Ein anarchistisches Wochenende in Singen

„Anarchist“ ist seit dem 19. Jahrhundert ein beliebtes Schimpfwort, mit dem sich die Bürgerlichen verlässlich aus der Ruhe bringen lassen. Damit wurde das Bild eines bärtigen Bombenwerfers beschworen, der am Sonntag ein Kaffeehaus samt seiner InsassInnen in die Luft bombt. Doch das ist reine Propaganda: In Wirklichkeit handelt es sich beim Anarchismus um eine bis heute lebendige soziale und politische Bewegung, die sich an diesem Wochenende zwei Tage lang in der Singener Teestube präsentiert.

Auch um die Frage, was „der“ Anarchismus überhaupt ist, soll es am Wochenende in der Teestube gehen. Ein historischer Abriss ist schnell gegeben, erklärt aber beileibe nicht alles. Personell und gedanklich liefen die Fäden des Anarchismus parallel zu denen des Kommunismus: Nach der Revolution 1789 und auch nach der Widererrichtung der Bourbonen-Herrschaft in Frankreich gärte es in Europa weiter. Die französischen Revolutionäre hatten sich anfangs als wahrhaft weltbewegende Parole „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ auf die Fahnen geschrieben, daraus dann aber keine dauerhaften Konsequenzen gezogen und waren am Ende vor dem Privateigentum eingeknickt, zumal sie ja meist selbst zu den Bessergestellten gehörten.

Doch das Thema der Gleichheit aller Menschen war auf dem Tisch, und mit den bürgerlichen Revolutionsversuchen von 1830 und 1848 sollte zugleich die europäische Arbeiterbewegung entstehen und dieses Thema aufnehmen.

Zwei verzankte Brüder

Natürlich sind Marx und Engels prägende Vordenker und Organisatoren dieser Entwicklung, aber die europäische revolutionäre Szene um die Mitte des 19. Jahrhunderts war wesentlich vielfältiger, als das aus heutiger Sicht erscheinen mag. Männer wie Proudhon („Eigentum ist Diebstahl“) und vor allem Bakunin formulierten ebenfalls ein Ideal einer klassenlosen Gesellschaft und fanden eine breite Anhängerschaft. Ihr „Anarchismus“ genannter Ansatz setzte darauf, aus der Revolution (die damals ständig vor sich hinloderte) direkt in den klassenlosen Gesellschaftszustand – eine Art nationaler und schließlich globaler Genossenschaft – überzugehen, der Marxisten erst nach einem längeren gesellschaftlichen Umbruch erreichbar schien.

Das Ziel beider Bewegungen war identisch, die Vorstellung vom Weg dorthin aber verschieden. Pauschal gesagt wollten marxistisch orientierte Bewegungen den Staat übernehmen und umformen, während anarchistische Bewegungen ihn umgehend zu zerschlagen oder aufzulösen trachteten. Man vergisst heute, dass Anarchisten tatsächlich lange vor allem in den romanischen Ländern (und vor allem durch Auswanderer vermittelt auch in der Neuen Welt) Einfluss auf die revolutionäre Arbeiterbewegung hatten, die von der Ersten Internationalen bis hin zum Kampf gegen Franco im Spanischen Bürgerkrieg reichten. Es gab starke anarchistische Gewerkschaften, und auch heute noch sind Anarchisten in vielen Ländern der Welt politisch aktiv.

Das Lügenbild vom bärtigen Bombenleger wurde zu dieser Zeit von der bürgerlichen Kampfpresse und der zaristischen Geheimpolizei unter die Leute gebracht, und auch die BRD-Institutionen griffen auf die Gleichung „Terrorist = Anarchist“ noch zu RAF-Zeiten genüsslich zurück.

So weit ein knapper Blick in die Vergangenheit.

Anarchismus heute

In der Teestube aber geht es am Wochenende um den Blick nach vorn. Was denken und tun AnarchistInnen heute, welche Perspektiven entwickeln sie? Darauf wird es am Samstag und Sonntag in Singen (vermutlich viel mehr als eine) Antwort geben, wie die Einladung der Teestube ahnen lässt:

Das erste anarchistische Wochenende in der Teestube Singen findet statt!
Es erwarten Euch spannende Vorträge, Workshops sowie viele weitere Infos rund um das Thema Anarchie.
Ein Auszug aus dem Programm:
Vortrag „Was ist eigentlich Anarchie und was wollen die Anarchist*innen?“ (Anarchistische Gruppe Freiburg)
Vortrag „Anarchistische Revolutionstheorien“ (Kollektiv.26 – Autonome Gruppe Ulm)
Bericht über ein Hausprojekt
Workshop „Anarchismus im Alltag“
Workshop „Anarchafeminismus“
Vortrag zum Frauenstreik (Anarchistische Gruppe Bern)
Da es auch für alle Essen geben wird, würden wir uns über Teilnahmerückmeldungen sehr freuen, um besser kalkulieren zu können. Schickt uns dafür einfach direkt eine Nachricht.
Wer einen Schlafplatz benötigt, ist herzlich eingeladen, sich frühzeitig bei uns zu melden.
Wir sind noch auf der Suche nach Übernachtungsmöglichkeiten für unsere Gäste! Wer also etwas anbieten kann, darf sich sehr gerne melden: teestube@protonmail.com


Anarchistisches Wochenende
Samstag, 19.10., ab 13.00 Uhr, Sonntag, 20.10., ab 12.00 Uhr
Teestube, Hegaustraße 12, 78224 Singen

Text: MM/Luciana Samos (Bild: Teestube Singen)