Schweiz: viel grüner, weiblicher und etwas linker

Die Klimaveränderung hat die politische Schweiz mit Wucht getroffen – sogar Konstanz‘ Nachbarkanton Thurgau. Bei den nationalen Wahlen haben die Grünen am Wochenende einen in dieser Deutlichkeit überraschenden Erdrutschsieg errungen – und im Thurgau der FDP den Nationalratssitz abgenommen. Gleichzeitig haben auch die Frauen ihre Parlamentsvertretung um 10 auf 42 Prozent ausgebaut.

Die SchweizerInnen – bzw. etwas mehr als 45 Prozent davon – haben am Wochenende die beiden Kammern ihres nationalen Parlamentes – National- und Ständerat – für die Legislaturperiode 2020 bis 2024 gewählt. Zu vergeben waren 200 Nationalrats- und 46 Ständeratssitze. Erwartet wurden Steigerungen bei der Grünen Partei (GP) und den Grünliberalen (GLP – eine Art FDP mit Umweltbewusstsein) sowie moderate Verluste bei der rechten Schweizerischen Volkspartei (SVP), leichtere Rückgänge für die Freisinnigen (FDP) sowie die Christdemokraten (CVP).

Grüner Erdrutsch

Tatsächlich fielen sowohl die Zuwächse für GP (+17) und GLP (+9), als auch der Absturz für die SVP (-11) viel stärker aus als erwartet. Für Schweizer Verhältnisse ein politischer Erdrutsch. Leicht verloren haben auch Sozialdemokraten (SPS) (-5), die damit das schlechteste Ergebnis seit 100 Jahren einfuhren, die FDP (-4), CVP (-3) und Bürgerlich-demokratische Partei (BDP) (-4).

Seit 1919 hat nie eine Partei ihre Sitzzahl derart steigern können wie die GP, die von 11 auf 28 Sitze zulegte. Sie liegt damit nur noch einen Sitz hinter der FDP und ist damit neuerdings die viertstärkste Partei im Nationalrat – hinter SVP (53), SP (39) und FDP (29). Sie hat die CVP überholt, die nun nur noch 25 Sitze hält. Nimmt man zur GP die 16 Sitze der GLP dazu, ist der Wahl-Erdrutsch eindeutig grün.

Das entfacht die Diskussion um die Zusammensetzung der siebenköpfigen Bundesregierung. Diese besteht – nach informeller Absprache – aus Mitgliedern der vier wählerstärksten Parteien, wobei die SVP, SP und FDP je zwei Sitze halten, die CVP einen. Nach den neuen Wahlergebnissen ist die FDP deutlich übervertreten – weshalb jetzt darüber diskutiert wird, ob die Grünen (vor allem zusammen mit der GLP) nicht Anspruch auf einen der FDP-Sitze haben.

Klimawandel bewegt

Der SVP wiederum dürfte dieses Mal ihre eigene Politik auf die Füße gefallen sein. Nicht nur, dass sie auf ihre ewig gleichen Themen setzte – böse Ausländer und böse EU – sie wollte auch nichts von einer menschlichen Mitwirkung am Klimawandel wissen. Das kam offensichtlich schlecht an – die SchweizerInnen bewegt der Klimawandel klar mehr als die SVP dachte.

Da die GP hinsichtlich Sozial- und Wirtschaftspolitik oft ähnliche Ziele vertritt wie die SP, kann man von einem Linksrutsch in der Schweizer Politik sprechen – obwohl die SP Sitze verlor. Da linke und grüne WählerInnen auch öfter Frauen wählen als konservative Parteien, wird das Parlament auch weiblicher – fast die Hälfte der Abgeordneten sind jetzt Frauen.

Thurgau: Grüne schnappen der FDP den Sitz weg

Eher ungewöhnlich am Wahlausgang ist, dass er sich auch im politisch konservativen Thurgau deutlich niederschlägt. Der Thurgau ist traditionell SVP-Land – bei den Wahlen 2015 kam die rechte Partei auf fast 40 Prozent der Stimmen. Sie hält deshalb auch drei der sechs Thurgauer Nationalratssitze. Die anderen drei teilten sich bisher SP, CVP und FDP. Die SVP verlor zwar dieses Mal 3,2 Prozent der Stimmen, hielt aber ihre Sitzzahl.

Verliererin ist die FDP. Ihr Sitz ging an die Grünen, die – dank Proporzglück – nach 24 Jahren wieder einen Vertreter nach Bern schicken können. Dieser sechste Thurgauer Nationalratssitz ist so etwas wie ein Wanderpokal: er landet mal bei der FDP, mal bei der SVP, mal bei der SP, der GLP oder den Grünen. Dieses Mal jubeln die Grünen und die FDP leckt ihre Wunden.

Diese wiederum hat sie sich nicht nur durch mangelnde Umweltpolitik eingehandelt, sondern wohl auch durch einen nicht sonderlich bekannten und beliebten Kandidaten.
Gewerbeverbands-Präsident Hansjörg Brunner hatte vor vier Jahren erfolglos kandidiert. Er kam nur in den Nationalrat, weil der damals Gewählte nach nicht einmal zwei Jahren zurücktrat. In den folgenden beiden Jahren fiel der nachgerückte Brunner höchstens dadurch auf, dass er nicht auffiel.

Ungewöhnlich für SVP-Verhältnisse: zwei ihrer drei Thurgauer Sitze werden von Frauen gehalten (beide weit rechts politisierend). Zusammen mit der links-liberalen SP-Vertreterin, weist der Thurgau damit eine 50-prozentige Frauenquote auf.

Gewerbeverband und Gewerkschaften verlieren

FDP-Mann Brunner wiederum ereilte mit der Abwahl das gleiche Schicksal wie den Präsidenten und den Geschäftsführer des (rechts-bürgerlichen) nationalen Gewerbeverbandes (SVP und FDP), die beide ihre Wiederwahl verpassten. Abgewählt wurden aber auch zwei bekannte Westschweizer Gewerkschafter der SP. Und in St. Gallen muss der ehemalige Schweizer Gewerkschaftspräsident Paul Rechsteiner (SP) in den zweiten Wahlgang, um seinen Ständeratssitz zu halten.

Das Schicksal des 2. Wahlgangs teilt er aber mit 21 weiteren StänderatsbewerberInnen. Von 46 Sitzen sind deshalb 22 noch nicht vergeben. Weshalb man zur Parteiengewichtung in der Kantonsvertretung noch wenig sagen kann. Klar ist aber, dass auch hier die Grünen dazu gewinnen – bisher hatten sie nur einen Vertreter in der „kleinen Kammer“. Aus dem Kanton Glarus kommt ein weiterer dazu: Er kippte den bisherigen SVP-Vertreter aus dem Ständerat – und bekommt mindestens aus dem Kanton Neuenburg eine grüne Kollegin. Im Thurgau dagegen blieb hier die Parteienverteilung wie gehabt: CVP-Frau Brigitte Häberli fährt künftig einfach mit SVP-Mann Jakob Stark statt wie bisher mit Roland Eberle zu den Ständeratssitzungen. Mit der Wahl Starks ist auch klar, dass auf den Thurgau eine Regierungsrats-Ersatzwahl zukommt. Stark war bisher Finanz- und Sozialdirektor (Minister) des Thurgaus.

Lieselotte Schiesser