Lektionen in Demut
Vor einem Jahr ist der Fälscher Claas Relotius aufgeflogen. Was hat der Journalismus aus dem Fall gelernt? Und was muss die Branche noch lernen? Netzwerk Recherche und Akademie Tutzing haben bei einer Tagung nach Antworten gesucht. Kompliziertes komplex lassen, lautete eine, wie Michael Lünstroth zu berichten weiß.
Mal angenommen, Claas Relotius wäre noch praktizierender Journalist, dann wäre das hier wohl eine Story nach seinem Geschmack: Eine Institution, ach was, eine ganze Branche liegt am Boden. Ein Schurke hat sie in den Abgrund gerissen. Jetzt braucht sie einen Helden, der sie wieder aufrichtet. Helden finden kann Relotius: Mit viel Erfindungsgeist würde er den tapfersten Helden mit der größtmöglichen Fallhöhe durch die kitschigsten Szenen führen. Und von irgendwoher würde man leise die ersten Noten von Gloria Gaynors „I will survive“ hören.
Nun, die Geschichte meinte es anders. Heldenzeiten sind vorbei im Journalismus. Relotius war selbst der Schurke, der das System zum Kollabieren brachte. Vor rund einem Jahr hatte der „Spiegel“ die Fälschungen seines langjährigen Reporters Claas Relotius öffentlich gemacht. Nicht nur der „Spiegel“ war betroffen: Der mit vielen Auszeichnungen bedachte Relotius hatte auch für andere renommierte Publikationen wie „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“, „SZ-Magazin“, „Zeit“, „Cicero“ und „Neue Zürcher Zeitung“ Texte geschrieben, die in Teilen oder komplett erfunden waren.
Seit jenem Mittwoch im Dezember 2018 pendelt die Branche zwischen Schockstarre und Aktionismus. Es folgten vor allem technische Reaktionen: Die Faktenchecks in den Redaktionen wurden verschärft. Der „Spiegel“ schreibt ein 75-seitiges Handbuch für seine AutorInnen, in dem erklärt werden soll, was geht und was nicht. „Die Zeit“ erarbeitet ein ebensolches Papier für ihre Redaktion, und die „Süddeutsche Zeitung“ entwickelt eine Datenbank, in der künftig sämtliches Recherchematerial archiviert werden und so schneller prüfbar sein soll.
Dass das allein nicht reicht, machte jetzt auch eine Tagung von Netzwerk Recherche und der Akademie für Politische Bildung (APB) Tutzing am Starnberger See deutlich. Unter dem Titel „Jetzt mal ehrlich! Was Journalismus aus den Täuschungsfällen lernen muss“ diskutierten rund 40 JournalistInnen zwei Tage lang über die Folgen des Relotius-Skandals. Die beiden meist genannten Begriffe waren: Demut und Transparenz. Demut der Reporter gegenüber Sprache, Thema und den Menschen, über die sie berichten. Und Transparenz gegenüber den LeserInnen, damit diese die journalistischen Texte besser einschätzen können.
Schludrigkeit oder Schrott?
„Die journalistische Kultur muss sich ändern“, meinte etwa der Medienjournalist Stefan Niggemeier. Es brauche mehr Genauigkeit statt Schönheit, mehr Transparenz statt Perfektion, mehr Widersprüchlichkeit statt Eindeutigkeit in journalistischen Texten. „Wir müssen zulassen, dass die Dinge komplizierter sind als wir uns das am Schreibtisch vielleicht ausdenken“, so Niggemeier. Das klang erstmal gut. Aber wie setzt man das durch? Das Tagungsprogramm versuchte, verschiedene Ansatzpunkte zu benennen: Bei den Fragen zum Beispiel, wie viel Erzählen im Journalismus noch erlaubt ist, wie Ausbildungsstätten auf die jüngsten Skandale reagieren sollten und wo individuelles Versagen durch Fehler im System begünstigt wird.
Die Antworten auf derlei Fragen wurden nicht eben dadurch erleichtert, dass die Konferenz auch unterschiedliche Wahrnehmungen zur Lage des Journalismus nach Relotius offenbarte. Während Stefan Weigel, Nachrichtenchef und Mitglied der Relotius-Aufklärungskommission beim „Spiegel“, sagte, für ihn sei es erschütternd zu sehen, „wie viel Schrott es gibt“, warnte Stefan Willeke, Chefreporter der „Zeit“ davor, „jetzt alle Leute zu potenziellen Fälschern zu erklären“. Aus seiner Sicht passierten die meisten Fehler nicht aus böser Absicht, sondern „aus Schludrigkeit, weil man nicht genau hingehört oder nicht genug nachgefragt hat“. „Spiegel“-Mann Weigel: „Jeder Redakteur kann von einem Kollegen erzählen, der nicht immer ganz korrekt arbeitet. Das ist das zentrale Problem des Journalismus, nicht der bewusste Fälscher.“ Willeke räumte ein, dass im neuen „Zeit“-Regelwerk Dinge erklärt werden, die für ihn eigentlich selbstverständlich seien: „Ich hätte nicht geglaubt, dass man das nochmal explizit formulieren muss.“
Weitgehende Einigkeit herrschte hingegen darüber, dass das Erzählen im Journalismus nicht gestorben sei. Zumindest dann nicht, wenn man auch wirklich etwas zu erzählen hat. Dramaturgisch gestaltete Realität ist also okay. So lange man bei den Fakten bleibt. Nicht okay: mehrere reale Figuren zu einem Charakter seiner Geschichte zu verschmelzen oder Ereignisse, die an verschiedenen Tagen stattgefunden haben, im Text auf einen Tag zu konzentrieren. Aber das war auch schon vor Relotius so.
Texte werden gelesen, Filme werden geschaut, wenn sie dramaturgisch aufgebaut sind, argumentierten mehrere Konferenzteilnehmer. „Wenn ich einen Film mache wie jetzt gerade über die Große Koalition („Die Notregierung“, in der ARD-Mediathek), dann haben wir um die 100 Stunden Material. Wir sind gezwungen zur Verdichtung“, sagte beispielsweise der Filmemacher Stephan Lamby.
Durch Transparenz zu mehr Wertschätzung
Es müsse für TV-Journalismus viel mehr darum gehen, aus den von linearen Sendeschemata vorgegebenen Formaten auszubrechen: „Neues ausprobieren, mehr Grau-Schattierungen wagen. Schurken sind im Leben nie nur Schurken, Sieger sind nie nur Sieger“, so Lamby. Und Katrin Langhans, Investigativ-Reporterin der „Süddeutschen Zeitung“, ergänzte: „Wir müssen mehr erklären. Zum Beispiel auch die Arbeit, die in einem Text steckt, transparenter machen und Recherchewege offenlegen.“ Das führe, so Langhans, am Ende auch dazu, dass journalistische Arbeit besser wertgeschätzt werde.
Eine Sonderrolle in der ganzen Debatte kommt den Ausbildungsstätten des Journalismus zu. Erst recht nachdem ihnen in den vergangenen Monaten ja auch der Vorwurf gemacht wurde, das Ideal einer perfekten Reportage zu lehren, das erst zu solchen Auswüchsen wie bei Relotius führen könne. Diesen Schuh wollten sich Henriette Löwisch, Leiterin der Deutschen Journalistenschule (DJS) München und Isolde Fugunt, Studienleiterin am Institut zur Förderung des publizistischen Nachwuchses (IfP), aber nicht anziehen.
Ethische Fragen würden an ihren Häusern sehr wohl eine Rolle spielen. „Bevor unsere Schülerinnen und Schüler in ihr erstes Praktikum gehen, spielen wir zum Beispiel verschiedene Szenarien in Rollenspielen durch, in denen sie mit ethischen Fragen konfrontiert werden“, sagte die DJS-Chefin. Auch einzelne Unterrichtsinhalte hätten sie nach dem Relotius-Skandal angepasst: „Im Medienrechtsseminar werden Urheberrechte stärker thematisiert“, so Löwisch. Ähnlich argumentierte Fugunt: Am IfP versuche man, dem Zweifel Raum zu geben in der Ausbildung. „Was wir vielleicht besser machen müssen: Wir haben zu sehr darauf geachtet, ob etwas schön geschrieben ist, aber nicht, ob es auch stimmt“, so die IfP-Studienleiterin.
Dazu passt, dass die für eine Bewerbung bei DJS und IfP notwendigen Übungsreportagen nicht auf Wahrheitsgehalt geprüft werden. Faktenchecks sollen in der Ausbildung künftig eine größere Rolle spielen: „Wir wollen unsere Leute ermutigen, auch mal Bedenkenträger zu sein“, sagte Fugunt.
Vom Lokaljournalismus lernen – und Frauen vor!
An dieser Stelle hätte man gerne jemanden gehört, der für die große Mehrheit des publizistischen Nachwuchses hätte sprechen können. Der wird nämlich nicht an den Journalistenschulen, sondern in Regional- oder Lokalzeitungen quer durchs Land ausgebildet. Überhaupt wäre es eine gute Idee gewesen, wenn die Veranstalter der Tagung den Lokaljournalismus stärker mitgedacht hätten. Denn: Ein Fall wie der von Claas Relotius wäre im Lokalen vollkommen undenkbar. Wer hier Geschichten oder Personen erfindet, wird am nächsten Tag von einem Leser entlarvt, der seine Region mindestens so gut kennt wie der Reporter.
Aus dieser Konstellation hätten sich spannende Diskurse eröffnen und der bisweilen zum Dünkel neigende überregionale Journalismus hätte etwas vom Lokaljournalismus lernen können. Bei der Gelegenheit hätte man auch mal darüber sprechen können, wie es sein kann, dass selbst renommierte Kollegen großer Zeitungen in der Berichterstattung aus dem Lokalen eher fahrlässig agieren und beispielsweise regelmäßig gegen so grundsätzliche journalistische Regeln verstoßen wie: Alle Seiten eines Konflikts sind zu hören. Aber gut, vielleicht hebt sich das Netzwerk Recherche dies für eine spätere Tagung auf.
Bis es so weit ist, nimmt man sich am besten jemanden wie Bastian Obermayer zum Vorbild. Der Leiter des Ressorts Investigative Recherche bei der „Süddeutschen Zeitung“ erzählte in Tutzing sehr unterhaltsam über seine Enthüllungsarbeit von Panama Papers bis Ibiza-Video. Sein Ansatz dabei ist verblüffend einfach: „Wir setzen uns nie Ziele bei unseren Recherchen. Das würde mir auch ein schlechtes Gefühl machen. Denn wer Ziele im Kopf hat, kann nicht mehr ergebnisoffen recherchieren.“ Obermayers Gespräch mit Christina Elmer, stellvertretende Entwicklungschefin beim „Spiegel“, machte noch etwas anderes Bemerkenswertes dieser Tagung offensichtlich: Fast alle Panels wurden von Journalistinnen moderiert. Das ist im Medienbetrieb ungewöhnlich. Üblicherweise werden solche Diskussionen von Männern moderiert, die sich vor allem selber reden hören wollen. Da hob sich die Runde in Tutzing angenehm ab: Statt eitlem Schwadronieren gab es hier sehr oft präzise Fragen und echtes Interesse am Gegenüber.
Womöglich lag darin auch eine Botschaft, die die Veranstalter vermitteln wollten: Holt mehr Frauen in Führungspositionen, und der Journalismus wird besser und uneitler. Okay, das wäre jetzt ein bisschen zu relotiushaft gedacht. Andererseits: Von Fälscherinnen namens Clara Relotius, Michaela Born oder Tamara Kummer hat man bislang noch nicht gehört. Also: nur Mut, Medienbranche!
Michael Lünstroth (Foto: Pixabay)
Der Text ist zuerst erschienen bei Kontext