1968: Blick zurück nach vorn
Mitte März fand in der Radolfzeller Stadtbibliothek eine ganz besondere Lesung statt: Gretchen Dutschke, Jahrgang 1942, las aus ihrem Buch „1968 – Worauf wir stolz sein dürfen.“ Der Raum war mit 100 ZuhörerInnen gut gefüllt und erstaunlich viele zeithistorisch Interessierte lauschten der Ehefrau von Rudi Dutschke, dem Vordenker der deutschen Studentenrevolte, der im Dezember 1979 an den Spätfolgen des Attentats von 1968 gestorben war. Unsere Autorin hat sich anschließend mit Gretchen Dutschke unterhalten.
seemoz: Gretchen Dutschke, du hast ein schön buntes Erinnerungsbuch geschrieben, das Kritik und Zweifel nicht ausspart, eine Zeitreise mit allerhand historischen Ereignissen und politischen wie privaten Begegnungen. Darin wird sicht- und fühlbar, wie bedeutsam dieses „68“ noch heute für das insgesamt nicht-autoritäre Klima in Deutschland, ja für unsere Demokratie werden konnte. Als Du – die junge neugierige Frau aus den USA – 1964 in Berlin mitten im Studentenleben gelandet bist – wie wurde dir klar, dass Du in einer besonderen Epoche dich befindest?
Gretchen Dutschke: Das wusste ich wahrscheinlich vorher, denn die großen Studentendemos hatten in den USA schon 1963 angefangen, und ich hatte auch an dem College, wohin ich damals ging, demonstriert, auch wenn es sich eher wie bei James Dean Rebel without a Cause anfühlte. Aber man hatte schon ein Gefühl, dass etwas Besonderes vor sich ging. Ich glaube nicht, dass jede Generation es spürt, bevor es richtig deutlich wird, aber bei uns war das so. Um 1967 gab es keine Zweifel mehr, dass wir uns in einer „Kairos Periode“ befanden, also der richtige historische Zeitpunkt zu einer wesentlichen Veränderung erreicht war. Rudi Dutschke wurde noch in der DDR schon “Jimmy Dean“ genannt. Seine Ziele waren sicherlich etwas mehr definiert als bei James Dean, denn Rudi verweigerte, sich bei der Volksarmee anzumelden. Das wurde als unakzeptabler Protest gedeutet. Dass junge Menschen 16, 17, 20 Jahre alt, schon wissen, was in der Gesellschaft schief läuft, und dass sie etwas tun müssen, protestieren, Änderungen fordern und auch recht haben, das ist ja nicht erst heute der Fall.
seemoz: Wie hast du in den Sechziger Jahren konkret erlebt, dass die totalitären Linken – meistens ja Männer – gesellschaftlich etwas anderes wollten, als Du und Rudi?
Dutschke: Das habe ich bei meiner ersten Begegnung mit den Linken, die sich am Stein-Platz aufhielten ganz sicher noch nicht erlebt. Dort waren damals meistens Künstler, Gammler, schräge Typen. Sie waren nicht autoritär. Der Schock kam später beim Treffen Dezember 1965 mit Dieter Kunzelmann. Wie er sich mir gegenüber verhalten hat, sowas hatte ich noch nie erlebt. Er wollte alles bestimmen, zum Beispiel, dass Rudi sein Verhältnis mit mir aufhört, dass ich verschwinde, dass seine zwei Frauen Rudi verführen sollten, also über diese Frauen bestimmte er auch. Danach erlebte ich weiter ein mich abstoßendes autoritäres Verhalten in Bezug auf die Ziele einer Kommune, die Kunzelmann ganz anders als ich festlegen wollte. Ich wollte Solidarität und Gleichberechtigung der Männer und Frauen als Ziel, er wollte Psychoterror – das hieß, dass er alleine die bürgerliche Persönlichkeit der anderen zerstören wollte. Als ich allmählich immer mehr Deutsch verstand – das wird 1966 gewesen sein – merkte ich auch im SDS, wie die Frauen bei sehr vernünftigen Beiträgen von den Männern ausgelacht wurden. Ich sagte Rudi, dass das unakzeptabel ist, wie sie sich verhalten. Er hatte es vorher wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Aber er wurde dann mit mir einig, dass es nicht gut war, aber er sagte, ich bin ein Mann, wie soll ich etwas dagegen machen können. Selbst verhielt er sich nicht so wie viele SDS Männer, war jedoch unsicher, ob er ihr Verhalten kritisieren konnte. Der Prozess, dieses autoritäre, männlich dominante Verhalten musste bekämpft werden, und das haben dann die Frauen der antiautoritären Bewegung in der Tat geschafft, Stück für Stück ab 1968. Mit dem Aufkommen der Frauenbewegung wurden die Ideale der Antiautoritären durch die ganze Gesellschaft weitergetragen. Das heißt nicht, dass die Aufgabe nun erledigt ist! Es gibt noch viel zu tun, aber wir haben damals schon viel erreicht.
seemoz: Dogmatische Leute erkenne ich auch an einer gewissen Humorlosigkeit, gepaart mit wenig Neigung zur Selbstironie. Du jedoch lachst ja augenscheinlich sehr gerne, und Rudi hatte auch etwas sehr Schelmisches – und gleichzeitig zeichnet euch ja eine humanistische Ernsthaftigkeit aus, die vielen Eurer Zeitgenossen sehr imponiert hat. Fällt Dir dazu eine signifikante Episode ein?
Dutschke: Ein witziges Geschehnis war nicht bei einer politischen Aktion, sondern bei einem Besuch in der Oper „Romeo und Julia“, die aber als Revolution inszeniert worden war. Rudi ist eingeschlafen (es war dunkel und besonders musikalisch war er nicht). Jedoch als die Sänger laut „Es lebe die Revolution“ sangen, wachte Rudi schnell auf, stand auf, machte die „Rot Front“-Faust und schrie, „Es lebe die Revolution“. Die anderen Zuschauer in der Nähe haben sich gleich beklagt, typisch. Aber ich fand es fantastisch lustig. Humanistische Ernsthaftigkeit bei den anderen Zeitgenossen erlebte ich an dem Tag, als Andreas und Helga Reidemeister uns besuchen kamen. Ich kannte sie vorher kaum, sie waren wohl ein paar Mal im SDS, wo sie Rudi und mich erlebt hatten. Sie waren ein Ehepaar, hatten also in diesem Bezug keine Vorurteile. Sie waren mir sehr sympathisch, wie offenbar ich und Rudi es für sie auch waren. Mit denen entwickelte ich eine Modellidee für eine Kommune, die auf Solidarität und Gleichberechtigung basiert. Rudis Blick war etwas anders. Für ihn sollte die Kommune ein Fokus für die Entwicklung der politischen Ideen und Aktionen bilden. Aber er sympathisierte mit unserer Grundausrichtung und nicht mit den Psycho-Terror Methoden von Kunzelmann und der Kommune 1.
seemoz: Was wusstest Du über den deutschen Massenmord im Faschismus, als Du in Berlin eintrafst? Stimmte Dein Vorwissen überein mit der kritischen Haltung der Studentenbewegung?
Dutschke: Ich hatte schon Jahre vorher Anne Franks Tagebuch gelesen. Von einer sehr engen Schulfreundin, deren Stiefvater ein Arzt war, der vor den Nazis fliehen musste und in den USA landete, wusste ich auch, dass eine Flucht alles andere als einfach war. Denn fliehende Juden mussten Sponsoren in den USA haben, die finanzielle Unterstützung garantierten. Eine Frau, die ich von der „Unitarian Church“ kannte, hatte diese Aufgabe übernommen. Ich wusste also, dass viele Juden wegen der Nazis in die USA gekommen waren, und ich kannte die Gründe, weshalb sie das tun mussten. Irgendwann erfuhr ich auch, dass die USA einige fliehende Juden abgelehnt hatten, wie immer und überall wegen fehlendem Geld. Ich denke, als ich nach Deutschland kam, waren die meisten Menschen, die in der Bewegung waren, sich sehr bewusst über das, was in ihrem Land an staatlich organisierten Verbrechen geschehen war. Ich hatte vorher keine Ahnung, wie die jungen Deutschen darüber dachten. Erst als ich Menschen in Deutschland kennenlernte, kam es langsam heraus, wie die Geschichte ihres Landes sie schmerzte. Das war nicht sofort das Erste, worüber man sprach. Aber es kam durch die Aktionen heraus, zum Beispiel gegen Nazis im Wirtschaftswunderland in hohen politischen Stellen, gegen die Verbote, Filme über Konzentrationslager öffentlich zu zeigen, gegen Typen wie Springer, die selbst Nazis gewesen waren. Die etablierten Karrieristen versuchten stattdessen, uns als Nazis zu denunzieren, ein Art Fake News schon damals. Über das, was die Eltern von Bekannten und Freunden während der Nazi-Zeit gemacht haben, haben nur sehr wenige geredet. Mit einigen Ausnahmen wussten sie es wahrscheinlich auch nicht genauer. Rudis Vater beispielsweise hatte zwar schon gesagt, dass er in der Sowjetunion in Kriegsgefangenschaft war, aber mehr nicht. Erst viel später hatte er einem Enkelsohn mehr erzählt. Einige Freunde hatten Eltern, die Nazis waren, und wenn sie es wussten, hatten sie sehr gemischte Gefühle gegenüber ihren Eltern. Auch diejenigen, deren Eltern im Widerstand waren, haben nicht darüber geredet. Und diejenigen, die Juden waren und noch in Deutschland lebten, erzählten es auch nicht. Erst später wagten sie, über die Geschichten ihrer Familien zu berichten.
seemoz: Die Kritik am Vietnamkrieg war ja international, also ein gemeinsamer Nenner des politischen Widerstands in USA und hier. Wie hat das deine Gefühlswelt damals beeindruckt?
Dutschke: Für mich als Amerikanerin war es sehr schmerzhaft, dass mein Land solche Verbrechen beging. Klar lernten wir in der Schule, dass die USA eine Sonderstellung hat, mehr oder weniger von Gott auserwählt, aber das dachte ich längst nicht mehr, als der Krieg in Vietnam anfing. Da lebte ich schon in Deutschland zu der Zeit. Dieser Krieg war eine schreckliche Bestätigung der Bosheit der Machthegemonie der Großmächte. Andererseits waren die massiven Proteste gegen den Krieg in den USA etwas, das einen erfreuen konnte. Die Argumente, dass dieser Krieg der Amerikaner in Vietnam auch Deutschland anging, überzeugten mich: dass amerikanische Soldaten, die in Deutschland stationiert waren, nach Vietnam geschickt wurden, dass sie sich in Deutschland ausruhen durften, dass (deutsche?) Waffen aus Deutschland nach Vietnam geschickt wurden, dass Soldaten, die desertieren wollten, weil sie diesen Krieg nicht kämpfen wollten, die Möglichkeit haben sollten, auch von Deutschland in Sicherheit (nach Schweden) zu kommen, dass Krieg und Unterdrückung überall in der Welt uns alle anging, dass die deutsche Regierung öffentlich die Amerikaner unterstützte, dass die Presse den amerikanischen Krieg unterstützte, und die Proteste dagegen massiv anprangerten. Wir waren überzeugt, dass die Befreiung der Menschen von Ausbeutung und Entfremdung nicht in einem Land allein stattfinden konnte. Die Revolution, die ein Ende von Krieg, Armut, und Entmenschlichung schaffen würde, sollte in der dritten Welt anfangen, hatte ja sogar mit Vietnam angefangen und würde die ganze Welt allmählich verändern. Unser Kampf sollte deshalb weltgeschichtliche Bedeutung für die Oppositionsbewegung in der ganzen Welt haben. Dass das nicht geschah, war schon eine tiefgreifende Enttäuschung. Dass diese Befreiungsbewegungen, wenn sie an die Macht kamen, autoritäre und männlich dominierte Systeme schufen, negiert zwar nicht die Hoffnung, dass es anders sein könnte, aber ein Erfolg garantierendes Lösungskonzept, wie das besser gemacht werden könnte, muss nach wie vor noch realistisch ausgearbeitet werden. Heute ist es die Umwelt-Zerstörung, die die ganze Welt betrifft und die eine Ende der Menschheit bedeuten kann, wenn der Aufstand der betroffenen Menschen, also uns allen, nicht gelingt, nämlich ein ganz anderes nachhaltiges gesellschaftliches und wirtschaftliches System ohne Krieg, Ausbeutung, Armut und Entmenschlichung noch rechtzeitig ins Leben zu rufen.
Das Interview mit Gretchen Dutschke führte Marianne Bäumler (Foto: Lune Dutschke)
Buchtipp:
Gretchen Dutschke
„1968 – Worauf wir stolz sein dürfen“
Kursbuch.edition
220 Seiten, € 22,00