ADFC: Nicht planen – jetzt handeln!

Das Fahrrad gilt global als eine zentrale Säule der Mobilität der Zukunft. Während der Corona-Krise der vergangenen Wochen, als viele Straßen autoarm waren, sind seine Bedeutung und seine Möglichkeiten als rundum gesundes und resilientes Mobilitäts­mittel wieder einmal sehr deutlich geworden, weiß der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) zu berichten. In einem Statement zur Radverkehrspolitik 2020 des baden-württembergischen Ministeriums für Verkehr ruft er dazu auf, jetzt endlich zu handeln.

Es mag manche LeserInnen zum Schmunzeln verleiten, wenn sie einen weiteren Aufruf zu unverzüglichem Handeln lesen. An solchen Aufrufen fehlt es nämlich – gerade was den Ausbau der Radinfrastruktur anbelangt – nun wahrlich nicht, und das schon seit Jahren und Jahrzehnten. Eigentlich versichern sich sogar alle Seiten ständig, dass man jetzt den Worten Taten folgen lassen müsse. Selbst die ob ihrer Untätigkeit gescholtenen Verantwortlichen legen ein Förderprogrämmchen nach dem anderen auf und versichern, damit schon mehr als das eigentlich Menschenmögliche zu tun und sofort gehandelt zu haben. Nur um wenige Jahre später zu versichern, man müsse und werde jetzt endlich handeln.

Aber machen wir uns nichts vor: Der Ausbau der Radverkehrswege geht auch in Baden-Württemberg quälend langsam voran, und ein Wille, das Verkehrswesen radikal neu aufzustellen, ist trotz aller Sonntagsreden und Gardinenpredigten nicht erkennbar.

Ein Papiertiger

Da wirkt es schon beinahe drollig, wenn der ADFC in seiner aktuellen Mitteilung an die Medien vom 11. Mai 2020(!) wieder einmal entschlossen fordert: „Wir dürfen die Herausforderungen der jetzigen Situation nicht verkennen – wir brauchen jetzt eine ergänzende Rad-Infrastruktur!“ Er verweist auf die Nackenschläge, die Corona dem ÖPNV versetzen wird und warnt davor, die Menschen könnten nach der Krise wieder ins Auto steigen, denn das sorge nur für Chaos auf den Straßen und wirke der Verkehrswende entgegen.

Hallo? Welche Verkehrswende? Ist da im Verborgenen etwas passiert, von dem ich wissen sollte?

Doch der Fahrradclub formuliert entschlossen klare Ziele, denn er „begrüßt und unterstützt die Pläne des Verkehrsministeriums Baden-Württemberg, den Radverkehr im Land bis 2030 anteilig auf 20 Prozent anzuheben. Dass das Land 2020 den Förderrahmen für den Radwegebau in Städten und Gemeinden erhöht und Bauvorhaben im Bereich Rad- und Fußverkehr mit 58 Millionen Euro im Vergleich zu 2019 fast verdoppelt“, bezeichnet die Landesvorsitzende Gudrun Zühlke als richtigen und notwendigen Schritt: „Das sind wichtige Rahmenbedingungen für und Signale an die Kommunen.“

Gut miaut, Löwin!

58 Millionen hören sich für NormalverdienerInnen nach richtig viel Zaster an. Aber das sind sie mitnichten, denn das ist in etwa der Preis für die 470 Meter (!) Autotunnel für die B33 nahe der Reichenau und damit nichts weiter als ein Nasenwasser, selbst für den deutlich billigeren Radverkehr. Zum Vergleich: Der insgesamt sieben Kilometer lange Veloring in Friedrichshafen soll rund 8,5 Millionen Euro kosten.[3][4]

Für diese „großzügige“ Gnadengabe von insgesamt 58 Millionen sollte der ADFC als Vertreter von RadlerInneninteressen das Ministerium nicht etwa loben, sondern ihm die Pranke immer wieder erbarmungslos in die Weichteile schlagen, bis es aus Angst vor den WählerInnen quiekt.

Mit Vollgas zurück in die Zukunft

Natürlich sind 20 Prozent Radverkehrsanteil in zehn Jahren besser als nichts. Aber angesichts der Werte, die etwa die Niederlande bereits vor Jahren erreicht haben, kommt das einer Kapitulationserklärung gleich. Folgt man dem im Auftrag des (deutschen!) Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur erstellten Fahrradportal, entfiel 2015 in den Niederlanden „fast ein Zehntel der zurückgelegten Personenkilometer (rund 11.000 km pro Person und Jahr) auf das Verkehrsmittel Fahrrad. Der Anteil des Fahrrades an den Ortsveränderungen (Modal Split) liegt bei 27 Prozent.“[1]

2015! 27 Prozent – und das bei dem berüchtigten niederländischen Gegenwind aus allen Richtungen! Doch der ADFC liebelt das Ministerium in Stuttgart dafür ab, dass es uns Südwestlern in zehn Jahren 20 Prozent gewähren will, wenn’s denn hinhaut. Er schreit nicht Zeter und Mordio? Ist er ein Papiertiger, der nicht weit genug schauen kann, um zu erkennen, dass die Radverkehrswende anderswo schon seit Jahrzehnten viel weiter gediehen ist, und dass sie nicht von den Bäumen fällt, sondern erstritten werden muss? Warum prangert er nicht die Ursachen und Schuldigen dafür an, dass hierzulande – abgesehen von wolkigen Versprechungen und Vertröstungen auf das nächste oder übernächste Jahrzehnt – kaum mehr als nichts passiert ist, wenn man etwa die Niederlande oder Kopenhagen als Vergleich heranzieht? Dabei sind die Ursachen für diesen Entwicklungsrückstand längst bekannt, die Stadt Münster benennt sie sehr klar in einer ab Seite 9 äußerst lesenswerten Präsentation.[2]

Wozu die Schaumschlägerei?

Wahren Untertanengeist atmet auch der Schluss der Verlautbarung vom 11. Mai: „Der ADFC fordert daher die Kommunen dazu auf, zu investieren und zu handeln.“ Dabei geht es ihm aber, wie er ausdrücklich erklärt, „mitnichten darum, neue Pläne zu machen, sondern bereits Geplantes mit den Mitteln des Landes jetzt umzusetzen.“

Wie bitte! Wo bleibt der Ruf nach frisch geplanten Radschnellwegen, nach ausreichend breiten inner- wie außerörtlichen Radverbindungen, die ein friedliches Miteinander schneller E-Bikes und Pedelecs mit unmotorisierten Lastenrädern oder Fahrrädern mit breiten Kinderanhängern erlauben? Wo bleibt die unnachgiebige Forderung nach Fahrradbrücken für einen kreuzungsfreien Radverkehr und nach einer ausreichenden Zahl an wetter- und diebstahlsfesten Abstellanlagen innerorts, an Bahnhöfen und in Wohnquartieren? Wo bleibt überhaupt irgendein Knurren wider eine Obrigkeit, die seit langem die Verkehrswende verpennt oder gar hintertreibt? Wo bleibt der Löwenbiss in die Nacken der Autolobby und ihrer Handlanger, bis deren Schwarte knackt?

Anders gefragt: Wozu bedarf es eigentlich eines Fahrradclubs, der, statt beherzt auf eine unbewegliche Politik einzudreschen, nichts anderes betreibt als die Heiligsprechung des Bestehenden? Der so tut, als sei weit und breit kein Arsch zu sehen, in den es immer und immer wieder beherzt zu treten gilt?

Wer solche Freunde hat, der lernt seine Feinde zu schätzen, denn auf letztere kann er sich wenigstens verlassen, und zwar für den Rest seines Lebens.

O. Pugliese (Bild: ADFC)


Anmerkungen
[1]
https://nationaler-radverkehrsplan.de/de/node/19399
[2]
https://www.agfs-nrw.de/fileadmin/Events-Kampagnen/AGFS-Kongress/2017/AGFS-Kongress_2017_Vortrag_M_Milde.pdf
[3]
https://nationaler-radverkehrsplan.de/de/node/20002
[4]
https://hannovercyclechic.wordpress.com/2016/04/13/was-kostet-eigentlich-ein-radweg/