Flattermann muss sterben!
Bibliotheken sind magische Örter. Nirgendwo sonst riecht es wie hier, an keinem anderen Ort (außer vielleicht dem Stillen Örtchen) geraten Menschen beim Lesen in einen derartigen Zustand der Verzückung – und von praktisch niemandem sonst auf dieser Welt wird man/frau derart begeistert, aufopferungsvoll und mit ungeheuchelter Begeisterung und Herzenswärme beraten und betüddelt wie von BibliothekarInnen. All dies gilt natürlich auch für die schnuckelige Stadtbüchereibibliothek Konstanz.
„Bücherei“ ist ein anheimelndes Wort, das etwas von geheizter, aber leicht muffiger Stube hat und wahrlich nicht nur für die öffentlichen Stadt-, Schul-, Gemeinde- usw. Büchereien verwendet wurde. Es weckt Assoziationen auch an kommerzielle Leihbüchereien, von denen es vor 90 Jahren in Deutschland – man glaubt es heute kaum noch – etwa 15.000 gab, die gegen ein relativ kleines Entgelt zumeist schlichten und ziemlich abgegrabbelten Lesestoff unters weniger bemittelte Volk brachten und es schafften, irgendwie parallel zu den kommunalen Büchersammlungen zu überleben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie von für alle erschwinglichen Taschenbüchern und dem Fernsehen vom Markt gefegt.
Bückware als Knabentraum
Damit erging es ihnen ähnlich wie dem gewerblichen Romantausch, mit dem lädierte Kriegsveteranen und trübe blickende Witwen ihr Leben zu fristen trachteten. Mit vielen „Landser“-Heftchen im Fenster und so manchem freizügig bebilderten Magazin unter dem Ladentisch als Bückware, an die wir Knaben ums Verrecken nicht rankamen, versorgte das Tauschgeschäft Schülergenerationen mit (an meinem Gymnasium noch verbotenem) Perry Rhodan sowie Comics, die nach Meinung unserer älteren Lehrer noch weit vor der Onanie die wichtigste Ursache für die offenkundige Hirnerweichung einer verwahrlosten, kriegsunwilligen Jugend waren. Und sie hatten immer Recht, denn viele von ihnen konnten den Lohn für ihre Kriegsbegeisterung vorweisen: Glasaugen, Holzbeine und vom Iwan weggeschossene Arme.
Wie auch immer, für den wahrhaft Besessenen waren öffentliche Büchersammlungen welcher Art schon immer das, was für Fliegen der Kuhfladen ist: „Kufalt entdeckte eine Leihbibliothek und las und trank die Nächte durch in seinem Bett und verschlief fast den ganzen Tag. Und stand erst gegen Abend kurz vor sieben auf, raste in die Bibliothek, um noch vor Ladenschluß seine zwei, drei neuen Bände zu bekommen.“ Diese Schilderung von Fallada mag der heutigen Generation Smartphone gänzlich unverständlich sein, sie hat aber poetische Wucht, transportiert tonnenschwere soziale Erbitterung und macht das unablässige Ringen des Einzelnen um ein bisschen Selbstachtung erfahrbar.
Aus Bücherei wird Bibliothek
Auch die öffentliche Büchersammlung der Stadt Konstanz hieß seit ihrer Gründung im Jahr 1938 „Stadtbücherei“ (im selben Jahr, Zufall oder nicht, eröffnete übrigens auch das „Scala“-Kino an der Marktstätte). Mit der „Bücherei“ ist jetzt Schluss, vermutlich ein für allemal. „In Anbetracht der Tatsache, dass sich das Angebot der städtischen Büchersammlung in Konstanz mittlerweile auf etwa 96.100 Medien erweitert hat, neben Büchern auch CDs, DVDs, digitale Zeitschriften und E-Books angeboten werden, die Leitung durch eine diplomierte Bibliothekarin erfolgt und das Angebot mit zahlreichen Veranstaltungen und Servicedienstleistungen laufend ergänzt wird, scheint der Begriff ‚Bücherei‘ heute etwas überholt. Und so wurde im vergangenen Jahr entschieden, die Stadtbücherei in ‚Stadtbibliothek‘ umzubenennen“, wie eine Presseerklärung nicht ohne Stolz verkündet.
Das hat natürlich Auswirkungen. Das vielen von uns tief ins Unterbewusstsein eingebrannte Logo der deutschen Stadtbüchereien, das bisher in vielen Städten auf Gebäuden, Flyern, Anzeigen und Werbemedien zu finden war, ist der legendäre „Flattermann“ (Abbildung links): „Das deutsche Bibliotheksinstitut hat das Signet 1970 herausgebracht, um öffentlichen Büchereien und Bibliotheken in Deutschland die Öffentlichkeitsarbeit zu erleichtern.“
Mittlerweile haben aber viele Städte eigene Logos für ihre öffentlichen Einrichtungen entwickeln lassen, und auch die Stadtbibliothek Konstanz hat jetzt ihr Signet bekommen, das in seiner schlichten Symbolhaftigkeit und schlechten Lesbarkeit verdächtig an jenes des Bodenseeforums erinnert (Abbildung rechts):
Aber lassen wir das: De gustibus non est disputandum – über Geschmack lässt sich (angeblich) nicht streiten.
Rege Nachfrage
Welche Beliebtheit die Stadtbibliothek genießt und in welche Dimensionen sie mittlerweile vorgestoßen ist, dokumentieren einige Zahlen aus dem Jahresrückblick: Im letzten Jahr wurden 11.442 neue Medien angeschafft, über 500.000 Medien ausgeliehen und zurückgebucht und mehr als 7.000 Fragen beantwortet. Die Stadtbibliothek im Kulturzentrum am Münster hält 30.141 Werke der Sachliteratur, 13.875 Romane und zusätzlich 24.491 Bücher speziell für Kinder und Jugendliche bereit. Dazu kommen 12.855 audiovisuelle Medien in Form von CDs, DVDs und elektronischen Spielen. Außerdem gibt es 14 tagesaktuelle Zeitungen und 1.080 verschiedene Zeitschriften. Den physischen Bestand ergänzt das digitale Angebot mit Zugriff auf 3 Datenbanken und 13.516 E-Medien.
Viele Zahlen sind weitgehend stabil geblieben: Es gab 196.200 Besuche bei 9.440 aktiven NutzerInnen, und die heiligen Bücherhallen waren 1837 Stunden lang geöffnet. Andere Zahlen unterliegen stärkeren jährlichen Schwankungen: An 52 für sie bestimmten Veranstaltungen nahmen im letzten Jahr 1.363 Kinder und Jugendliche teil, und 2.253 TeilnehmerInnen strömten in die 16 Veranstaltungen für Erwachsene. Dieser Ansturm wurde von 19 KollegInnen (verteilt auf 12,3 Vollzeitäquivalentstellen) bewältigt. Außerdem gibt es eine Vielzahl weiterer Angebote, insbesondere für die jüngere Generation, die sich hier sogar bei der Recherche für Referate und Hausarbeiten helfen lassen kann.
Deutsch als Fremdsprache
Ein besonderes Angebot gilt dem Thema „Deutsch als Fremdsprache“. Medien mit den Kompetenzniveaus A1 + A2 wurden 2018 ausgegliedert und im Bereich „Willkommen in Konstanz“ aufgestellt, an den sich die Literatur für höhere Kompetenzniveaus direkt anschließt. Zielgruppe sind LeserInnen mit Migrationshintergrund, „wobei jedoch bei Geflüchteten und ihren Lernbegleitern besonders großer Zuspruch zu verzeichnen ist“, wie die Bibliothek vermerkt. Für Lernende mit geringen Sprachkenntnissen stehen dort auch Medien zur Verfügung, die teilweise in deren Muttersprache verfasst sind, um den Einstieg zu erleichtern.
Ansonsten aber bleibt vieles beim Alten: Die Stadtbibliothek residiert seit 20 Jahren im Kulturzentrum und ist ein erklärter Lieblingsort vieler Menschen im Herzen der Stadt. Es steht zu hoffen, dass sie noch lange ein Tempel ungestörter Lesefreuden bleibt, ehe sie eines fernen Tages wie fast alle Bibliotheken verschwinden dürfte, weil „Content“ dann nur mehr im Netz gelesen wird.
Man/frau vergesse nicht: „Bibliothek“ reimt sich verdächtig auf „Videothek“.
MM/O. Pugliese (Fotos: © Stadtbibliothek/Janik Gensheimer, Logo: Stadt Konstanz)
Wer’s genau wissen will, findet den Jahresrückblick und weitere Informationen hier.
Stadtbibliothek Konstanz im Kulturzentrum am Münster
Wessenbergstraße 39
78462 Konstanz
Tel: 07531 900-953
www.konstanz.de/stadtbibliothek
bibliothek@konstanz.de
Öffnungszeiten: Di.–Fr.: 10–18:30 Uhr, Sa.: 10–14:00 Uhr
„Dürfen Bibliothekare Digitalisate ins Netz stellen? Oder eingescannte Aufsätze im Dokumentenlieferdienst per E-Mail verschicken? Ist die Übernahme von Klappentexten in den Verbundkatalog zulässig? Darf die Bibliothek ihre CD-Roms verleihen? Fragen, die das Urheberrecht beantwortet. Fragen, auf die es manchmal aber keine klare Antwort gibt. Das Urheberrecht ist eine Rechtsmaterie in Bewegung…“
https://bibliotheksportal.de/ressourcen/recht/urheberrecht/
Morgen soll die deutschsprachige Wikipedia-Ausgabe komplett abgeschaltet werden, um gegen die EU-Urheberrechtsreform zu protestieren.
https://de.wikipedia.org/wiki/Urheberrechtsreform_der_Europ%C3%A4ischen_Union
Da diese Problematik bisher auf seemoz weder angesprochen noch diskutiert wurde, ausser im Zusammenhang mit TTIP, wo die Brisanz dieses Themas zumindest sichtbar wurde, versuche ich sie in diesem Kommentarfaden mit den eingestreuten kritischen Verweisen anzureissen.
Kunst-, Literatur-, Musikschaffende, Publizierende sollen ja im Umkreis wie innerhalb der seemoz-Redaktion zahlreich vertreten sein und einige werden vermutlich auch Vorteile für ihr Metier in dieser Gesetzesreform sehen. Was sollte einer Diskussion im Weg stehen ?
https://www.heise.de/newsticker/meldung/Urheberrechtsreform-der-EU-Das-Drama-um-Artikel-13-4338446.html
Noch ein aktueller Hinweis auf mögliche Konsequenzen
https://fragdenstaat.de/aktionen/zensurheberrecht-2019/
Oder Klaus, Mann!
Es geht auch kürzer: Klau mich – von Rainer Langhans und Fritz Teufel.
@A.Rieck: Großes Kompliment! Seit dem bedauerlichen Tod von Hansjörg Herzog habe ich keinen derart schlechten Witz mehr gehört oder gelesen.
Ganz alter schlechter Buchhändlerwitz:
Lektoratskonferenz bei S. Fischer. Es geht um den Hausautor Jorge Luis Borges. Der Name scheint etwas ungünstig, weil er die Leser dazu verleitet, das Buch auszuleihen, statt es zu kaufen. Der Cheflektor schlägt vor, beim Autor sachte anzufragen, ob er eventuell bereit ist, seinen Namen zu ändern, etwa in „Jorge Luis Kaufes“. Da kommt der Praktikant und meint, wenn man schon wegen einer Namensänderung anfrage, könne man auch doch auch gleich Nägel mit Köpfen machen: „Jorge Luis Kaufdochgleichzweiundverschenkeins“.
@Nils Jansen: Das ist wirklich (!) zu viel der Ehre. Aber natürlich ist es höchst empfehlenswert, alle Jubeljahre wieder in der „Bibliothek von Babel“ meines Namensvetters Jorge Luis Borges zu lesen. Er ist und bleibt einer der größten Käuze der Weltliteratur.
Nicht, dass es im Geringsten etwas zur Sache täte: Wenn es einen Kommentator hier gibt, der schon durch seinen Namen prädestiniert ist, etwas zu einem Artikel über eine Leihbibliothek beizutragen, dann wohl Harald Borges.
@L. Schiesser: „Örter“ ist vor allem verwandt mit „Kopfnüsser“, welche vorwitzigen KommentatorInnen umgehend und reichlich appliziert gehören!
Doch ein Blick in den Duden holt uns wieder auf den Boden der Tatsachen zurück: „Örter“ entstammt der Seemanns- und Mathematikersprache, und mich dünkt dieses Wort in diesem Falle goldrichtig platziert, lässt sich doch in einer Bibliothek so angenehm auf dem unerschöpflichen Ozean der menschlichen Einbildungskraft dahindümpeln wie an kaum einem anderen Fleckchen unseres (immer noch) blauen Planeten.
„Örter“ als Plural von „Ort“ ist wohl verwandt mit „Nikolaus/Nikoläuser“ und „Kaktus/Kaktüsser“ – oder?