„Wind of Change“ wehte bei den Naturschutztagen
„Wind of Change – Zeit zu handeln“ war Motto der Naturschutztage 2020 in Radolfzell. Und ein Luftzug von Aufbruchstimmung war irgendwie wirklich in den Räumen des Milchwerk-Tagungszentrums zu spüren. Mit 1.500 TeilnehmerInnen war diese 44. Fortbildungs- und Informationsveranstaltung von BUND und NABU auch die bestbesuchte – und wohl die seit Langem politischste. NaturschützerInnen können und machen also durchaus mehr als etwa nur Frösche zählen und Vogelhäuschen aufhängen.
Ökologisch und sozial
Mehr ökologische Nachhaltigkeit gekoppelt mit mehr sozialer Gerechtigkeit, mehr Mut und mehr gesellschaftlicher Zusammenhalt, kein Weiter-So, denn auch die vielzitierten „kleinen Schritte vieler kleiner Menschen“ allein können nicht mehr rechtzeitig wirken, um unsere Existenzgrundlagen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erhalten. Ebenso wenig taugen gute Vorsätze zu Jahresanfang, laue Versprechungen auf unverbindliche „Anreize“ und Soll-Formulierungen in Gesetzen. Die Klima- und Biodiversitätskrise sind zwei Seiten ein- und derselben Medaille, von uns Menschen verursacht. Damit die heutige Generation die negativen Folgen dieser Krisen noch abwenden kann, sind verbindliche Vorgaben für alle und jeden sowie entsprechend fixierte Gesetze unerlässlich, so die einstimmige Quintessenz aller hochinteressanten Vorträge kompetenter ReferentInnen rund um die Themen Klimaschutz, Artenvielfalt, Landwirtschaft und nachhaltiger Konsum. Dazu ein Überblick zentraler Aussagen, die sich als roter Faden durch die Tagung zogen. Informationen über die Referenten, weiterführende Links und die wichtigsten Folien zu den Vorträgen sind unter www.naturschutztage.de online.
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Radikaler werden
„Einen radikalen Politikwechsel mit einem klaren Verbot ökologisch unsinniger Einweg-Plastikverpackungen sowie -produkte“ statt „freiwilliger Selbstverpflichtungen der Wirtschaft“ sowie „eine radikale Änderung unseres Umgangs mit Ressourcen“, also Abfallvermeidung und Mehrwegsysteme statt Greenwashing mit Pseudorecycling forderte Jürgen Resch, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe e.V. (DUH): „Greta und die vielen Jugendlichen haben vielleicht auch wieder ein bisschen mehr Beinfreiheit für unsere Umweltverbände gebracht“, denn auch diese hätten sich ein bisschen komfortabel eingerichtet und müssten wieder etwas radikaler denken, so die Selbstkritik ausgerechnet eines der aktivsten und von Teilen der Politik und Wirtschaft bestgehassten Umweltaktivisten.
Verzicht üben
Welch unsinnige Trends und Hypes es bei Ernährung und Lebensmitteln (wie „Superfood“, ein von Marketingstrategen ersonnener Begriff) gibt und was wir Menschen der westlichen Welt alles haben, das wir nicht brauchen, führte die Haushalts- und Ernährungswissenschaftlerin Prof. Dr. Carola Strassner von der FH Münster vor Augen: Der „Butterstick“ oder das wie ein Gepäck-Trolley ziehbare „Melonenkühlgerät“ waren zumindest dem doch eher naturverbundenen Plenum mehrheitlich wohl noch nicht bekannt, denn sie sorgten für erstauntes Gelächter. Mode, Essen, Design, Reisen und Fitness seien in dieser Reihenfolge die meisten Posts auf Instagram. Mehr Suffizienz aber bedeute weniger produzieren und konsumieren, weniger Nachfrage nach ressourcenintensiven Gütern und Dienstleistungen, was aber nicht gleich weniger, sondern eigentlich sogar mehr Lebensqualität bedeuten könne. Eine Transformation der herrschenden Systeme sieht auch sie als den einzigen Ausweg aus den Krisen.
Mit „Bits und Bäumen“ und der Frage „Wie kann eine digitalisierte Gesellschaft aussehen, in der die Natur erhalten bleibt, Menschenrechte geachtet und Wohlstand gerecht verteilt werden?“, setzte sich Vivian Frick in ihrem Referat auseinander. Wie die aktuell großen Widersprüche zwischen den Herausforderungen der rasanten digitalen Transformation – geprägt von massiv gestiegenem Ressourcen- und Energieverbrauch, Monopolisierung und ständig reduziertem Datenschutz auf der einen Seite und deren Propagierung als Lösungsstrategie bei der Energie- und Mobilitätswende auf der anderen – zu lösen sein könnten, darüber forscht die Sozial- und Umweltpsychologin. Ein erster für fast jeden realisierbarer Schritt wäre eine deutliche Zurückhaltung auch bei der Nutzung von Internet und Smartphones: Nur so viel wie unbedingt nötig (und das ist leider schon recht viel) und so wenig wie möglich, denn das Internet (wäre es ein Land) liegt beim Energieverbrauch inzwischen an dritter Stelle nach China und den USA.
Für eine Agrarwende kämpfen
Den Zusammenhang zwischen weltweitem Hunger und den bestehenden Agrarstrukturen beleuchtete mit aktuellen Zahlen Francisco Mari, Referent für Welternährung, Agrarhandel und Meerespolitik bei der evangelischen Hilfsorganisation „Brot für die Welt“. Wie die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU mit ihren Flächenprämien, Großbetrieben und ihrer Agrarindustrie sowie die zahlreichen Freihandelsverträge die weltweiten Agrarmärkte und damit Preise, Produktion, Einkommen und Ernährung in den Ländern des Südens zu deren Nachteil beeinflussen, ist Dauerthema bei den Naturschutztagen. 2020 allerdings wird ein Jahr wichtiger Entscheidungen: Die EU entscheidet über die Neuverteilung der Agrarfördergelder und das Mercusor-Abkommen steht womöglich vor seiner Verabschiedung.
„Essen ist politisch“ hieß deshalb auch eine Fotoaktion mit dem Aufruf zur Teilnahme an der mittlerweile zum zehnten Mal stattfindenden „Wir haben es satt“-Demo am 18. Januar in Berlin und in Tübingen. „Wir brauchen eine Agrarpolitik, die Landwirtschaft, Tierschutz, Natur- und Klimaschutz zusammenbringt“, so die Forderung von BUND und NABU. Öfter und mehr ökologisch erzeugte Lebensmittel aus der Region kaufen, ist ihr Aufruf an alle, aber auch das Land müsse mit gutem Beispiel vorangehen: Bis 2030 sollten im Bereich der Außer-Haus-Verpflegung (Kantinen) 60 Prozent der Lebensmittel „bio“ sein und aus Baden-Württemberg stammen.
Graue Zellen bemühen
Mit den richtigen Handelsstrukturen und bewusstem Verbraucherverhalten ließe sich auch eine vielfältige Landwirtschaft fördern, so Sascha Damaschun, Geschäftsführer der „BODAN Großhandel für Naturkost GmbH“ in Überlingen. Der Handel agiere nämlich auch bei Bioprodukten immer noch sehr konventionell: Ein fairer Preis für die ErzeugerInnen von ökologisch angebauten Lebensmitteln müsse sich nicht überproportional an der Ladenkasse auswirken. Wenn der Bauer 10 Cent mehr für die Milch bekomme, könne es auch bei einem Aufpreis von 10 Cent an der Ladenkasse bleiben. Für z.B. 30 Cent Aufpreis – so gemäß einem üblichen Kalkulationsprogramm – gibt es für ihn keinen Grund, denn der Handelsaufwand für eine Biomilch sei genau derselbe wie für eine konventionelle. So funktioniere Gemeinwohlökonomie. „Die Wirtschaftswissenschaften sind keine Naturwissenschaften, sondern kulturelle Vereinbarungen.“ Und solche könne man auch ändern. „Öko statt Ego“ will Sascha Damaschun und damit „System Change“! Mit Verstand produzieren, handeln und konsumieren.
Damit dies klappen könnte, stellte Ulfried Miller vom BUND-Regionalverband Bodensee-Oberschwaben in einem geradezu entspannend-inspirierenden Vortrag das geistige Potenzmittel dafür direkt aus der Region vor: Walnüsse nämlich eignen sich bestens (u.a. dank Vitamin B6 und Omega-3-Fettsäuren) dazu, unsere grauen Zellen fit zu halten. Deren Sortenvielfalt ist groß (z.B. rund 300 in der Nordschweiz). Allein in Baden-Württemberg gibt es zirka 400.000 Walnussbäume. Meist sind es einzelne Haus- und Hofbäume, selten größere zusammenhängende Bestände. Treibstoff für unseren Bordcomputer liegt also bei vielen im Herbst zuhauf auf dem Boden rum, man braucht ihn nur aufzulesen und zu knacken. Oder aber, was man selbst nicht selbst verzehren kann, regional zu vermarkten. Wie das gehen kann, zeigen erste Erfahrungen und Ergebnisse des AlpBioEco-Projekts. Die Nuss ist nicht nur zum Essen da, auch Schale (z.B. in Putzmitteln oder in Kosmetika statt Mikroplastik-Peeling) und Blätter (als Pflanzenschutzmittel gegen Feuerbrand) können verwendet werden. Über die Kreation weiterer kulinarischer Köstlichkeiten wie Öle, Tees, eingelegte grüne Nüsse, aber auch Walnuss-Flips oder Walnuss-Gin hirnen gerade die Aktiven des oberschwäbischen Walnuss-Projekts. Der Walnussbaum könnte auch ein Gewinner des Klimawandels sein: Mit Trockenheit kommt er gut zurecht, lediglich Spätfröste können eine ganze Jahresernte vernichten. Außerdem vermehrt er sich leicht. Also: Wer immer Platz hat, gern einen Walnussbaum pflanzen: for Future, für die Kinder der Fridays und für Meisen, Rotkelchen, Juchtenkäfer und Stöpselkopfameisen, denen dieser wunderbare Baum Lebensraum bietet!
Was damals war und heute zu verschwinden droht
Mit schönen und zugleich melancholisch stimmenden Bildern zog Ruth Häckh, Schäferin auf der Schwäbischen Alb, ihr Publikum in den Bann. Von den 1950er-Jahren bis 2008 wanderte erst ihr Vater, dann sie selbst mit ihrer Schafherde von der Schwäbischen Alb zur Winterweide auf die Höri. Jetzt komme sie nicht mehr. Grund sei der Strukturwandel in der Landwirtschaft. Wo es früher auf der Höri noch artenreiche Wiesen gegeben habe, stehen heute große Obstplantagen und ausgedehnte Gemüsefelder. Die Wiesen, die die es noch gibt, seien meist intensiv mit Gülle gedüngt, davon fresse kein Schaf auch nur einen Halm! Hinzu kommen zubetonierte Flächen und zersiedelte Landschaft. Es sei nicht mehr möglich gewesen, die Tiere auf dem langen Weg hin und zurück satt zu bekommen. Dass Schäferei so gar nichts mit Romantik zu tun habe, sondern harte Arbeit rund um die Uhr bedeute, bei einem Verdienst unter dem Mindestlohn (50 Cent pro Kilo Wolle decken nicht einmal die Schurkosten, der Preis für Lammfleisch ist so wie vor 20 Jahren, eine Weidetierprämie wird von der Politik abgelehnt, Weideflächen schwinden drastisch) wurde durch ihren reich bebilderten Vortrag sichtbar, hörbar und spürbar. Wie sich ehrliche persönliche Betroffenheit durch Entwicklungen, die man selbst nicht beeinflussen kann, auf ZuhörerInnen übertragen kann, manifestierte sich – ähnlich wie bei den Zukunftssorgen der Fridays for Future – in langem Applaus und in den vielen Fragen, die Ruth Häckh in der Pause gestellt wurden. Ihre Erinnerungen und ihren Alltag als Schäferin hat sie übrigens auch in Buchform festgehalten: „Eine für alle. Mein Leben als Schäferin“.
Wenn es in vielen Ländern der EU und sogar in unserem Musterländle mit der unberührten Wildnis und mit heiler Natur nicht mehr ganz so weit her sein mag, die Touristik-Werbung zeigt uns die Schweiz immer wieder in geradezu paradiesischen Bildern – im Land von Heidi und Geissenpeter muss doch sicher alles im Lot sein … Wer glaubte, dies beim letzten Vortrag der Tagung bestätigt zu bekommen, wurde postwendend desillusioniert. Bei unseren eidgenössischen Nachbarn sieht es ganz und gar nicht rosig aus: 46 Prozent der Tier-, Pflanzen- und Pilzarten seien gefährdet – mehr als in den meisten Ländern Europas! Obstplantagen (auch hier am Schweizer Bodenseeufer) würden „künstlich“, d.h. mit importierten Bienen- und Hummelvölkern bestäubt, da es in dieser Region nicht mehr genügend Insekten und Wildbienen gebe. Seen müssten mit Sauerstoff belüftet werden. So die alarmierenden Nachrichten von Dr. Urs Tester, Biologe bei Pro Natura – als gemeinnütziger Verein ein Pendant zu den deutschen Naturschutzorganisationen, sehr mitgliederstark (über 140.000; zum Vergleich: BUND und NABU in Deutschland haben zusammen rund 200.000), vermögend und größter privater Landeigentümer der Schweiz. Über die Organisation, ihre Ziele, die Projekte – erfolgreiche und gescheitere – informierte er im letzten Vortrag der Tagung. Es sei allerhöchste Zeit zu handeln – auch bei der globalen Biodiversitätskrise, so sein Aufruf, mit dem die diesjährigen Naturschutztage zu Ende gingen.
Botschaft angekommen
Die älteren NaturschützerInnen (und die „Generation 50 plus“ war in der Mehrzahl) erinnerte der Weckruf der „Fridays for Future“ an die Anfänge der Anti-AKW-Bewegung. Die Botschaft ist bei ihnen – anders als bei vielen EntscheidungsträgerInnen in der Politik – angekommen.
Mit 1.500 TeilnehmerInnen sei man auch fast an die Kapazitätsgrenzen gekommen, so Johannes Enssle, Landesvorstand des NABU BW in seiner abschließenden Dankadresse. Bis auf einige wenige waren alle Plätze des großen Saals bei den Vorträgen besetzt, alle 42 Foren und Exkursionen sowie Abendveranstaltungen gut besucht, der Andrang bei den Infoständen groß und die Schlangen an der Essensausgabe lang. Sein Dank ging an den BUND, der die diesjährige Tagung ausrichtete und an all die vielen ehrenamtlichen HelferInnen, die nicht nur an diesen vier Tagen, sondern auch in der Vorbereitung hohen Einsatz brachten, und er lud zur Tagung 2021 ein, die dann im Wechsel wieder der NABU ausrichten wird.
Uta Preimesser (Fotos: Dieter Heise)
Danke für den schönen Überblick über das inspirierende Treffen.
Die Vorträge, soweit sie uns zur Verfügung gestellt werden, werden ab Ende nächster Woche online gestellt unter Nachlese.