Geschichte als Lebenswelt

Von Hölderlin in Hauptwil bis zur Serverfarm in Diessenhofen: Eine Geschichte der Arbeit.

Der Basler Historiker Heiko Haumann hat den Begriff der Lebenswelt in der Geschichtswissenschaft mitgeprägt. Damit ist eine Geschichtsschreibung gemeint, die nicht vornehmlich vertikale Abläufe, Daten und Taten großer Männer (und weniger Frauen) in den Mittelpunkt rückt, sondern die die Perspektive von der Geschichte betroffener Menschen einnimmt. Den Autor des jüngst erschienenen Buchs Spuren der Arbeit, Stefan Keller, hat Haumann damals mit dessen Grüningers Fall nicht zufällig promoviert.

Kellers neues Buch über die Geschichte der Arbeit im Thurgau und in der Ostschweiz beginnt mit dem Dichter Friedrich Hölderlin, der im Jahr 1801 eine Stelle als Hauslehrer bei der wohlhabenden Familie von Gonzenbach in Hauptwil antritt, dort allerdings nur drei Monate bleiben wird. Die Gonzenbachs sind vorindustrielle Fabrikanten. Ihnen gehören das gesamte Dorf und natürlich die Manufaktur, in der seit einiger Zeit statt einheimischer Leinwand die überseeische Baumwolle gewebt, gefärbt und bedruckt wird. Später wird man zur Stickerei übergehen und von der Manufaktur zu frühindustriellen Fabriken. So wird die von Vorarlberg, über St. Gallen, das Appenzell und den Thurgau reichende Ostschweizer Textil- und Stickereiindustrie entstehen, die unter anderem auf viel Heimarbeit beruht und in den ersten zwanzig Jahren des 20. Jahrhunderts fast völlig zum Erliegen kommt. Die überdimensionierten Gebäude des St. Galler Bahnhofs und Postgebäudes zeugen bis heute von nicht in Erfüllung gegangenen Erwartungen.

Auch die Landschaft verändert sich. Der Getreideanbau verschwindet, die Bauern wandern in die Fabriken ab. Stattdessen halten die Viehwirtschaft, die bis dahin auf die Alpenregionen beschränkte Käseproduktion und der Obstanbau Einzug. Die lieblichen Thurgauer Landschaften entstehen und werden schon im 19. Jahrhundert als solche wahrgenommen. Der Maschinen- und Automobilbau treten nach und nach an die Stelle der Textilindustrie, etwa bei der Firma Saurer im „roten Arbon“, das innerhalb von nur 20 Jahren, von 1890 bis 1910, um das Vierfache auf über 10.000 Einwohner wächst. Und auch Ausländer und Gastarbeiter sind keine neue Erscheinung: Im Jahr 1910 waren 14,7 Prozent der Schweizer Bevölkerung Ausländer, im Thurgau 19 Prozent, in Arbon 46 Prozent. Der Thurgau gehörte zu den bevölkerungsreichsten und besonders industrialisierten Kantonen. Die Mär vom Landwirtschafts- und Bauernkanton, wie sie etwa der „braune“ Bauerndichter Alfred Huggenberger in der Nazi-Zeit beschwor, war schon damals eine reaktionäre Geschichtsklitterung. Noch weit früher ging in Wirklichkeit lediglich einer von acht Einwohnern des Kantons dem Bauernberuf nach.

Kellers Buch handelt von der überall in Europa als Folge eines Vulkanausbruchs in Indonesien wütenden Hungersnot der Jahre 1816/17, von bitterer Armut, Kinderarbeit, von Dienstboten für die bessere Gesellschaft, die als Folge der Industrialisierung immer rarer werden. Es berichtet von Hausierern, Wanderarbeitern und deutschen Flüchtlingen nach der 1848er Revolution, die im Thurgau bedeutende Betriebe gründeten (so etwa die „Bernina“ in Steckborn, die noch heute existiert). Es erzählt auch von der Schweiz als erstem liberalen Staat in Europa, der Ausländer gleich behandelt wie eigene Staatsangehörige und von Gewerkschaften (deren älteste in der Schweiz die der Typografen ist), die sich nicht nur mit den Patrons, sondern immer wieder auch mit ausländischen Arbeitskräften schwertun wie beim Streik italienischer Frauen 1907 in Arbon. Und es handelt nicht zuletzt von einer Fremdenfeindlichkeit, die nicht nur Ausländer, sondern auch Schweizer aus anderen Regionen trifft.

Natürlich hat der Autor in Archiven recherchiert und wartet mit zahlreichen Statistiken und historischen Daten auf – schließlich geht sein Buch auf einen Auftrag des Amts für Wirtschaft und Arbeit (AWA) des Kantons Thurgau zurück, das in diesem Jahr sein hundertjähriges Jubiläum feiert.

Es finden sich darin natürlich auch die (ebenfalls bestens recherchierten) Lebens- oder Lebensabschnittsgeschichten von Arbeitern, Frauen, Fabrikherren und anderen – etwa jene der beiden italienischen Hausierer Giovanni Guglielmi und Michele Perini aus Amriswil, die vor dem Bundesgericht ihre Gleichbehandlung erreichten und somit ihr Hausiererpatent behalten durften. Der Band endet in der neuen digitalen Arbeitswelt der Serverfarm der Firma SWIFT in Diessenhofen, wo um die zwanzig Fachkräfte die Daten von etwa 11.000 Banken weltweit verarbeiten. Fürwahr eine schöne neue Welt.

Jochen Kelter (Bild: „Der Streik“ von Robert Koehler [1886] / Public domain)


Stefan Keller: Spuren der Arbeit – von der Manufaktur zur Serverfarm
Reportage, mit zahlreichen Abbildungen
Rotpunktverlag, Zürich 2020
232 S., gebunden, Fr. 38.- Euro 35.-