Deckname „Magnesit“
Unweit von Konstanz, auf der anderen Seeseite, erhebt sich in malerischer Umgebung die „Basilika Birnau“, beliebt als Wallfahrtskirche und als Barockjuwel gepriesen. Auch vielen Einheimischen gilt das Gebäude nur als eine von zahlreichen touristischen Sehenswürdigkeiten am Bodensee. Dabei findet sich nur rund
500 Meter entfernt ein Friedhof, der an ein dunkles Kapitel der jüngeren Geschichte erinnert. Auf dem KZ-Gedenkfriedhof Birnau haben Menschen eine letzte Ruhestätte gefunden, die Nazi-Verbrechen zum Opfer gefallen sind. Seit langem wird ihrer mit einer Feierstunde gedacht – in diesem Jahr am
11. Mai.
Schon vergessen, was zwischen 1933 und 1945 geschah?, fragt unser Autor Hendrik Riemer mit Blick auf den Zeitgeist. Für das Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der AntifaschistInnen (VVN – BdA) ist es ein Alarmzeichen, dass Fremdenfeindlichkeit und nationale Abgrenzung Eingang in das Denken und Handeln vieler BürgerInnen gefunden haben, wie die Wahlerfolge der deutschnationalen AfD belegten. Seinen Text über die damaligen Geschehnisse versteht er als Warnung vor möglichen Folgen des völkischen Wahns.
Seit 1944 waren die Rüstungsbetriebe in Friedrichshafen Angriffsziel von alliierten Bombern. Ein besonders schwerer Luftangriff am 28. April 1944 zerstörte über 70 Prozent der Stadt und deren Industrieanlagen. Um die Rüstungsschmieden Dornier, ZF und Maybach „bombensicher“ unterzubringen, deren Produktausstoß für die Weiterführung des Krieges unabdingbar war, sollten die Produktionsanlagen unter die Erde verlagert werden. In Überlingen-Goldbach begann man deshalb Anfang Juni 1944, unterirdische Stollen auszuheben. Die Bauarbeiten unter dem Decknamen „Magnesit“ sollten nach 100 Tagen abgeschlossen sein.
Zur Arbeit an den Stollen zwangen die NS-Funktionäre mehrheitlich italienische Häftlinge aus dem KZ Dachau, die man in dem mit etwa 700 Häftlingen belegten KZ-Außenlager Aufkirch am Ortsrand von Überlingen unter menschenunwürdigen Bedingungen zusammengepfercht hatte. Den Stollenaushub schütteten die KZ-Häftlinge vor Goldbach in den Bodensee. Bittere Ironie: Die dadurch entstandene Aufschüttung wurde später als Campingplatz genutzt.
Die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in den Stollen – mangelhafte Verpflegung, unzureichender Schutz bei Sprengungen und die Schikanen der SS-Bewacher – führten zu zahlreichen Todesfällen unter den Häftlingen. So weiß man von 71 Toten, die im Krematorium Konstanz verbrannt wurden. Als dort schließlich die Kohle ausging, ließen die Verantwortlichen mindestens 97 Leichen unbekleidet im „Degenhardter Wäldchen“ in einem Massengrab verscharren. Ein alliierter Bombenangriff am 22. Februar 1945, bei dem 20 Menschen getötet wurden, unterbrach die Bauarbeiten. Trotz mörderischer Arbeitshetze sollten es die Nazis bis Kriegsende im April 1945 nicht schaffen, die Stollen fertigzustellen, geschweige denn die Produktion aufzunehmen.
Aufgrund von Hinweisen durch Antifaschisten ordnete die französische Militärbehörde Ende 1945/Anfang 1946 die Öffnung des Massengrabs im „Degenhardter Wäldchen“ an und befahl die Umbettung der Leichen. Die Stadtverwaltung Überlingen versuchte, sich der Exhumierung der Leichen zu widersetzen. Man machte gesundheitliche Gefahren für die eingesetzten NS-Belasteten geltend, außerdem sei eine Identifizierung der Leichen nicht mehr möglich.
Das Vorhaben der französischen Militärbehörde unterstützten in Überlingen hingegen das Antinazi-Comité, die Christlich-Soziale-Union, die Sozialistische Partei, die Kommunistische Partei und die Gewerkschaften. Am 9. April 1946 schließlich fand die Umbettung der Leichen aus dem Massengrab auf den KZ-Gedenkfriedhof Birnau statt. Zuvor wurden die sterblichen Überreste in Särgen gelagert und in der mit Trauerflor geschmückten Stadt Überlingen öffentlich aufgebahrt. Die Bevölkerung musste auf Anordnung der französischen Militärverwaltung den Aufgebahrten die letzte Ehre erweisen.
Unklarheit herrschte anfangs darüber, wer die Pflege der Grabanlage übernehmen sollte – Überlingen, Uhldingen oder das Kloster Birnau. Nach einigen Querelen übernahm letztlich die Stadt Überlingen die Pflege. Deren Verwaltung oblag bis zum Beginn der 70er Jahre die Verantwortung für die jährlichen Gedenkfeier an Allerheiligen, begangen jeweils im Beisein einer französischen Militärabordnung. Schon in den frühen 50er Jahren setzte hingegen der Konstanzer Gemeinderat dem bis dahin obligatorischen jährlichen Besuch des KZ-Friedhofs ein Ende.
Etwa ab 1970 übernahmen die Kreisgruppen Konstanz und Oberschwaben Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) zusammen mit dem DGB Konstanz und Friedrichshafen sowie der IG Metall Friedrichshafen die Ausrichtung einer jährlichen Gedenkfeier. Mit dem Gedenken an die 97 Toten ist der Wille verbunden, an die Zeit und die Folgen der Terrorherrschaft des Nationalsozialismus zu erinnern: Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!
Hendrik Riemer