Ich will auch einen Klodeckel zum Klingen bringen

Patrick Manzecchi, der gerade seinen 50. Geburtstag feierte, vorzustellen, hieße offene Türen nach Athen zu tragen. Wir wollten uns mit ihm über Gegenwart und Zukunft des Jazz, über seine musikalischen Wurzeln und die üblichen Interviewthemen unterhalten. Herausgekommen ist ein einfühlsames Gespräch über die Tiefen und Untiefen des Lebens, über Humor und Empfindung, über Gefühle und Erinnerungen und das lebenslange Brodeln, das Menschen in sich verspüren, die ihren ganz eigenen Weg suchen.

Den zweiten Teil dieses Gesprächs lesen Sie hier.

seemoz: Über die Geschichte der populären Musik wissen wir erstaunlich wenig. Was die alten Griechen dachten, wissen wir, deren philosophische Werke kriegst Du billig im Taschenbuch, ihre Stücke siehst Du in jedem Stadttheater. Mit den Römern ist es ähnlich. Aber populäre Musik? Was hörte oder sang ein Sklave in Athen, was ließ sich ein römischer Sklavenhalter zum Abendschoppen vorspielen? Was hörte ein Bauer um 1800 herum, wenn er ein paar Mal im Jahr bei einer Kirmes oder so überhaupt weltliche Musik zu hören bekam, was hat er bei der Feldarbeit gesungen, was sangen die Frauen in den Spinnstuben? Wir wissen nicht viel darüber, weil diese Musik – anders als die Kirchen- oder Hofmusik – nicht aufgeschrieben wurde.

Auch deshalb ist der Jazz wohl die erste heute noch lebendige Form der populären Musik. Er ist um 1900 herum entstanden und in den zwanziger Jahren, durch die zunehmende Verbreitung der Schallplatte, populär geworden. Der Rock ’n‘ Roll und die Pop-Musik sind ohne den Jazz ja kaum denkbar. Aber ich habe den Eindruck, dass der Jazz seit seinen letzten Entwicklungsschritten in den sechziger Jahren hin zum Free Jazz stehen geblieben ist. Ist der Jazz nicht in Würde gealtert, sondern ein Museum seiner selbst?

Manzecchi: Er ist für mich durchaus lebendig. Der Jazz hat in den letzten Jahren vielleicht etwas krampfhaft versucht, sehr jugendlich daher zu kommen, Hiphop-Rhythmen wurden übernommen, auch der Habitus der Jugendkultur wird imitiert. Schon Miles Davis hat sich auf einmal so gekleidet wie Jimi Hendrix und wurde dadurch bekannter. Die Gesellschaft steht oftmals auf Modethemen wie „es wurde aber auch Zeit, dass der Free Jazz die Politik in die Musik bringt“ oder „es wird Zeit, dass kommerzielle Big Band-Musik auch als solche diffamiert wird“. Wir Musiker sind diesbezüglich eher simpel gestrickt, wir haben es nicht mit solchen Hirnfürzen. Für mich hört sich nichts verstaubt oder antiquiert an, was meine eigene Leidenschaft zu wecken imstande ist.

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Natürlich sind gewisse populistische Strömungen für mich als Künstler untragbar. Wenn ich aber den Künstler einmal zu Hause lasse, finde ich Sade immer noch großartig, und ich frage mich nicht, was das denn wohl mit Jazz zu tun hat. Ich trage meinen Charlie Parker immer noch in mir, und der ist für mich noch lange nicht gegessen. Einerseits habe ich natürlich einen musikalischen Anspruch, auf der anderen Seite ist aber diese infantile Lagerfeuerromantik ganz, ganz wichtig. Und Schubladen – dies ist Jazz und das nicht, dies ist kommerziell und das echte Kunst – spielen für mich keine Rolle. Auch Brian Eno oder David Bowie haben Sachen geschaffen, die heute noch nicht spruchreif sind.

seemoz: Aber Musik ist Teil der geschichtlichen Entwicklung.

Manzecchi: Klar, aber je besser ich als Musiker werde und je mehr sich meine musikalische Intelligenz erweitert, desto weniger weiß ich um diese Zusammenhänge. Ich finde es schade, dass gewisse traditionelle Aspekte wie zum Beispiel Anstand oder Nonchalance verloren gehen und eine neue Ästhetik überhand nimmt. Was früher der Anzug war, sind heute die Tattoos und die Riesenlöcher in den Ohren. Wie gehe ich damit um? Wenn ich mit bestimmten Musikern zusammenspiele, ziehe ich mir für die Bühne einen Anzug an, und zwar aus Respekt vor den Musikern. Wenn ich mit jemandem aus dem Free Jazz zusammenspiele, dann ist das anders, weil ich weiß, dass er sich bewusst dagegen entschieden hat. Also kann ich aus Respekt vor der Sache entsprechend reagieren, das ist ein politischer und musikalischer Diskurs in mir und nicht im Außen. Aber im Jahr 2019 erlebe ich drei Punks in Hamburg in einer Unterführung, die Michael Jackson auf ihrem Ghettoblaster laufen lassen und dazu singen. Seit wann gibt es denn Punks, die Michael Jackson hören? Wo habe ich da was verpasst? Die Eindeutigkeit ist verloren gegangen, früher war es doch sehr viel eindeutiger, geradliniger.

seemoz: Wenn ich Dich fragen würde, was der Jazz kann, was Rock, Pop und Klassik nicht können, dann würdest Du mir antworten, dass meine Frage sinnlos ist, weil diese Grenzen eigentlich gar nicht da sind?

Manzecchi: Eigentlich sind diese Grenzen nicht da, sie sind nur spieltechnisch da. Wenn Du eine Gitarre hast, fragst Du Dich, ob die sauber klingen soll oder eher schmutzig, authentisch oder verfremdet. Wenn ich mit Rockmusikern spiele, merke ich natürlich, dass deren Wissen und deren Anspruch etwas geringer sind, als ich es aus dem Jazz her kenne. Aber wer bin ich, das zu bewerten? Heute bin ich in der Lage, zu machen und zu hören, was ich will: Led Zeppelin, Hiphop, David Bowie.

Es ist gut, dass ich hier in Konstanz zwar ein Platzhirsch, aber keine Stargröße bin. Darum muss ich mich nicht abgrenzen, sondern kann auch mal eine Doors-Produktion oder einen Elvis Presley am Theater mitspielen. Ich habe jetzt gerade in Hamburg mit dem deutschen Blues-Musiker Alex Behning zusammengearbeitet. Er suchte für seine dritte CD einen Schlagzeuger, der erfahren, robust und offen ist und an der Entwicklung seiner Musik mitarbeiten kann. Ich fragte ihn, wie er überhaupt auf mich Jazzer kam, und er sagte. „Du bist einfach ein sympathischer Typ, Du hast die Nase nicht so weit oben. Und dann habe ich Dich bei der Doors-Produktion vor ein paar Jahren erlebt, und da dachte ich, das macht der Manzecchi nicht nur gut, sondern sogar sehr gut, das sind genau die Doors, die ich kenne.“

seemoz: Wie bist Du überhaupt im Jazz gelandet?

Patricks Vater Franco Manzecchi beim Jazz Jamboree Warschau 1966

Manzecchi: Mein Vater Franco war ein berühmter Jazz-Schlagzeuger in Paris, wo auch ich meine ersten Lebensjahre verbracht habe. Er wurde schon früh schwer krank, und meine deutsche Mutter Mimi ist mit uns nach Konstanz gezogen, wo ich 1977 auf die Wallgutschule kam, obwohl ich damals noch kein einziges Wort Deutsch konnte. Am Anfang habe ich kein Wort verstanden, sie haben mich gründlich verarscht, und ich habe dazu immer nur gegrinst. Noch heute sagen meine ehemaligen Schulkameraden, dass ich der coolste von allen war. Das ist ja kein Wunder, denn ich habe ja kein Wort verstanden. Mein Vater starb dann 1979 hier in Konstanz und hat mir seine Plattensammlung und sein Schlagzeug hinterlassen.

seemoz: Der Jazz wurde Dir also schon in die Wiege gelegt?

Manzecchi: Mein Vater hat ein Interview für das französische Radio gegeben, und in meiner Trauerarbeit habe ich das rauf und runter gehört zusammen mit den Tonbeispielen, die eingespielt wurden, und das waren Miles Davis, John Coltrane, Charlie Parker, Cannonball Adderley, Oscar Peterson, ich bin also auf dem emotionalen Weg zur Musik gekommen. Ich habe angesichts dieser Musikbeispiele schnell begriffen, wie die Gesetzmäßigkeiten im Jazz sind. Was ist der Chorus, wann wird improvisiert, wer improvisiert. Ich bin schnell in die Musik hinein gekommen, aber das war natürlich auch ein Stück Trauerarbeit und für mich ist Musik bis heute vor allem eins: emotional.

seemoz: Hast Du damals dann gleich Unterricht bekommen?

Manzecchi: Nein, ich bin Autodidakt, wie die meisten Jazzer früher. Ich habe nach dem Tod meines Vaters Musik zuerst nur gehört. Ich habe mit leichter Kost begonnen wie Ella Fitzgerald oder Benny Goodman und Louis Armstrong, habe aber schnell auch Charlie Parker und Dizzy Gillespie für mich entdeckt. Erst 1980 habe ich mich an das Schlagzeug meines Vaters gesetzt und zu den Platten einfach mitgetrommelt.

Patrick Manzecchi 1970er Jahre

Mein bester Freund aus Pariser Zeiten hieß Laurent Galeazzi. Auch er kam aus einer musikalischen Familie. Sein Vater war in den fünfziger Jahren mit der Band von Lalo Shifrin nach Paris gekommen, etwa zur selben Zeit, als auch mein Vater nach Paris kam. Mein Vater hat sich damals mit Ricardo, einem argentinischen Bassisten, angefreundet. Ich und Laurent kamen dann 1969 etwa gleichzeitig zur Welt. Laurent wurde von seinem Vater richtig getriezt, der musste Musik machen. Als mein Vater von Paris nach Konstanz ging, konnte er nicht alle Schlagzeuge mitnehmen. Daher verkaufte er eins davon an Ricardo, und auf diesem Schlagzeug lernte dann Laurent. Im ersten Sommer, den wir in Konstanz verbrachten, kamen Laurent und seine Mutter zu uns zu Besuch, es gibt noch Super-8-Filmaufnahmen aus Stein am Rhein und vom Rheinfall.

Bald nach dem Tod meines Vaters waren wir zusammen mit unseren Eltern irgendwo in der französischen Schweiz Ski fahren, Laurents Vater spielte dort abends in einer Bar, und Laurent durfte dann immer bei einem Song mit einsteigen. Ich wollte auch mitspielen, und Ricardo sagte, gut, der Patrick ist der Sohn von Franco, der wird ja wohl wissen, worum es geht. Ich hatte aber Musik immer nur gehört und mitgetrommelt, aber noch nie mit anderen öffentlich gespielt. Ricardo hat mich gefragt, was wir denn spielen wollen, und mir fiel nur „Jordu“ von Duke Jordan ein, und wir legten los. Ricardo war beeindruckt und Laurent wohl etwas eifersüchtig, weil es mir so leicht fiel.

Laurent und Patrick 1980 in Nizza

Zum Schlagzeug kam ich also eigentlich, weil ich es nicht ertragen konnte, dass Laurent für etwas bewundert wurde, das mir als Sohn eines Schlagzeugers zustand. Laurent war ein großartiger Musiker und ein lebenslanger Freund, der mich stark beeinflusst hat. Er wurde schon mit 14 Jahren Profi, aber er war manisch-depressiv, hat vor ein paar Jahren aufgehört Schlagzeug zu spielen, und sich vor drei Jahren umgebracht.

seemoz: Du hast Dir also alles selbst beigebracht?

Manzecchi: Ja. Interessanterweise passiert dabei Folgendes: Da Du zuerst einmal gar nicht weißt, was Du lernen sollst, musst Du Dir einen eigenen Weg suchen, und jeder Weg führt Dich als Anfänger zuerst einmal ins Nichts. Also fängst Du wieder von vorne an und schlägst den nächsten Weg ein, und der führt wieder ins Nichts. Und so weiter. Und irgendwann einmal kommt eine erste Band, und dann greifst Du auf diesen Weg und auf jenen Weg zurück und baust sie aus. Aus diesem Grund sind Jazzmusiker im Allgemeinen sehr breit aufgestellt und oft sehr gut auf ihrem Instrument, weil ihnen niemand reinredet und sie alles aus sich selbst heraus lernen müssen. Oftmals sind diese Self-Made-Typen so ähnlich wie Leute, die ein Survival-Training gemacht haben, also richtige Freaks.

seemoz: So sieht es aus. Ich bin mal in Buenos Aires in einem winzigen Jazzclub gelandet, da waren vielleicht zehn Leute Publikum, aber dort spielte ein unglaublich gutes Trio. In der Pause stand das Publikum zusammen mit den Musikern vor der Tür auf der Straße rum und rauchte. Ich in meiner grenzenlosen Naivität sagte zu dem Schlagzeuger, dass er wohl schon seit Jahren mit diesen Leuten zusammenspiele. Da lachte er, weil er diese Leute vorher überhaupt noch nie gesehen hatte. Er sei gerade von einer langen Europatournee mit Ricky Martin, der damals ein echter Pop-Star war, zurückgekommen. Heute Abend spiele er hier aus reinem Spaß und zur Erholung … Für Dich kam dann irgendwann Deine erste Band?

Patrick Manzecchi mit 12 Jahren in der Seekuh

Manzecchi: Das dauerte noch. Ich bin schon als Zwölfjähriger mit meiner Mutter zu Konzerten in die Seekuh gegangen. Wenn ich müde wurde, wollte sich meine Mutter nicht von mir nerven lassen und hat mich halt um zehn Uhr in die Küche geschickt, wo ich bis zum Ende des Konzerts geschlafen habe. Aber ich wurde dort auch immer wieder mal quasi als Maskottchen auf die Bühne gesetzt und durfte dann bei ein paar Stücken mitspielen. Das waren französische Musiker, aber auch Claus Veeser, später auch Waidele. François Biensan, ein Trompeter aus Paris, schrieb mir mal auf Facebook, dass er sich noch an mich erinnere, ich hätte damals zwar noch nicht spielen können, aber schon „den Sound“ gehabt. Ich habe seit jeher den Anspruch an mich, auch einen Klodeckel zum Klingen zu bringen.

seemoz: Das erinnert mich an Robert de Niro, der von sich sagte, er könne alles spielen, sogar ein Schnitzel. Denkst Du nachträglich, dass Dir vielleicht ein anderes Instrument besser gelegen hätte als das Schlagzeug?

Manzecchi: Nein, ich habe ja auch noch Trompete gelernt, Gitarre bei Yogi Groß und Klavier bei Andi Bung. Ich hatte durchaus Interesse an anderen Instrumenten, bin aber ein fauler Mensch. Mir ist das Schlagzeug ja in die Wiege gelegt worden und es ist ein Teil meiner Geschichte, dass ich mich von meinem Vater, dem berühmten Schlagzeuger, loseisen musste.

Heute bin ich emanzipiert, aber trotzdem immer noch sein Sohn. Ich habe mit ebenso berühmten Leuten wie er damals gespielt, aber mein Nachlass wird nicht so umfangreich sein wie seiner. Heute ist er in gewisser Weise unsterblich geworden, Du siehst ihn auf YouTube zum Beispiel mit Chet Baker. Auch seine Fernsehaufnahmen mit Blossom Dearie stehen hoch im Kurs, allerdings weniger in Europa als in Amerika. Blossom Dearie war dort die Stimme der Sendung „Schoolhouse Rock“ mit der viele Amerikaner großgeworden sind, so wie wir alle die „Sesamstraße“ kennen. Mein amerikanischer Freund Kyle sagte zu mir, „Chet Baker ist o.k., aber Blossom Dearie? Oh mein Gott, die ist für mich sowas wie eine Mutter!“

Das Gespräch führte Harald Borges, die Bilder stammen aus dem Archiv von Patrick Manzecchi, sie wurden fotografiert von Marcus Greineder, Kai Kopp, Franco Manzecchi, Mimi Manzecchi, Helmut Oelke, Carsten Rüger, Mimi Venezia und Susanne Wagner.