Newroz 2019: Kommunalwahlen und Hungerstreiks

In diesen Tagen feiern KurdInnen auf der ganzen Welt Newroz. Für die global größte Ethnie ohne eigenes Land ist ihr Neujahrsfest mehr als ein leeres Ritual. Die von staatlichen Autoritäten in ihren Siedlungsgebieten vielfach drangsalierten und verfolgten KurdInnen setzen damit alljährlich auch ein Signal für ihren Freiheitswillen. Heuer stehen die Feierlichkeiten im Zeichen der Solidarität mit den von der Türkei eingekerkerten politischen Gefangenen, von denen sich viele im Hungerstreik befinden. In Konstanz laden Leute aus der kurdischen Community am Samstag, 30.3., zum Neujahrsfest ein. Das Solidaritätsbündnis für Rojava ruft zuvor zu einer Solikundgebung mit den Hungerstreikenden auf dem Münsterplatz auf.

Einen Tag nach der Konstanzer Newroz-Feier, am Sonntag, 31. März, gehen in der Türkei die Kommunalwahlen über die Bühne. Der Wahlkampf war, vor allem im mehrheitlich kurdisch bewohnten Südosten des Landes, einmal mehr geprägt von staatlichen Übergriffen, Gewalt und Verhaftungen. Im Fokus des türkischen Repressionsapparates steht insbesondere die „Demokratische Partei der Völker“ HDP, stärkste linke Oppositionskraft im Parlament, die für grundlegende demokratische und soziale Reformen eintritt und mehr Rechte für die zahlreichen Minderheiten im Land fordert, darunter Millionen Kurdinnen und Kurden.

Aus zahlreichen Berichten, etwa der unabhängigen kurdischen Nachrichtenagentur ANF, geht hervor, dass gegenwärtig über 5000 HDP-Mitglieder im Gefängnis sitzen, darunter auch eine Parlamentsabgeordnete und acht ehemalige sowie 59 amtierende BürgermeisterInnen. Viele Gemeinden hat Ankara unter staatliche Zwangsverwaltung stellen lassen. Die Agentur meldet auch, dass der türkische Staat zusätzlich 14.000 Soldaten und Polizisten in die kurdischen Hochburgen verlegt hat. Zudem machen Nachrichten die Runde, die Wahlfälschungen in großem Stil befürchten lassen. So wurde etwa publik, dass es Adressen gibt, an denen plötzlich mehr als 100 Personen in einer Wohnung gemeldet sind. Im Januar mussten die Autoritäten auf Antrag der HDP zähneknirschend 12.500 offenkundig gefälschte Wahlregistrierungen annullieren lassen, weitere knapp 20.000 umstrittene Anmeldungen blieben indes unangetastet.

Offenkundig fürchtet das AKP-MHP-Regime Erdogans eine Niederlage bei den Regionalwahlen in dem von einer schweren Wirtschaftskrise gebeutelten Land. Angesichts einer Inflationsrate im hohen zweistelligen Bereich und steigender Arbeitslosigkeit treibt den Autokrat die berechtigte Angst um, dass der nationalistische Kitt bröckelt, mit dem es seit dem dubiosen Putsch gelungen ist, Mehrheiten auf seine aggressive Expansionspolitik einzuschwören. Von der Nervosität des Machthabers zeugt etwa die im Februar verkündete Maßnahme, die Steuern auf Konsumgüter zu senken, zudem ließ er eigene Marktstände mit preiswertem Gemüse in den größten Städten Istanbul und Ankara eröffnen – ein ebenso durchsichtiger wie vermutlich wirkungsloser Propagandacoup.

Die HDP hat ihren Wahlkampf darauf zugespitzt, aus den Kommunalwahlen ein Referendum für Demokratie zu machen. Im Westen des Landes öffnete sie deshalb ihre Listen für Mitglieder zivilgesellschaftlicher Organisationen und Bewegungen. In den kurdischen Gebieten tritt die Partei gemeinsam mit anderen kurdischen Parteien und Verbänden an, die unter dem HDP-Dach Allianzen gebildet haben. Im Westen verfolge die Partei das Ziel, möglichst viele Kommunen zu gewinnen und die Dominanz von AKP und MHP zu schwächen, erläutert Yurdusev Özsökmenler, stellvertretende Ko-Vorsitzende für Lokalverwaltungen, die Strategie. Im kurdischen Gebiet will man „alle unter Zwangsverwaltung stehenden Gemeinden in Kurdistan zurück- und neue Gemeinden hinzuzugewinnen“.

Ungemach droht Erdogans autokratischem Regime auch noch an einer anderen Front. Hunderte politische Gefangene in türkischen Knästen aber auch Oppositionelle auf freiem Fuß befinden sich mittlerweile im unbefristeten Hungerstreik. Begonnen hatte die Aktion am 7. November 2018 Leyla Güven, eine der HDP-Abgeordneten in Untersuchungshaft. Die unterdessen entlassene populäre Politikerin – der auf absurde Vorwürfe gestützte Prozess, etwa Gründung und Leitung einer bewaffneten Organisation, läuft indes weiter – will damit ein Ende der menschenrechtswidrigen Haftbedingungen für Abdullah Öcalan erkämpfen. Der kurdische Vordenker, den Millionen in der Region als Hoffnungsträger für eine Wende zu Demokratie und Frieden sehen, befindet sich seit mehr als zwanzig Jahren auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali in fast totaler Isolationshaft. Die kurdische Opposition will ihr Ende erzwingen, um damit die Türen für eine Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen zwischen kurdischem Widerstand und türkischem Staat aufzustoßen.

Seit 2011 haben etwa seine Anwälte keinen Zugang mehr zu Öcalan, rund 800 Besuchsanträge wurden mit teils aberwitziger Begründung abgelehnt. In mehr als zehn Jahren gestattete man seinem Bruder ganze zwei Kurzbesuche, Vertreter der Opposition durften den PKK-Vordenker zuletzt vor vier Jahren sprechen. Seit dem Abbruch der von ihm initiierten Friedensverhandlungen durch die türkische Regierung im Jahr 2015 schotten die Behörden Öcalan systematisch ab, trotz Kritik internationaler Menschenrechtsorganisationen und zuletzt des Antifolter-Komitees des Europarats. Leyla Güven und inzwischen hunderte Hungerstreikende sehen in einem Ende der Isloation Öcalans eine zwingende Voraussetzung für einen neuerlichen Dialog über eine friedliche Lösung der Konflikte zwischen KurdInnen und türkischem Staat.

Weltweit hat der Kampf der Hungerstreikenden inzwischen Unterstützung gefunden, darunter auch bei vielen AktivistInnen in Deutschland. Gleichwohl herrscht dazu im hiesigen Blätterwald fast schon Friedhofsruhe, auch deutsche Regierungsbehörden hüllen sich zu den Vorgängen beim engen Bündnispartner in Schweigen. Gökay Akbulut, Linke-Bundestagsabgeordnete mit kurdischen Wurzeln, kritisiert die Haltung der hiesigen Medien und die Politik der Bundesregierung:

„Es werden immer mehr Menschen, die sich dem Hungerstreik anschließen, jedoch mangelt es an Berichterstattung darüber. In der Türkei ist die Pressefreiheit durch Erdogan sehr stark eingeschränkt, sie existiert quasi nicht mehr. Obwohl auch Menschen aus Deutschland betroffen sind und es über 100 Aktionen in Deutschland zum Hungerstreik gab, hat es kaum Echo in den deutschen Medien erhalten“, schreibt sie in einem Zeitungsbeitrag vom 23.3. Auf ihre zahlreichen Fragen habe die Bundesregierung nur ausweichend geantwortet. Akbuluts Forderung: „Es ist jetzt Zeit, endlich zu diesem Thema zu handeln, und zwar im Sinne der Menschen und nicht der wirtschaftlichen Beziehungen. In diesem Sinne sollte die Bundesregierung auch in einen Dialog mit Kurden und der türkischen Regierung treten und sich für eine Friedensperspektive einsetzen.“

Wohl wahr, denn es steht nicht wenig auf dem Spiel, wieder einmal. Wie das Kräftemessen bei Wahlen und Hungerstreiks ausgeht, entscheidet über wichtige Weichenstellungen: Kann der Autokrat seine Aggression gegen das kurdische Autonomiestreben fortsetzen oder gelingt es, den Friedensprozess wieder in Gang zu setzen? Festigt Erdogan sein diktatorisches Regime oder macht der demokratische Gegenentwurf kommunaler Selbstverwaltung Fortschritte?

J. Geiger (Foto: Zehntausende feierten am 23.3. 2019 Newroz in Frankfurt/M; ANF News)


Samstag, 30.3. 2019, 14.00 Uhr, Konstanz, Münsterplatz: „Solidarität mit den Hungerstreikenden in der Türkei“, Kundgebung.
16.00 bis 22.00 Uhr, Konstanz, Halle Petershausen (Conradin-Kreutzer Straße 5):
Newroz-Feier