Noch ganz dicht?
Das fragen sich viele KonstanzerInnen, nachdem sie erfahren durften, was die Stadtwerke wieder Intelligentes im Köcher haben. Wer zukünftig seinen Busfahrschein für einen Kurzstreckentarif lösen möchte, dessen Einführung in Bälde geplant ist, soll das über sein Smartphone regeln. Ein verspäteter Aprilscherz, allerdings einer der schlechtesten Sorte.
Man stelle sich folgende Szene vor: Rosa B., Rentnerin, wohnhaft im Stadtteil Paradies, möchte von der Bushaltestelle am Bürgerbüro die drei Stationen bis zum Bahnhof mit dem Bus fahren, um dort ihre Rente bei der Bank abzuheben und beim Bahnhofsbäcker frische Brötchen zu kaufen. Sie ist nicht mehr ganz so gut zu Fuß und auch das Fahrradfahren lässt sie aus Sicherheitsgründen lieber bleiben. Sie hat davon gehört, dass neuerdings ein Kurzstreckentarif eingeführt worden sei und den möchte sie nun auch in Anspruch nehmen.
Der Bus kommt und mit unserer Seniorin drängen noch viele andere ins Wageninnere. Der Wunsch nach einem Kurzstreckenticket bleibt allerdings unerfüllt. Selbiges, so der Fahrer, könne sie doch problemlos über ihr Smartphone buchen. Das sei ein neuer Service und die dazugehörige App der Stadtwerke mache das möglich. Rosa B. ist konsterniert. Ein Smartphone hat sie nicht und von einer App habe sie auch noch nie gehört. Was sie denn jetzt machen soll, will sie wissen. Der Busfahrer zuckt mitleidig mit den Schultern. Die fassungslose Rentnerin versteht die Welt nicht mehr und steigt wieder aus.
So wie ihr wird es anderen auch gehen. Vor allem ältere MitbürgerInnen nutzen Kurzstreckentarife, doch die Konstanzer Stadtwerke wollen ihren KundInnen ein Bezahlsystem verordnen, das bürgerunfreundlicher kaum sein kann. Der Digitalisierungswahn lässt nachhaltig grüßen und man darf getrost vermuten, dass dieser – sorry – Hirnfurz nur das Resultat einer durchzechten Nacht gewesen sein kann. Wie es kundenfreundlicher geht, zeigen andere Kommunen. Die Stadt Augsburg beispielsweise will ab Ende 2019 einen Tarif für insgesamt acht Stationen einführen – zum Nulltarif. Nachahmung empfohlen.
H. Reile (Foto: J. Geiger)
Wer hat sich das ausgedacht? Wer immer es war – hier wollte jemand einfach nur die Diskussion um das Kurzstreckenticket beenden. Ein echt konschtanzerischer Schildbürgerstreich 😉
Wer sich das ausgedacht hat, ist dumm.
Spendieren mir die Stadtwerke ein Smartphone? Ich habe keines, will keines und bin dann gezwungen, falls ich fahre, schwarz zu fahren, schaun wir mal. Von Weitsicht, Klugheit, Miteinander in Konstanz keine Spur – Vorsicht, ansteckend!
Die Stadtwerke spekulieren darauf, dass sich die Nutzer dadurch in Grenzen halten. Gleichzeitig ist ein Anstieg von Schwarzfahrern zu erwarten, der zusätzliches Geld in die Kasse bringt. Das Konstanzer Prinzip ist recht einfach.
Wenn es mit der App genauso gut funktioniert, wie das TINK-Fahrrad-Ausleihen per App (nämlich seit 3 Jahren gar nicht), dann hat es sich mit dem Kurzstreckenticket direkt wieder erledigt. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Jetzt ist es schon ein Viertel Jahrhundert her, dass ich in Gera (oder war es Jena, egal, irgendwie ist es ja keine geografische Frage) an einer Sportveranstaltung teilnahm, zu der mein Vereinskamerad und ich von Konstanz aus zunächst mit der Bahn anreisten und uns innerstädtisch mittels automatengelöstem, streckenlängenabhängig bepreistem Ticket legalen Zugang zum ÖPNV verschafften. Auge und Ohr versprechen mir in den hiesigen Bussen durch die Wahrnehmung von Bildschirm und Ansageband, dass Fahrer und System genau wissen, wo sich der Bus befindet und welche Haltestellen alsbald am Horizont erscheinen. Danebst weist das Gefährt am Sitzplatz des Fahrers so ein Gerät auf, aus dem wählbar bedruckbares Papier emporschießt. Wenn ich jetzt also einsteige und dem Fahrer entweder die Anzahl Haltestellen zurufe, die ich zu passieren gedenke, oder den Namen meiner Zielhaltestelle, dann kann der das Gerät mit der Information füttern und mir schwupsdiewups einen streckenbasiert berechneten Fahrpreis entgegnen und eine passgenaue Fahrkarte ausdrucken. Theoretisch. Wenn man das System programmieren könnte, wie man wollte. Würde mich aber nicht wundern, wenn nicht. Denn alles, was wir für die Energieverschwendung in der Freizeit an Konsumgütern erwerben können, verspricht maximale Multifunktionalität und Erweiterbarkeit (=Konsumanreize). Die Geräte des Wirtschaftslebens sensu lato aber werben damit, „maßgeschneiderte (und damit wohl idiotensichere) Lösungen“ darzustellen, die – wenn überhaupt – nur dann mit anderer Hard- und Software zusammenspielen wollen, wenn diese aus des gleichen Herstellers Produktpalette stammt. Wer kauft denn so ein besch…ränktes Produkt ein, bitte Augen auf bei der Produktwahl, ganz generell! Gleiches gilt für die Erklärkanäle (Medien), die nach dem Motto „Halte den Simpel (als Kunden)“ von vornherein die Information auf das Minimum verknappen, bei dem auch jeder mitkommt. Und dabei wird dann allzu oft unzulässig verallgemeinert – das wird ja wohl kaum von „keep it simple“ gedeckt sein. Bloß nicht differenzieren. Weil man ja denen weh tun könnte, die bei Gebrauch / Lektüre merken, dass es Grenzen gibt, an die sie stoßen und andere Mitmenschen nicht. Wie das? Ist es etwa die Herausforderung unserer Zeit, ein Produkt dadurch benutzersicher zu machen, indem man Funktionen weglässt, statt Sicherheitsmechanismen einzubauen, die jedem die Nutzung der Funktionen ermöglicht, die er auch beherrscht? Ach, man kann gar nicht soviel fressen wie man möchte – ACHTUNG, dieser Satz wurde sinnentstellend um ein Wort gekürzt.
Ich habe erst mal schauen müssen, ob Seemoz wieder mit der Überschrift „Satire“ die Gemüter in Wallung versetzen will. Ist aber nicht. „Lokal“ wird doch jetzt nicht zu einem Synonym für „Satire“ werden?
Diese Entscheidung ist im Ganzen vollkommen untragbar. Das Beispiel mit der Rentnerin ist freilich die extremste Form der Dummheit dieser Maßnahme, weil da noch die Diskriminierung von älteren Menschen ins Spiel kommt.
Aber wie kann man überhaupt ein Angebot der Öffentlichen Betriebe für alle Busgäste von dem Besitz eines Handys und der Bereitschaft, eine App herunterzuladen, abhängig machen? So eine Idee ist dermaßen unsozial und unprofessionell, dass ich gar nicht ausführen mag, warum.
Das gäbe eine wissenschaftliche Erläuterung über die Aufgaben der Öffentlichen Dienste in einer demokratischen Gesellschaft auf der einen Seite und der Unzuverlässigkeit und Fehlerhaftigkeit der digitalen Angebote auf der anderen Seite. Weiß eigentlich jeder.
Wie geht das jetzt weiter?
Ich warte eigentlich nur auf den Anwalt, der die Stadtwerke im Sinne der Gleichberechtigung und Barrierefreiheit verklagt. Es kann ja nicht sein, dass Menschen, die aus Alters- oder Armutsgründen kein Smartphone besitzen, vom Kurzstreckentarif ausgeschlossen sind.
Die Busfahrer tun mir jetzt schon leid, wenn sie täglich 10-50 mal angemault werden, dass sie keine Kurzstreckentickets verkaufen können/dürfen. Wie viele von Ihnen dann plötzlich krank sind?!