Trostpflaster-Konzert und Quarantäne-Lesungen

Bei Veranstaltern wie Publikum erfreuen sich in den Zeiten der Seuche Online-Auftritte steigender Beliebtheit. Bei thurgaukultur ist „Das literarische Solo“ mittlerweile zu einem Projekt mit über 20 Geschichten/Kurzvideos für Groß und Klein angewachsen, und die Kulturagenda umfasst über 50 Kultur-Streams aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Wer etwas fürs Ohr sucht, wird hingegen bei Ralf Kleinehanding von HighNoon, der engagierten Konstanzer Reihe für zeitgenössische Musik, fündig.

„Das ist schon eine harte Zeit.
Keine Konzerte weit und breit.“

Der Musiker Ralf Kleinehanding schreckt in dieser seltsamen Zeit in seiner Verzweiflung auch vor einem Schüttelreim nicht zurück. Aber er tut auch etwas gegen die Trübsal der KonzertbesucherInnen angesichts des Schweigens der Live-Musik und hat vor einigen Tagen gemeinsam mit seinem langjährigen musikalischen Weggefährten Rochus Aust ein Video im Kunstturm der Kölner Lutherkirche gedreht. „Natürlich immer mit peniblem Sicherheitsabstand,“ wie er betont.

Ein Trostpflaster

Entstanden ist eine hörens- und sehenswerte 17-minütige Oase in der Konzertwüste. Kleinehanding ist ja ein zentraler Aktivist von High Noon Musik 2000+, der ambitioniertesten Konstanzer Konzertreihe, und verarbeitet hier viele Uraufführungen der letzten zehn HighNoon-Jahre. Er wünscht sich und dem Publikum vor allem dies: „Hoffentlich ganz bald live!“. Und bis dahin gibt es hier ein musikalisches Trostpflaster zu sehen und zu hören.

Mir gefällt’s gut: Relaxt, gelegentlich humorvoll, nur wackelt die Kamera zu viel rum, das lenkt beim ersten Hören ab und erzeugt bei musikalischen Landratten wie mir umgehend Seekrankheit.

Tröstlich ist natürlich auch der nach eigenen Angaben rege Zuspruch, den das rührige Online-Magazin thurgaukultur.ch über die Grenzen Mostindiens hinaus für seine aktuellen Formate findet. Besonders beliebt ist „Das literarische Solo“, eine Vorlesereihe, in der Menschen aus der Region ihre Lieblingsbücher vorstellen. Kulturschaffende und Autorinnen sind dabei, aber auch Journalisten, Politikerinnen und Politiker. Vorgelesen wird an den unterschiedlichsten Orten und Nicht-Orten.

Vom Bett zum Pferdestall

Das Spektrum der Vorlesenden ist breit: Vom Kinderbuch über Texte zeitgenössischer Autorinnen und Autoren bis zum Klassiker ist (fast) alles dabei. Gelesen wird im Bett, im Pferdestall, im Garten oder einfach im Wohnzimmer (was sich ja bei manchen Menschen nach vier Wochen Einschluss optisch und olfaktorisch kaum noch unterscheiden lässt). „Es sind ganz zauberhafte, sehr lustige, aber auch berührende Momente entstanden“, sagt Redaktionsleiter Michael Lünstroth. Öffentlich seine Lieblingsgeschichte vorzulesen hat etwas sehr Intimes und braucht Mut. Doch die Aktion zeigt: Das Vorlesen als besonderes gemeinschaftliches Erlebnis funktioniert auch über eine digitale Plattform.

Die Aktion ist zu einem Großprojekt gewachsen: Die über 20 Videobeiträge von maximal 20 Minuten Dauer verzeichnen bisher schon um die 10.000 Aufrufe. Die Aktion ist aber nicht nur auf mehr oder weniger Prominente beschränkt, sondern für alle gedacht – auch die „normalen“ Leserinnen und Leser sind also ausdrücklich eingeladen, aus ihren Lieblingsbüchern vorzulesen. Das Kulturportal nimmt jederzeit weitere Beiträge an.

Fenster in die Online-Welt

Trotz der Coronakrise ist der Terminkalender von thurgaukultur momentan gut gefüllt. Aus der Not hat die Online-Plattform eine Tugend gemacht und sich für den gesamten deutschsprachigen Raum geöffnet. Dort können Veranstalter ihre Online- und Streaming-Angebote veröffentlichen. Bereits über 50 Angebote sind dort zu finden. Ob Vorlesestunde für Vorschulkinder, Live-Übertragungen aus dem Opernhaus, Interviews mit Kulturakteuren, Premierenausschnitte aus aktuellen Programmen, Museumsrundgänge oder Film-Streaming-Plattformen.

Die Auswahl wird laufend erweitert, nicht zuletzt durch die Live-Stream-Aktion „Deine Bühne“. Mit dieser Aktion bietet das Portal all jenen Kulturschaffenden eine Bühne, die in diesen Tagen und Wochen eigentlich Konzerte, Aufführungen oder Ausstellungen realisieren wollten und jetzt nicht können. „Wir wollen verhindern, dass das Thurgauer Kulturleben für viele Wochen hinter einem Corona-Vorhang verschwindet, wir wollen es sichtbar halten.“ Das versucht Michael Lünstroth mit seinem Team, er reist mit Smartphone-Kamera und Mikrofon vor Ort und überträgt Konzerte, Gespräche oder Museumsführungen mittels Livestream.

Corona bedeutet also doch (noch) nicht das Ende aller Kultur. Ich kenne einige Menschen, die das richtig schade finden, – allzu viele sind es nicht, denn die meisten erliegen ihren Schussverletzungen bereits nach wenigen Minuten …

MM/O. Pugliese (Bild: thurgaukultur)


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