Schröders Sozialpolitik überwinden

Das Bundesverfassungsgericht hatte sich sehr lange Zeit gelassen, um zu einem Urteil zu kommen. Nun hat es in einer Grundsatzentscheidung festgestellt, dass Sanktionen für „Hartz IV“-Empfänger zumindest dann verfassungswidrig sind, wenn sie die Leistungen um 60 Prozent oder mehr kürzen. Zwar sind mit dieser Feststellung schwere Eingriffe in den Bezug der Hilfestellung nicht mehr möglich. Dennoch lehnte der Senat die Praxis der Bestrafung nicht generell ab.

Entscheidung aus Karlsruhe unzureichend

Wenngleich zeitlich starre und in der Höhe unverhältnismäßige Leistungsminderungen rechtswidrig sind, bleibt das seit Einführung der „Hartz“-Gesetze umstrittene „Fördern und Fordern“ aufrecht. Besonders für die unter 25-Jährigen, die bislang mit einer noch strafferen Sanktionierung rechnen mussten, sobald sie die Mitwirkungspflicht gegenüber dem „Jobcenter“ vernachlässigten, bedarf es schnell einer gesetzlichen Gleichbehandlung. Auch sie müssen vor Leistungseinschränkungen geschützt werden, die sogar die Unterkunftskosten und die Zahlungen an die Krankenkasse tangieren können.

Die Bürger, die auf Unterstützung der Gesellschaft angewiesen sind, müssen sich darauf verlassen können, finanziell derart stabil abgesichert zu sein, dass ihnen eine Teilhabe am Leben möglich ist. Dass das Existenzminimum im Zweifel auch künftig durch Sanktionen der Leistungserbringer unterschritten werden darf, macht die Entscheidung der Verfassungshüter schlichtweg unzureichend. Immerhin waren es die Karlsruher Richter, die immer wieder eine Untergrenze für ein soziokulturelles Dasein definiert haben.

Urteil fehlt es an Klarheit

Insofern wäre es folgerichtig gewesen, Kürzungen vom ohnehin niedrigen „Hartz IV“-Regelsatz prinzipiell zu verbieten. Denn die Mindestabsicherung muss im Sinne des Grundgesetzes jedem Menschen bedingungslos zustehen, weil die Würde jedes Einzelnen „unantastbar“ ist. Eine derartige Klarheit hätte ich mir von unserem Höchstgericht gewünscht, damit die Politik gezwungen gewesen wäre, das System von „Hartz IV“ vollends zu überwinden.

Die Korrekturen, die der Gesetzgeber am „Ist-Zustand“ nun vornehmen muss, sind lediglich kosmetischer Art. Man kann durchaus gespannt sein, inwieweit der Bundesarbeitsminister die ziemlich eingeengte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dafür nutzt, Fehler aus der Kanzlerära Gerhard Schröders rückgängig zu machen. Die Zeiten, in denen Sozialleistungsempfänger davor in Sorge sein mussten, das Dach über dem Kopf oder den Gesundheitsschutz zu verlieren, sind jetzt hoffentlich vorbei.

Ansporn zur Überwindung der „Hartz“-Gesetze

Statt diejenigen auch noch unter Druck zu setzen, die ohnehin in prekären Lebenslagen verweilen, bedarf es deutlich mehr Beratungsangebote und des Rückhalts der zuständigen Behörden, den Betroffenen unter die Arme zu greifen und sie mit der Suche nach neuer Arbeit nicht alleine stehenzulassen. Um wieder ins Berufsleben zurückkehren zu können, benötigen Erwerbslose mehr Freiheit. Gängelung und Abhängigkeit sind keine gute Ausgangssituation, wenn wir nach einem anderen Job Ausschau halten. Eine Grundsicherung, für die sich keiner rechtfertigen muss, lässt den Leistungsempfängern mehr Potenzial, sich ohne Zwang beruflich entfalten zu können.

Es muss im Sinne der Regierungskoalition sein, den Entschluss des Verfassungsgerichts als Ansporn für ein komplettes Umdenken in der Sozialpolitik zu verstehen, die ohne Strafen auskommt, gleichzeitig aber das Prinzip des Anreizes in den Mittelpunkt stellt. Niemand verlangt, arbeitslosen Menschen ein Leben in der Hängematte zu finanzieren. Es geht ausschließlich darum, jedem von uns Sicherheit zu geben, wenn wir auf die Solidarität Anderer angewiesen sind. Das spart Bürokratie, schont die Nerven und verhindert eine Endlosspirale an Demütigung für jene, die sich ihre Not nicht selbstständig ausgesucht haben. Übrigens: Dass die Zahl der Arbeitnehmer im Niedriglohnbereich seit der Einführung von „Hartz IV“ gewachsen ist, die Leiharbeit floriert und das Lohnniveau immer weiter absinkt – all das ist Grund genug, den angeblichen Erfolg dieser Gesetzgebung endgültig in Frage zu stellen.

Dennis Riehle