Die kurze Nacht der Kunst

Unter dem Überthema „Freiräume“ fand am Samstag, 30. März 2019, die grenzübergreifende Kunstnacht in Kreuzlingen und Konstanz statt. Sechs Stunden, zwanzig Locations – und dann auch noch die Zeitumstellung – kann das gut gehen?

Zur Vorbereitung auf die Kunstnacht 2019 erhalte ich im Konstanzer Kulturamt zwei Eintrittsbändchen, ein Programmheft in strahlendem Gelb sowie ein Päckchen Erdnüsse im selben Design und lese mich zuhause auf dem Sofa schon mal warm. Der Stadtplan in der Mitte des schön designten Heftes macht gleich eines klar: es wirkt ambitioniert. Die Strecke reicht von Uni oder Zebra Kino in Konstanz bis zur Galerie Andre Veith an der Kreuzlinger Hauptstrasse. Das sind über sechs Kilometer. Auf diesen liegen die Stationen, zwischen denen ein Shuttlebus fährt. Zwanzig Orte, sechs Stunden, ein Bus. Nach Adam Riese macht das zwanzig Minuten pro Location, Busfahrt exklusive. Alles anschauen unmöglich. Neuer Plan: treiben lassen.

Ich starte also um Punkt 18 Uhr zum Auftakt der Kunstnacht am Emmishofer Zoll. Die Kreuzlinger Stadträtin Dorena Raggenbass und der Konstanzer Baubürgermeister Karl Langensteiner-Schönborn (Kulturbürgermeister Osner hatte keine Zeit, wie so oft, wenn es um Kultur geht), eröffnen die Veranstaltung von Kreuzlinger sowie Konstanzer Seite zusammen mit der Künstlerin Ines Fiegert, die in einer Startperformance Bürgerinnen beider Städte mit Schnüren einwickelt und verbindet. Was wirkt wie eines dieser Wollknäulspiele zum Kennenlernen im Landschulheim, erhält erst später einen Kontext.

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An dieser Stelle bleiben die Zuschauenden ein wenig ratlos zurück und diese Stimmung hält sich auch noch ein paar Minuten – „Wo gibt es denn eigentlich die Eintrittsbändchen?“ und „Wo geht es jetzt los?“ – Fragen wie diese schwirren über den grünen Kunstrasen, bis jeder weiß: Bändchen gibt es an jeder Station und los geht es mit zwei Führungen, entweder auf die Konstanzer Laube mit Kunsthistorikerin und Kuratorin Helga Sandl oder mit Claudia Thom vom Department Gesellschaft und Kultur nach Kreuzlingen. Beides geht nicht, da zeitgleich, Start jetzt.

Ich nehme Kreuzlingen. Wir ziehen los, vorbei an der Couch von Markus Brenner am Bellevue, Kunst im öffentlichen Raum, hin zur ersten Station, dem „Lokal“ an der Hauptstrasse 26, es ist Teil des Konzeptes „Boulev’art“, kuratiert von Reto Müller. Hier im Schaufenster gibt es zwei Installationen des Kreuzlinger Künstlers Jürgen Schoop zu sehen, der Bezüge setzt zwischen Kunst und Kommerz, zwischen Kirchner und Hunden.

Von dort geht es weiter ins Schiesserareal zum Kult-X und in den Kunstraum. In ersterem erwartet unsere Gruppe eine Fotoausstellung von Roland Iselin, die Aufnahmen aus Nordirland und von der Route 66 zeigen. Gleich nebenan im Kunstraum steht ebenfalls die Landschaft im Fokus, hier allerdings im Rahmen einer Videoinstallation. Während der Künstler seine Werke en détail erklärt, klimpert ein Besucher versehentlich auf dem herumstehenden Flügel „Für Elise“.

Gleich nebenan der Kunstraum. Zwischen den beiden Räumen – auch nicht unerheblich: die erste Bar! Sekt geschnappt und auf geht’s tiefer in die Schweiz und zwar in die gesamte Eidgenossenschaft. Der Belgier Pierre-Philippe Hofmann ist in 112 Tagen auf zehn verschiedenen Routen jeweils von einem Punkt der Landesgrenze zum Mittelpunkt der Schweiz gelaufen und hat dabei nach jedem Kilometer Filmsequenzen gedreht. Diese werden in einem Rechteck aus Bildschirmen zeitgleich präsentiert. Nebeneinander laufen Filme mit Naturaufnahmen, Menschen oder dem Nichts – die Station war ab und an mitten in einem Tunnel. Es ist unendlich viel zu sehen, doch heute Abend läuft die Zeit, ein adäquates Wahrnehmen dieser spannenden Ausstellung gelingt nicht, und mein Vorsatz, die Ausstellung einfach im Laufe der kommenden Woche in Ruhe zu besuchen, wird im Keim erstickt: da ist sie vorbei – wie schade!



Eine Vorschau gibt es dafür auf die Arbeit „rest or stay“ von Marianne Halter und Mario Marchisella, die ab dem 12. April regulär im Tiefparterre des Kunstraums zu sehen sein wird. Hier geht es um Japan, eine Karaokeinstallation macht ebenfalls Lust auf Verweilen – das bald in Ruhe möglich ist! Jetzt geht es weiter von Tiefparterre zu Tiefgarage. Unterm CEHA sind die Video- und Filmarbeiten von zwanzig Künstlerinnen und Künstlern mit Beamern an die kahlen Betonwände gestrahlt. Zu sehen sind beispielsweise Bilder aus Aleppo, dem Kosovo oder Bagdad, neben einer Reise mit dem Gummiboot vom Appenzell bis nach Basel. „Wir sprechen, noch bevor wir fragen. Jagen zwei Tauben aus dem Fenster, bevor wir uns fragen: darf man so mit Tauben sprechen?“ (aus dem Kurzfilm „Dort geht es raus“ von Raphael Winteler).

Spannend macht es insbesondere der Ort, den man ja sonst nicht gerade zum Spazieren und Betrachten auswählt und auch hier wird er wieder spürbar, der Wunsch nach Zeit – es scheint auch irgendwie Ironie des Schicksals zu sein, dass diese Kunstnacht genau auf das Datum der Zeitumstellung fällt, wo uns sowieso schon eine Stunde gestohlen wird, anders herum wäre es perfekt gewesen!

So geht es weiter, Galeriehopping nach Konstanz, bei Dörflinger entdecke ich eine Taubenskulptur, die Tauchertaube, die mir neben den Fotografien von Florian Schwarz sehr gut gefällt und dürfte ich mir ein Souvenir für den Abend aussuchen, so wäre es definitiv sie, die Tauchertaube. Oder doch ein Stück von nebenan, aus dem Atelier Annick? „Ist das jetzt Kunst oder ist das Schmuck?“, fragt eine Frau vor der Tür, keiner weiß eine Antwort. Ich bleibe in diesem Punkt sicherheitshalber doch bei der Dörflinger-Skulptur: lieber die Taube in der Hand, usw.

Es geht weiter, über Kopfsteinpflaster, durchs Schnetztor, auf die Untere Laube. Hier sieht man für einen Abend, was in Kreuzlingen mit der Begegnungszone gemeint war, bevor man den Boulevard mit Beton zupflasterte: es spazieren Menschen unter Bäumen und man kommt keine drei Meter voran, ohne ein Gespräch zu führen und neue oder bekannte Gesichter zu treffen. Es wirkt wie ein Berliner Unter den Linden, am Ende der Lenk-Brunnen, oder doch das Brandenburger Tor?, und die Atmosphäre ist fantastisch. Viele nehmen diesen Ort, der sonst nur ein Übergang ist, zwischen Paradies und Fußgängerzone zum ersten Mal in seiner Schönheit war. Viele sagen: „Hier ein paar nette Cafés, das wär doch was!“. Für heute gibt es hier vier Kunstwerke zu sehen.

Die Licht-Ton-Installation „Talking Trees“ von Teresa Renn und Behnstedt-Renn empfängt die nächtlichen Flaneure mit sprechenden Bäumen. Sie haben die Stimmen von vier Obdachlosen erhalten und erzählen von ihrem Blick auf die Stadt. Wie würden diese Gewächse uns sehen? Wie geht es Menschen ohne Zuhause hier auf der Straße? Sie berichten in einer Art soziologischer Studie von der Bevölkerung und den Abläufen der Stadt. Aber auch von Sehnsüchten und Hoffnungen. Eine wirklich gelungene Interpretation des Themas „Freiräume“!

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Kurz danach steht der alte Volvo der Künstlerin Schirin Kretschmann, zum mobilen Museum umfunktioniert und bis unters Dach voller Kunstwerke der Berlinerin. Dahinter zeigt Jeremias Heppeler in „baskerville“, eine Art trojanischen Hund mit einer Videoarbeit zu eben diesem Vierbeiner und erforscht somit die Welten zwischen Realität und Kunst, der dazugehörige Film „verkrustetes fleisch“ wäre im Zebra Kino zu sehen. Und dazwischen hat Ines Fiegert ihre Fäden gespannt. Fäden? Sie erinnern sich? Damit hat alles angefangen und nun erkennt man in der Performance des Eröffnungsaktes eine Referenz an die hier ausgestellte Arbeit „rapid links“, in welcher sich zwei Silhouetten in einem Spinnennetz aus neonbeleuchteten Schnüren verwoben finden.

Für mich endet der Abend an dieser Stelle und weil ich es mag, wenn der Kreis sich schließt, kann ich es damit auch gut sein lassen. Nachteulen, die noch weiterzogen, berichteten, dass rund um das Wessenbergzentrum mit den beiden sehr sehenswerten Ausstellungen von Robert Ritter im Gewölbekeller sowie Susanne Smajic im Turm zur Katz, der Bär steppte und auch im Keller des Neuwerks noch bis tief in die Nacht gezecht wurde. Bis zur Uni hat es niemand geschafft, den ich kenne. Vielleicht war die Gesamtstrecke doch ein bisschen zu ambitioniert oder die Kürze der Nacht, und bei vielen Besucherinnen und Besuchern war der Wunsch zu hören, dass die einzelnen Installationen und Projekte länger als nur ein paar Stunden zu sehen sein sollten.

Veronika Fischer (Fotos: Thomas Meier)


Der Beitrag erscheint auch auf Thurgau Kultur.