Gedanken zum Zaun: Was ich schon immer über IntegraNAtion wissen wollte
Es war einmal ein Lattenzaun, mit Zwischenraum, hindurchzuschaun. (Christian Morgenstern)
Der, die, das Deutsche liebt den Zaun, denke ich, und nicht den Zwischenraum, dachte ich. Bis ich die grenzüberschreitende Sympathie mit dem Zwischenraum des neuen Grenzzauns zwischen Kreuzlingen und Konstanz sah. Eine Sympathie, die es in alle überregionalen Nachrichten gebracht hat, sogar bis in die New York Times.
Eine Sympathie, passend für den Ort, ist es doch unsere gemeinsame Kunstgrenze, einer Stadt in zwei Ländern, hören wir in der Tagesschau von unseren Stadtoberhäuptern. Eine Kunstgrenze mit Kunst und Künstlichkeit und ja, wir Bewohner*innen dieser imaginierten gemeinsamen Stadt empfinden diese Grenze kaum als eine solche zwischen zwei Ländern und zwei verschiedenen Entitäten, der Europäischen Union und der Schweiz. Zumindest ist das so, wenn Menschen mit „richtigen“ Papieren und „richtiger“ Hautfarbe die freie Kunstgrenze als freie Bürger*innen einer gemeinsam gedachten Stadt passieren. Dass das nicht immer so ist, jetzt müssen wir sagen, dass das nicht immer so war, wissen alle Konstanzer*innen und Kreuzlinger*innen mit der nicht „richtigen“ Hautfarbe. Sie kannten Grenzstein und Grenzziehung genau, denn sie kennen die Erfahrung der plötzlich auftauchenden Grenzzöllner*innen, die ihre Legimitation zum Übertritt dieser schönen Grenze überprüften. Ich kannte das nicht, besitze ich doch einen deutschen Pass und ein dazu fast passendes Äußeres. Das ist ein Privileg – und dieses Privileg gibt uns Freiheit, jene Freiheit, die viele Konstanzer*innen und Kreuzlinger*innen durch den neuen Grenzzaun bedroht sehen. Zunächst war es ein kleiner Zaun, jener mit beliebtem Zwischenraum, da standen sie, die sich Liebenden beider Seiten des Zauns, knutschten durch den Zwischenraum, tranken Wein und teilten sich ein gemeinsames Abendessen quer durch den Zaun. Aber in Zeiten von „social distancing“ war das, ob vernünftig oder nicht, zu viel genutzter Zwischenraum. Dann kam der zweite Zaun und mit ihm ein neuer Zwischenraum – ein breiter Streifen Niemandsland. Darin steht ein Strauß Tulpen für eine geliebte Susanne aus Konstanz, kein Zwischenraum mehr für körperliche Nähe, aber Tulpen sind auch schön. Eine herzige Erfahrung für die Bewohner*innen beider Städte, die als eine Stadt gedacht werden soll. Wäre es schließlich nach unseren Stadtoberhäuptern gegangen, hätten wir diesen Zaun nicht, ist er doch ein Resultat der Beschlüsse der jeweiligen Länder.
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Und groß war die Empörung in unsere Gemeinschaft, wissen wir doch alle, dass das Virus den Menschen, den es befällt, weder nach Nationalität noch nach Wohnsitz fragt. Obwohl Zweiteres sehr relevant sein kann.
Dann, am Karfreitag kam der dritte Zaun. Nicht zwischen einer nationalen Grenze, nicht von der Regierung angeordnet. Sondern mitten in unserer deutschen Stadt, rund um die Anschlussunterkunft für Geflüchtete im Atrium. Dort wurde ein Bewohner positiv auf Corona getestet. Was aktuell und mit Blick auf die beengten Wohnverhältnisse des Atriums wenig verwunderlich ist. Die Gemeinde hat sich in Absprache mit dem Gesundheitsamt dafür entschieden, alle 90 Bewohner*innen unter Quarantäne zu stellen, auch das ist ein aktuell üblicher Vorgang. Um diese Quarantäne zu sichern, wurden die Menschen allerdings mit einem polizeilich bewachten Zaun eingezäunt. Bisher eine einzigartige deutsche Einzäunung. Auf Facebook erklärt die Verwaltung, die „Gefahr, dass die Dynamik sonst nicht unter Kontrolle behalten werden kann, erscheint als sehr hoch. Die Verwaltung bittet um Verständnis. Es handelt sich um eine Ausnahmesituation und als eine Maßnahme im Interesse der Gesundheit sowohl der Bewohner des Atriums wie auch der übrigen Bewohner von Konstanz. Der Bauzaun war im Übrigen in Absprache mit dem Gesundheitsamt erstellt worden.“
Von welcher Dynamik die Verwaltung spricht, ist nicht klar, auch ist wohl davon auszugehen, dass weitere Privathäuser, Altenheime oder Kliniken, in denen Menschen in Quarantäne müssen, nicht durch einen bewachten Zaun abgeriegelt werden – da bräuchten wir ja viele Zäune und ganz viel Polizei.
Und da war er wieder, der Streit, der in mir vom Zaun gebrochen wurde: Der, die, das Deutsche liebt den Zaun – und nicht den kreativen Zwischenraum. Im Gedicht von Christian Morgenstern heißt es weiter:
Ein Architekt, der dieses sah,
stand eines Abends plötzlich da –
und nahm den Zwischenraum heraus
und baute draus ein großes Haus.
Der Zaun am Atrium baut kein „großes Haus“, ist keine Metapher für etwas Neues. Er markiert die einen und die anderen Bewohner*innen „unserer“ Stadt, die – offensichtlich – im Zaum gehalten werden müssen. Dieser Zaun verdinglicht Bürger*innen erster, zweiter und dritter Klasse, er ist eine Kapitulation vor jedem Gedanken der Integration, in dem er einen bestimmten, als fremd markierten Teil der Stadtbevölkerung segregiert. Dies in einem Ort, der sich gerne als internationale Stadt bezeichnet. Ungeachtet des Zaunes, dies sei nebenbei bemerkt, sind die Wohn- und Lebensbedingungen im Atrium für eine reiche Stadt in einem reichen Land eine Schande, für die die Bewohner*innen sehr viel Geld zu zahlen haben.
Dieser dritte Zaun in Zeiten von Corona erinnert an einen vierten Zaun, den ganz großen an den außereuropäischen Grenzen. Nicht die zur Schweiz, nein, die Grenzen zum Balkan und zum Süden, die Grenzen zum „anderen“ Europa. Den Zaun mit Stacheldraht und prügelnden europäischen Grenzwächtern, und den unsichtbaren Zaun im Mittelmeer, an dem Europa Frontex dafür bezahlt, Kindern beim Ertrinken zuzusehen. Und mit welchem Ziel – „Zum Schutz der europäischen Lebensweise“? Wie das europäische Ressort für Migration und Asyl von Ursula von der Leyen neulich erst umbenannt wurde.
Ein Ressort, das das Recht auf Asyl schützen und das Elend von Menschen auf der Flucht vor und hinter europäischen Grenzen politisch lösen sollte. Was wir aber erleben, ist eine systematische politische Eskalation genau dieses Elends. Und wir erleben eine deutsche Doppelmoral des Zwischenraums von Grenzen. Es ist durchaus möglich, 40.000 Erntehelfer*innen in Deutschland aufzunehmen, um den deutschen Spargel zu retten, es ist aber nicht möglich, Kinder aus den Elendslagern an der europäischen Grenze herauszuholen. Wer hat da noch Lust auf deutschen Spargel? Arbeitsmigrant*innen übrigens wurden noch vor Kurzem als Wirtschaftsflüchtlinge beschimpft, von eben jenen Politiker*innen, die diese jetzt gezielt nach Deutschland holen. Auch hier gilt es aufzupassen, denn, wie Max Frisch schon in den 1960er Jahren feststellte: Wir holten Arbeitskräfte und es kamen Menschen.
Seit der Corona-Krise vermelden politische Meinungsumfragen einen statistischen Rückgang von AFD-Sympathisant*innen in Deutschland. Doch – ganz ungeachtet der Krise – reicht ein Blick auf die bundesdeutsche Asyl-, Migrations- und Integrationspolitik, um zu verstehen, warum nicht mal der größte Rassist die personifizierte AFD mehr braucht. Denn ihre feuchtesten Träume von Grenzzäunen und schießenden Grenzschützern an der außereuropäischen Grenze sind wahr geworden. In Konstanz sogar noch wahrer, geht der vorauseilende Gehorsam doch so weit, Menschen innerhalb der eigenen Stadt einzuzäunen. Nein, das kann nicht auf die Corona-Krise geschoben werden, vielmehr auf einen immanent rassistischen Blick auf den/die anderen, die Nicht-Deutschen. Das ist die größte Grenze der Integration: die hohen Zäune im deutschen Kopf.
Schöner als jede Poesie, beginnt unser Grundgesetz:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. (GG, Artikel 1, Absatz 1, 2)
In Anbetracht der Grenzlage und des deutschen Zaunbestands – dies sei ein Wink mit dem Zaunpfahl – können wir sagen, dieses Recht ist verwirkt.
Das Virus bedroht die Menschheit, aber es sind deutsche Zäune, die die Menschlichkeit bedrohen. Oder mit anderen Worten: Ist das Deutsch, oder kann das weg?
Wen das Ende des Gedichts interessiert: Der Lattenzaun von Christian Morgenstern, aus dem Zyklus Galgenlieder.
Abla Chaya (Bild: Fifaliana Joy auf Pixabay)
Es war einmal ein kleiner Zaun aus dem wurde ein Gitter.
Diejenigen, die ihn erbaun, denen ist nienicht zu traun,
so macht der Zaun mich bitter!
Ich kenne sie, sie schwafeln viel von Sicherheit und schützen,
sie sind das reinste Micheltum,
nicht viel ist unter ihren Mützen!
Sie wähnen sich gesund und stark,
potent und wirtschaftlich autark,
entscheiden tun sie, wer hier passt,
wer hier geliebt, wer dort gehasst
und letztlich auch, wer dann geschasst!