Die Angst vor der Angst

In den letzten Wochen taucht hier auf Seemoz immer wieder der „faschistoid-hysterische Hygienestaat“ in den Kommentarspalten auf. Mit großer Irritation verfolge ich die leichtfertige Verwendung dieses Wortungetüms – ein Konvolut an drastischen Ausdrücken – und frage mich, ob sich die Nutzer dieses Begriffs schon einmal eingehend mit dessen Herkunft und Bedeutung auseinandergesetzt haben.

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Verfassungsrechtliche Debatte

Ja, es gibt derzeit eine rege Debatte unter Verfassungsrechtler*innen hinsichtlich der Ausgewogenheit von angemessenen Maßnahmen und Grundrechtseingriffen, wie auch Simon Pschorr in seinem Beitrag andeutete. Diese Debatte ist wichtig und richtig, erscheint für Laien aber aufgrund ausbaufähiger Kommunikation erst einmal wie die Prophezeiung des Untergangs der Demokratie.[1] Dabei (und auch das ist eine verkürzte Darstellung) geht es den meisten Jurist*innen, die da diskutieren, gar nicht so sehr um Zweifel an der Notwendigkeit von Maßnahmen grundsätzlich, sondern es findet eine Diskussion über die Auswahl der konkreten Einzelmaßnahmen, deren Verhältnismäßigkeit und der einschlägigen Rechtsgrundlage statt.[2] Diejenigen, die das Handwerk der Regelungen und ihrer Rechtfertigung beherrschen, sagen gerade ‚der Politik‘ wie diese es handwerklich besser machen sollte, nicht dass sie es gar nicht tun sollte. Das ist ein nicht unwichtiger Unterschied, der den Kritikern der Maßnahmen zugunsten der eigenen Argumentationsmuster gerne ‚durchzurutschen‘ scheint. Von den Verfassungsrechtler*innen wird die Wirksamkeit von Maßnahmen kaum bestritten, weil es auch ihnen an einer Faktenbasis für eine korrekte Einschätzung der Wirksamkeit von Maßnahmen fehlt. Das Bundesverfassungsgericht stützt sich beispielsweise bei Entscheidungen hinsichtlich des Abhaltens von Gottesdiensten auf die Einschätzung des Robert-Koch-Instituts, betont aber auch, dass sich diese Empfehlungen der Situation entsprechend ändern können und weist auf Unwägbarkeiten hin.[3]

Wie wäre es mit Kontext?

Der Focus berichtet nun, der Öffentlich-Rechtler Hans Michael Heinig hätte gesagt, dass „sich unser Gemeinwesen von einem demokratischen Rechtsstaat in kürzester Frist in einen faschistoid-hysterischen Hygienestaat“ (Aussage von Heinig) „verwandeln könnte“ (Formulierung des Focus). [4] Darauf stürzen sich nun diejenigen, die zumindest eine Lockerung der bisherigen Maßnahmen herbeisehnen. Dabei ist Heinigs Aussage wohl völlig aus dem Kontext gerissen. Der Jurist schrieb in seinem Beitrag auf dem Verfassungsblog zum Gottesdienstverbot auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes „ungern befände man sich in einigen Wochen in einem Gemeinwesen wieder, das sich von einem demokratischen Rechtsstaat in kürzester Frist in einen faschistoid-hysterischen Hygienestaat verwandelt hat“.[5] Dieser Äußerung kann man zweifellos zustimmen, kaum jemand möchte wohl in einem faschistischen Staat leben. Doch weder wird behauptet, es gäbe bereits einen „faschistoid-hysterischen Hygienestaat“ noch wird ein baldiges Entstehen dessen prophezeit. In den Absätzen zuvor kritisiert Heinig gar jene, die „die Situation gar mit dem Kirchenkampf im Nationalsozialismus [vergleichen]– und setzen damit die Bundes- und Landesregierungen mit dem NS-Regime gleich“. Er bezeichnet diese Vergleiche als „abwegig“. Weiter setzt er sich in diesem Text differenziert mit einzelnen Maßnahmen auseinander, die die Religionsfreiheit momentan zugunsten des Rechts auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 GG einschränken, und zeigt auch deren Grenzen auf. Keine Spur also vom bösen diktatorischen Überwachungsdenunziantenbevormundungsstaat.

Apokalypse

Was finde ich aber im Netz mit dem Stichwort Hygienestaat? Auf Twitter lese ich Aussagen wie „Weil wir zu einem faschistoid-hysterischen #Hygienestaat verkommen“ oder „“Mediengesteuerter“ faschistoid- hysterischer Hygienestaat muss es richtig heißen!“. Außerdem werden mir Links auf dubiose verschwörungstheoretisch anmutende Nachrichtenseiten angezeigt. Sogar die taz schreibt „Hans Michel Heinig, Kirchen- und Verfassungsrechtler, graust es davor, dass sich ein Rechtsstaat in kürzester Frist „in einen faschistoid-hysterischen Hygienestaat“ verwandeln könnte. So viel also zum Qualitätsjournalismus und zur ‚Mediensteuerung‘. Eine fundierte Diskussion, wie sie Verfassungsrechtler*innen aktuell betreiben, um die angeordneten Maßnahmen mit Hinblick auf die sich ständig verändernde Ausgangssituation immer wieder auf den Prüfstand hinsichtlich ihrer Angemessenheit zu stellen, scheint mir sinnvoll und zielführend. Durch diesen Diskurs können die effektivsten Maßnahmen bei mildestem Mittel identifiziert werden, um einen potenziellen „faschistoid-hysterischen Hygienestaat“ für die Zukunft zu verhindern. Das Problem der Ausbreitung von COVID-19 allerdings wegzureden mit der Unterstellung ‚die Politik‘ oder wer auch immer etabliere gerade einen „faschistoid-hysterischen Hygienestaat“ halte ich für destruktiv und höchstens für einen Ausdruck der Angst derjenigen, die vor der Ausbreitung des Virus keine Angst haben wollen.

F. Spanner (Foto: O. Pugliese)


[1] Eine selbstkritische Stellungnahme über den Beitrag, den Rechtswissenschaft in der Corona-Situation (nicht) leisten kann: https://verfassungsblog.de/krisenmanagement-fuer-jurist_innen/
[2] https://www.juwiss.de/56-2020/
[3] Siehe http://www.bverfg.de/e/qk20200410_1bvq002820.html und http://www.bverfg.de/e/qk20200410_1bvq003120.html
[4] https://www.focus.de/politik/deutschland/corona-regelungen-der-regierung-medizin-darf-nicht-gefaehrlicher-sein-als-die-krankheit_id_11827625.html
[5] https://verfassungsblog.de/gottesdienstverbot-auf-grundlage-des-infektionsschutzgesetzes/