Zürich: In Bewegung bleiben
Lange Zeit war die rot-rot-grün regierte Stadt Zürich von einem konservativ dominierten Kanton Zürich umgeben. Doch bei der Kantonsratswahl am vergangenen Wochenende rückte die Stimmbevölkerung von der rechtskonservativen SVP (minus 5,5 Prozentpunkte) ab und stärkte die beiden grünen Parteien – die sozial-ökologischen Grünen (plus 4,7) und die rechten Grünliberalen (plus 5,3). Auch die linke Alternative Liste (AL) legte zu. Wie es zu dem für Schweizer Verhältnisse seltenen Stimmungsumschwung kam, erläutert Kaspar Surber von der Wochenzeitung WOZ.
Wer in den letzten Wochen in Zürich unterwegs war, konnte die Bewegung nicht übersehen. Sie zeigte sich etwa am 15. März, als die Schulklassen unten an der Polybahn Schlange standen und oben auf der ETH-Terrasse kein Durchkommen mehr war, weil sich 12.000 Protestierende versammelt hatten: Junge, Ältere, Eisbären. Auch schon bei der ersten grossen Klimademo am 2. Februar war die Bewegung in Zürich wie in vielen anderen Schweizer Städten nicht zu überhören gewesen. Von den Wänden der Langstraßenunterführung hallten die Slogans der Jugendlichen zurück: „Erdöl-Lobbyischte, ab i d’Chischtä!“
Am letzten Wochenende kam die Bewegung dann auch in der Politik an, und mit welch überraschendem Schwung: Mit ihrem jungen, versierten Klimapolitiker Martin Neukom jagten die Grünen der bürgerlich-liberalen FDP einen Sitz in der Kantonsregierung ab, und im Parlament gewannen sie neun zusätzliche Sitze auf Kosten von Schweizerischer Volkspartei (SVP), FDP und der Bürgerlich-Demokratischen Partei (BDP). Einen Erfolg verzeichneten auch die Grünliberalen, die ebenfalls neun Sitze zulegten. Eine derartig spektakuläre Verschiebung von rechts in die Mitte und nach links hat es in einem Schweizer Parlament schon lange nicht mehr gegeben.
Albert Rösti, der Präsident der SVP, witterte hinter der Niederlage seiner Partei – der grössten seit ihrem Aufstieg ab 1995 – eine mediale Verschwörung. Rösti, der auch Präsident der Heizölvereinigung Swissoil ist, machte es sich dabei jedoch zu einfach. Viele WählerInnen haben offensichtlich genug von der Überheblichkeit der rechtsbürgerlichen Parteien und ihrer Untätigkeit in Klimafragen. Arrogant hatte die SVP-FDP-Mehrheit im Nationalrat letztes Jahr das CO2-Gesetz zu Fall gebracht. Im Zürcher Kantonsrat schickte sich die gleiche Mehrheit sogar an, die Wasserversorgung zu privatisieren. Sie wurde zum Glück in einer Volksabstimmung gestoppt.
Mit der grünen Wende in Zürich ist das Wahljahr 2019 lanciert. Angesichts der Klimakatastrophe ist die Prognose nicht schwierig, dass es weiterhin von ökologischen Themen bestimmt sein wird. Und erfreulicherweise auch von feministischen: Der Anteil der Frauen stieg im Zürcher Kantonsparlament von rund dreissig auf vierzig Prozent, in der Regierung sind sie nun in der Mehrheit. Die neu erwachte Sensibilität bezüglich der Gleichberechtigung hat sich also positiv ausgewirkt, und der Frauenstreik am 14. Juni folgt erst noch.
Vom Klima- zum Frauenstreik: Die Zürcher Wahl zeigt wieder einmal deutlich, dass die Linke immer dann Erfolge feiern kann, wenn ihre Anliegen von sozialen Bewegungen getragen werden. Die Wahl liefert aber noch eine weitere Erkenntnis, die bis jetzt kaum beachtet wurde. Vermutlich, weil sie allen Analysen der Tamedia-Presse und ihres Politologen Michael Hermann zuwiderläuft. (Wobei man sich bei Hermann fragen kann, ob er überhaupt noch Politologe ist oder schon Pressesprecher der GLP.) Im Vorfeld der Zürcher Wahl prognostizierte er, die Sozialdemokratische Partei (SP) würde wegen ihrer kritischen Position zum EU-Rahmenabkommen an die Grünliberalen verlieren. Nun aber blieb sie praktisch stabil, verlor nur einen Sitz nach links, an die Alternativen.
Der konsequente Kurs der Gewerkschaften und eines Grossteils der SP für den Lohnschutz als Grundlage der europäischen Öffnung wird also von den WählerInnen gestützt. Wenn sich die SP in den nächsten Monaten weiter als soziale Kraft profiliert, etwa gegen die für viele Menschen untragbar hohen Krankenkassenprämien, könnte die rechtsbürgerliche Mehrheit im Herbst auch in Bundesbern fallen.
Stimmen für den sozialen Ausgleich sind umso wichtiger, als sich die Grünliberalen in der Sozial- und Steuerpolitik bisher hart rechts positionierten. Wie die neue Generation der Partei den Widerspruch zwischen Nachhaltigkeit und Profitstreben auflösen wird, bleibt vorerst ihr Geheimnis. Der ökologische Umbau jedenfalls wird nur gelingen, wenn er auch sozial gestaltet wird. Oder um es mit einem anderen beliebten Demospruch von Zürichs Straßen zu sagen: „System Change, not Climate Change“.
Kaspar Surber (zuerst erschienen in der WOZ vom 28. März 2019)