Getötete Radfahrer: Aufkleber reicht nicht!
Der Blutzoll auf deutschen Straßen ist hoch, Tendenz teils steigend. Gerade Abbiegeunfälle gehören zu den größten Risiken für RadfahrerInnen, die unter den Rädern rechts abbiegender Autos und LKWs ihr Leben aushauchen. Ein Aufkleber auf Lastwagen, Bussen und anderen Großfahrzeugen soll sie nun vor der Gefahr des (im wahrsten Sinne des Wortes!) Toten Winkels warnen. Dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club ADFC (und dem gesunden Menschenverstand) geht das allerdings nicht weit genug.
Hier eine Medienmitteilung des ADFC:
Die Gefahr lauert im toten Winkel: Unfälle durch rechts abbiegende Fahrzeuge im Straßenverkehr sind für RadfahrerInnen besonders folgenschwer. Die Zahlen sprechen für sich – insgesamt verunglückten im letzten Jahr 88.850 Radfahrende auf deutschen Straßen, elf Prozent mehr als im Jahr davor. „Die häufigste Unfallsituation sind Kollisionen mit Kraftfahrzeugen beim Einbiegen, Kreuzen oder Abbiegen“, erklärt Kathleen Lumma, Landesgeschäftsführerin des ADFC Baden-Württemberg. Viele davon enden tödlich: 2018 kamen bundesweit 35 Radfahrende durch rechts abbiegende Fahrzeuge ums Leben, im ersten Halbjahr 2019 waren es bereits 20: Die Zahl steigt bedenklich an.
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Gefahr Rechtsabbieger
Vor allem geradeaus fahrende RadfahrerInnen werden im toten Winkel, also im nicht oder schlecht einsehbaren Bereich vor und neben dem Fahrzeug, schnell übersehen. Um mehr Bewusstsein für die Problemlage zu schaffen, haben die Arbeitsgemeinschaft Fahrradfreundliche Kommunen Baden-Württemberg (AGFK), die Landesverkehrswacht und andere Institutionen einen Aufkleber in Form eines Warndreiecks entwickelt, der zu mehr Sicherheit im Straßenverkehr beitragen soll. Am Heck größerer Fahrzeuge wie Busse, LKW und Kleintransporter angebracht, macht er RadfahrerInnen unmittelbar auf die Risiken aufmerksam, die an Ampeln oder größeren Kreuzungen durch rechts abbiegende Fahrzeuge lauern.
Aufklärung für alle Verkehrsteilnehmer
Dem ADFC Baden-Württemberg geht die Initiative nicht weit genug. „Grundsätzlich ist Aufklärung wichtig und begrüßenswert, aber Aufkleber, die nur RadfahrerInnen ansprechen, sind keine Lösung“, so Lumma. Der ADFC fordert daher, alle Verkehrsteilnehmer zu sensibilisieren, nicht nur Radfahrende. Dies könnte beispielsweise durch Plakate, die alle am Straßenverkehr Beteiligten ansprechen oder durch Schulungen geschehen. „Aber letztlich muss auf die dramatische Entwicklung der Unfallzahlen endlich auch mit einer besseren Fahrradinfrastruktur reagiert werden, die den stark wachsenden Radverkehr sicherer macht, denn Aufklärung und Sensibilisierung haben ihre Grenzen“, so Lumma.
Maßnahmen für sichere Kreuzungen
Um die Sicherheit an Kreuzungen zu verbessern, sind etwa getrennte Ampelschaltungen für Kraftfahrzeug- und RadfahrerInnen sowie die verpflichtende Einführung eines LKW-Abbiegeassistenten ein Muss. Sinnvoll sind auch sogenannte geschützte Kreuzungen nach niederländischem Vorbild mit zusätzlichen Bordsteinen und Farbmarkierungen. Der ADFC fordert außerdem, den innerstädtischen LKW-Verkehr einzudämmen sowie Schrittgeschwindigkeit beim Abbiegen. Das war auch Konsens der kürzlich stattgefundenen ADFC-Fachtagung „Sichere Kreuzungen“ in Berlin. „Wir brauchen nicht nur Aufkleber, sondern fahrradfreundliche Kreuzungen“, fordert Lumma. „Denn jeder Tote und Verletzte im Straßenverkehr ist einer zu viel.“
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So weit die Mitteilung des ADFC, die zu einigem Nachdenken Anlass gibt.
Wer sich für Verkehrspolitik interessiert, langt sich so manches Mal spontan an den Kopf, und das selbst, während er gerade die Klobürste bedient: Mit irgendwelchen Appellen an den guten Willen werden bestenfalls jene VerkehrsteilnehmerInnen erreicht, die ohnehin schon guten Willens sind, dem Rest geht das mit herzlichen Grüßen an die Mitmenschen am Allerwertesten vorbei. Das gilt nicht nur für die überzeugten Bleifüße mit ihrer Inselbegabung, sondern es ist dieser gar nicht mal so seltene, voll umfänglich entwickelte und auch ansonsten äußerst unangenehme Charakter Mitmensch, der sich als Autofahrer (hier bewusst in der männlichen Form geschrieben, denn es sind nach meiner Erfahrung fast ausschließlich Männer) wie als Radfahrer (dito) und auch sonst einfach nur wie ein Arschloch aufführt – und uns Frauen gern nachsagt, dass wir nicht ans Steuer gehören. Ein gutes Beispiel für diesen Typ sind Menschen, die Rettungsgassen als private Schnellwege missbrauchen, Krankenwagen blockieren oder umparken und Feuerwehrleuten den Schlauch entreißen, um ihnen dann kräftig aufs Maul zu hauen. Aber solche Menschen sind nur ein geringer Teil des Problems, das sich in Blutspuren auf dem Asphalt manifestiert, und sie lassen sich gewiss (wer kann, belehre mich bittebitte eines Besseren!) durch keinerlei Kampagnen, sondern bestenfalls durch regen Schusswaffengebrauch nachhaltig umerziehen.
Aber hier geht es um das Problem des toten Winkels, und der ist keine Charakterfrage. Die Idee allerdings, an größeren Fahrzeugen Aufkleber anzubringen, die schwächere Verkehrsteilnehmer davor warnen, sie könnten bei gesetzeskonformem Verkehrsverhalten erbarmungslos getötet werden, ist so grottendämlich und menschenverachtend, dass man sich schämt, sie sich überhaupt mehr als einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Diese Maßnahme sollte nicht, wie es der ADFC fordert, um andere Maßnahmen ergänzt, sondern schleunigst wieder vergessen werden.
Vielleicht kennen Sie ja noch die heute etwas aus der Mode gekommenen Autoaufkleber aus bekenntnisfreudigeren Zeiten? Da gab es Christen, die sich einen Fisch aufs Heck ihres Opel Tantra klebten, um zu signalisieren, dass man doch im Falle eines tödlichen Verkehrsunfalls einen Popen herbeizitieren möge. Außerdem gab es schon bald nach Erfindung der selbstklebenden Folie auch jene ZeitgenossInnen, die man heute – in gesellschaftlich wesentlich härteren Zeiten – als Gutmenschen bespeien würde, denn sie fuhren einen Bepper „Achtung, ich bremse auch für Tiere“ spazieren.
Der beschriebene und vom ADFC als unzureichend abgelehnte Aufkleber an Großfahrzeugen, der andere Verkehrsteilnehmer vor ihrer unmittelbar bevorstehenden Hinrichtung warnt, käme einem Bepperle „Achtung, ich mache Matsch aus Dir“ verdammt nahe. Damit will ich allerdings ausdrücklich nicht (!) sagen, das LKW- und BusfahrerInnen besonders mordlüsterne Charakterköpfe seien, nein, sie sind unschuldig und tun Tag für Tag an einem strapaziösen Arbeitsplatz ihr Bestes. Offensichtlich sind vielmehr diese Fahrzeuge so konstruiert, dass sie in bestimmten kritischen Verkehrssituationen durch den real existierenden Menschen nicht bedient werden können, ohne dass andere Menschen in Lebensgefahr geraten. Dagegen helfen aber keine Aufkleber, sondern beispielsweise andere Ampelschaltungen, wie sie der ADFC vorschlägt. Wenn rechtsabbiegende Fahrzeuge und geradeaus fahrende bzw. gehende Menschen gleichzeitig grün bekommen, sind Tote einfach in der Ampelschaltung vorprogrammiert. Diesem Problem kann am effizientesten mit gesetzlichen und vor allem mit technischen und baulichen Maßnahmen begegnet werden.
Dass das nicht getan wurde und wird, hat einen einfachen Grund: Für Verkehrsräume für Autos war jahrzehntelang stets genug Geld da, aber wenn es um Fuß- und Radwege ging, rief und ruft die öffentliche Hand sofort den Finanznotstand aus. FußgängerInnen und RadfahrerInnen haben anders als die Autolobby einfach viel zu wenig Druck gemacht und sich alles gefallen lassen. Wie schnell ein echter Gesinnungswandel oder zumindest Lippenbekenntnisse zu erzwingen sind, hat jüngst die FfF-Bewegung gelehrt, die auch in Konstanz gerade im Vorfeld der Kommunalwahlen Erstaunliches bewirkte. Davon lässt sich lernen, auch für die nächsten OB-Wahlen, bei denen abzusehen ist, dass selbst die eingefleischtesten Betonköpfe und Bleifüße unter einem grünen Banner vors Wahlvolk treten werden.
So lange aber der Verkehrsraum in der täglichen Praxis vorrangig für das Auto verplant wird und im verbleibenden Rest dann irgendwie RadlerInnen und FußgängerInnen zusammengequetscht werden, ist an einen sicheren Verkehr nicht zu denken. Wenn Sie gelegentlich zu Fuß oder auf dem Fahrrad den Fuß- und Radweg stadteinwärts zwischen der Ampel am Bodenseeforum und der Ampel am Kompetenzzentrum gegenüber dem MediaMarkt benutzen oder den auf der anderen Seite vorbei an Moschee und MediaMarkt, wissen Sie, wie eine total verfehlte, unverhohlen menschenfeindliche Verkehrsplanung aussehen kann. (Dass zu einer solchen Planung vielleicht auch die recht diffizile juristische Gemengelage zwischen einer Bundesstraße und einer innerstädtischen Bebauung beigetragen haben mag, bleibe hier unerwähnt.)
So lange inner- wie außerörtliche Verkehrsflächen nicht konsequent zugunsten von FußgängerInnen, RadfahrerInnen und ÖPNV umgebaut und der motorisierte Individualverkehr nicht massiv zurückgedrängt werden, sind irgendwelche Aufkleber nichts weiter als die weiße Fahne der Kapitulation, die die menschliche Vernunft vor den hochgerüsteten und schwerstens motorisierten Truppen der „Freie-Fahrt-für-freie-Bürger“-Armee schwenkt.
MM/Luciana Samos (Foto: ADFC/Jens Lehmkühler)
Schiffe brauchen einen Lotsen. Ist es zumutbar, dass Lastwagen einen Einweiser an Bord haben müssen um den heutigen Stadtverkehr bewältigen zu können? Oder muss es verpflichtend vorgeschrieben werden, einen Passanten zu bitten den Fahrweg kurzzeitig für Radler und Fußgänger zu sperren? Das dauert natürlich. Anhalten, Helfer suchen, weiterfahren.
Die nachdrängenden Autos würden darauf mit einem wütenden Hupkonzert zur Weiterfahrt nötigen.
Nur, was ist dieser Gesellschaft ein Menschenleben wert. Welches Recht auf finanziellen Ausgleich kann ein schwer verletztes Unfallopfer geltend machen, ohne oft jahrzehntelangen juristischen und bürokratischen Aufwand treiben zu müssen, etwa wenn es um Heilbehandlung oder Hilfsmittel geht. Da fehlt es an Empathie, Opferschutz, staatlichen Mediatoren oder Unterstützung von Amts wegen. Unterstützung gegen die Interessen der Transportlobby und Versicherungen, für einen wirkungsvollen Schadenausgleich ohne finanzielle Eigenbeteiligung der Geschädigten.
Es wäre schon ein Erfolg, wenn sich jene Ärmelschonerträger in den Fachabteilungen der Landratsämter für empathisches Handeln sensibilisieren ließen. Alle, die bisher geschützt durch ihr Amt, bis zur Pensionierung, zynische Erlasse ausfertigen, die oft damit enden, dass es irgendein Kommentar der Straßenverkehrsordnung erlaubt, das Recht auf körperliche Unversehrtheit außer Kraft zu setzen, um den fließenden Verkehr nicht zu behindern.
Ich möchte hier nicht behaupten, dass in allen Amtsstuben eine Atmosphäre der Sensationslüsternheit vorherrscht, wenn es wieder mal einen tragischen Unfall gab und man penibel recherchierend ermittelt, ob der Unfall Zentimetergenau und unter gleichen Umständen geschah wie vorangegangene Unfälle, um dann erleichtert festzustellen, das aktuelle Geschehen lag fünfzehn Meter weiter entfernt, ein Unfall verhütendes Einschreiten ist unnötig.
Mal sehen, was die „Rebellion gegen das Aussterben“ (Extinction Rebellion) am kommenden Montag in Berlin erreicht. Über 6.000 Menschen blockierten im November 2018 Brücken in London, im April 2019 für elf Tage zentrale Plätze im Stadtzentrum. Mit der Zunahme des Radverkehrs, auch durch Lastenräder wird der Handlungsdruck in den Verwaltungen größer. Meine Anregung an den Amtsschimmel: Bleistifte spitzen, ran an die Arbeit und Menschen schützen.
Ein Aufkleber als Legitimation fürs Totfahren? Läuft dann in etwa so:
„Ja, ich habe den Radfahrer nicht gesehen und ja, ich habe ihn totgefahren. Aber ich habe doch extra einen Aufkleber auf meinem Stadtpanzer. Und da steht doch drauf, dass ich zu inkompetent bin ein motorisiertes Fahrzeug zu steuern. Hätte der Radfahrer mal besser aufpassen sollen. Außerdem komme ich jetzt auch noch zu spät zu meinem Pilates-Kurs und wer bezahlt mir jetzt überhaupt die Reinigung?“
(Hier soll sich bitte niemand angegriffen fühlen, der einen Pilates-Kurs besucht. Es sei denn derjenige fährt mit seinem SUV zu selbigem. Dann fühlen Sie sich bitte angegriffen.)
Hier eine fantasievolle, kindgerechte Aktion zum Schutz von Radelnden vor rücksichtslosen Automobilisten (wenn’s denn keine Zeitungsente ist):
Der Pollerbär