100 Jahre Mittelthurgaubahn – ein Nostalgiejubiläum

Es ist viel Nostalgie dabei und bei altgedienten Bähnlern auch ein bisschen Wehmut: In diesem Tagen könnte die Mittelthurgaubahn (MThB), einst Stolz des Kantons, ihr 100 jähriges Bestehen feiern. Doch nach Auflösung des einstigen Vorzeigeunternehmens ist nur die Bahnstrecke geblieben, jetzt betrieben von der Thurbo AG. Folglich wird das Jubiläum offiziell auch als „100 Jahre Bahnlinie Wil-Konstanz“ und eher bescheiden gefeiert.

Es ist ein bemerkenswertes, gleichfalls ruhmreiches Stück Eisenbahngeschichte, das allerdings bitter endete. Die Geschichte zeigt aber auch die aus heutiger Sicht überraschende Weltoffenheit des Kantons Thurgau in jener Zeit. Schon die Idee, entstanden bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert, war ungewöhnlich. Eine Bahnverbindung quer durch den ländlichen Kanton Thurgau, und zwar von Süd nach Nord, von Wil im Kanton St. Gallen bis nach Kreuzlingen und sogar über die Grenze weiter bis nach Konstanz. Eine Anbindung abgelegener Ortschaften an die Verkehrsnetze also, wie es inzwischen seit Jahrzehnten vergeblich mit einer Schnellstraße durch den Thurgau versucht wird.

Konstanz an Schweizer Bahnnetz angebunden

Doch auch damals war der Weg weit und vermutlich steinig. Jedenfalls wurde die Initiative zum Bau der Mittel-Thurgau-Bahn bereits im Oktober 1890 ins Leben gerufen, der erste Spatenstich für die neue Bahnstrecke folgte jedoch erst 1909, also 19 Jahre später. In diesen Jahren fand man nicht nur mit der damaligen Westdeutschen Eisenbahngesellschaft mit Sitz in Köln den ersten Hauptaktionär für das Unternehmen MThB – später war es dann die Vereinigte Westdeutsche Kleinbahnen AG – die Initianten erhielten auch die Genehmigung der Großherzoglich Badischen Staatseisenbahnen für die Weiterführung der Züge von Kreuzlingen auf der bereits vorhandenen Strecke bis zum Bahnhof Konstanz. Damit war schon vor mehr als 100 Jahren der Grundstein gelegt für eine Anbindung von Konstanz an das Schweizer Bahnnetz und letztlich auch für den heute so erfolgreich betriebenen grenzüberschreitenden „Seehas“ sowie für die inzwischen gut funktionierende direkte Schnellzugverbindung nach Zürich.

Personen- und Güterverkehr

Nach rund zweijähriger mühsamer Bauzeit – immerhin mussten sieben Brücken und Viadukte errichtet werden – wurde die neue Bahnlinie am 20. Dezember 1911 offiziell eröffnet. Die 41 Kilometer lange, einspurige sogenannte „Stammstrecke“ der MThB von Wil über Weinfelden im Thurtal und dann in großen Schleifen über den Seerücken nach Kreuzlingen und Konstanz brachte den Zug zu den Menschen in bisher eher abgelegenen Gegenden. Doch es ging nicht nur um den Personenverkehr, zunehmend wichtig wurde für die neue Privatbahn der Güterverkehr, der bereits in den 1920er Jahren stetig Zuwächse verzeichnete, da sich zunehmend auch Firmen entlang der Strecke ansiedelten. In jüngerer Zeit holte die MThB auch internationalen Güterverkehr über Konstanz in die Schweiz. Dazu zählte unter anderem der Kiestransport, aber vor allem auch die bekannten langen Ölzüge zu den entlang der MThB-Strecke angesiedelten Tanklagern. Inzwischen jedoch ist der Güterverkehr auf dieser Strecke massiv zurück gegangen.

Gut 80 Jahre betrieb die Mittelthurgaubahn AG, deren Aktien Anfang der 1950er Jahre der Kanton Thurgau sowie Kommunen und Privatanleger übernommen hatten, einen ruhigen und unspektakulären Kurs auf ihrer zunächst mit Dampf-, dann mit Dieselloks betriebenen, ab 1965 schließlich elektrifizierten Stammstrecke. Bis Anfang der 1990er Jahre die Expansionen begannen. Im ersten Schritt wurde in langen, zähen Verhandlungen mit der Deutschen Bahn und dem Landkreis Konstanz das Streckennetz der MThB über Konstanz hinaus bis nach Engen ausgeweitet. Der erste „Seehas“-Zug startete am 25. Mai 1994. Dem „Seehas“ folgte zwei Jahre später das „Seehäsle“, die Wiederbelebung der 1982 stillgelegten Bahnstrecke Radolfzell-Stockach.

Das unrühmliche Ende

Im gleichen Zeitraum erhielt die MThB aber auch den Auftrag für die Sanierung der sogenannten „Seelinie“, jener wichtigen Bahnstrecke entlang des Schweizer Bodensee-Ufers von Schaffhausen bis Romanshorn. Die Strecke war von der Schweizer Staatsbahn SBB über Jahre vernachlässigt und heruntergewirtschaftet worden, sie stand vor dem Aus. Nach Übernahme durch die MThB – übrigens gegen den Willen der SBB – wurde die Verbindung umfassend saniert und mit modernem Rollmaterial ausgestattet mit dem Ergebnis, dass die Passagierzahlen wieder stiegen. Erfolg also für das kleine Unternehmen auf ganzer Linie, Erfolg aber auch für dessen langjährigen Direktor Peter Joss, in jenen Jahren überall als „Vorzeigeunternehmer“ gelobt und hofiert.

Doch dann wendet sich das Blatt überraschend schnell. Zwar steigen die Passagierzahlen auf den von der MThB bedienten Strecken und es werden weitere Expansionspläne realisiert: 2002 gründen SBB und MThB eine gemeinsame Tochter, die Regionalbahn Ostschweiz Thurbo AG. Aber dann wird bekannt, dass der MThB die Pleite droht, in der Kasse fehlen viele Millionen Franken. Die Investitionen für Streckensanierung und neues Wagenmaterial hatten das kleine Unternehmen offenbar überfordert, was aber auch damit zusammen hing, dass die Schweizer Staatsbahn ihren Verpflichtungen gegenüber der MThB nicht nachkam. Ergebnis des plötzlich aufgetretenen Chaos: Nach langem Hin und her wurde die Mittelthurgaubahn AG zum Jahresende 2002 aufgelöst, Rollmaterial und Anlagen gingen an die Thurbo AG, die damit ein Vorzeigemodell des ÖPNV auf der Schiene übernahm.

Und natürlich waren auch die Schuldigen schnell gefunden: Allen voran Peter Joss. Der engagierte, langjährige Direktor der MThB war das Bauernopfer, auf den jetzt alle zeigten. Er wurde kurzfristig entlassen und musste sich später auch noch vor Gericht verantworten. Immerhin trat auch Hermann Lei, Verwaltungsratspräsident der MThB AG, als Mitglied der Kantonsregierung zurück. Letztlich aber waren am unrühmlichen Ende einer ruhmreichen Geschichte viele beteiligt, nur davon wollte man dann ganz schnell nichts mehr wissen.

Historische Dampfzugfahrten

In diesen Tagen also wäre die Mittelthurgaubahn, liebevoll auch immer wieder „Mostindienexpress“ genannt, 100 Jahre alt geworden. Doch vom einstigen Thurgauer Vorzeigeunternehmen und Stolz des Kantons ist nichts geblieben als die „Stammstrecke“ Wil-Konstanz, und man will offenbar an die Geschichte auch gar nicht mehr denken. Lediglich einige Modelleisenbahn-Clubs in der Region sowie natürlich der Verein Historische Mittel-Thurgau-Bahn erinnern an das Jubiläum. Unter dem Motto „Unsere Bahn wird 100!“ greift der Verein in diesen Wochen mit Vorträgen, Filmen und anderen Aktionen das Thema wieder auf. Und am kommenden Wochenende (10./11.Dezember) gibt es auf der Strecke ganz reale Dampfzugfahrten zu den Weihnachtsmärkten in Wil, Weinfelden, Kreuzlingen und Konstanz.

Autorin: R. Klett