dahinter die Frage nach Vereinbarkeiten im sozialen Gefüge: Clanstrukturen auf Balkan-Seite, freundliche, aber verunsicherte Syrer*innen und Iraker*innen, um ihre Selbstbehauptung kämpfende Alteingesessene. Als Modell gesehen bildet das Hochhaus Teile der sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik ab. Auf den L-förmigen Laubengängen entsteht oder scheitert ein fragiles Gleichgewicht, auf das nicht nur die Bewohner*innen selbst angewiesen sind. Ist dieser Mikrokosmos ein Frühwarnsystem für eine neue Mischung am sozialen Rand der Republik?
Nachdem der Autor Reinhard Schneider das Hochhaus 2010 zum ersten Mal portraitiert hatte, recherchierte er für das ARD Radiofeature 2016 ein weiteres Jahr vor Ort. Beim ersten Mal ging es „mir um die Schilderung einer Gemeinschaft, die nach allgemeinen Maßstäben am sozialen Rand lebt und die mich in ihrem komplexen Zusammenleben faszinierte.“ Damals betrug der Ausländeranteil im Haus etwa 20 Prozent. Nachdem sich die Zusammensetzung durch Kriegsflüchtlinge und osteuropäische Zuwander*innen verändert hatte, kehrte der Autor in das Haus zurück. „Ich hielt diese neue Situation für geeignet, der Aussage der Kanzlerin ‚Wir schaffen das‘ einmal am Beispiel des Hochhauses und seiner Bewohner nachzugehen“, so der Wahlberliner, der 1952 in Gelsenkirchen geboren wurde. Eine „außergewöhnliche Reporterleistung“ für die er mit dem „Europäischen Civis Radiopreis 2018“ ausgezeichnet wurde, Europas bedeutendstem Medienpreis für den Bereich Migration, Integration und kulturelle Vielfalt.
„Neun Stockwerke neues Deutschland“ ist ein Kaleidoskop unterschiedlichster Impressionen, das negative Seiten nicht ausspart. „Ein Mikrokosmos sozialer Spannungen, persönlicher Erfahrungen und Herausforderungen des Zusammenlebens unterschiedlichster Kulturen. (…) Hochinformativ, exzellent produziert – ein großartiges Radiofeature“, so das Urteil der Jury.
Im Anschluss findet ein Gespräch mit dem Autor statt. Moderation: Judith Zwick.
MM/hr (Bild: Ralf Klingelhöfer)
Termin: 21. März 2019. Uhrzeit: 20:00 Uhr. Ort: Gewölbekeller im Kulturzentrum am Münster. Eintritt: frei, um Spenden wird gebeten.