No Justice, No Peace!
Eine der eindrucksvollsten Kundgebungen der vergangenen Jahre erlebte Konstanz am vergangenen Samstag. Über 1000 DemonstrantInnen versammelten sich auf dem Münsterplatz, um gegen das System des Rassismus zu protestieren. Auf die Straße getrieben hatte sie der Tod des Afroamerikaners George Floyd, umgebracht von einem weißen Polizisten. Rassistische Gewalt und Diskriminierung, machten die Teilnehmenden deutlich, sind kein US-Phänomen, sondern gehören auch hierzulande zum traurigen Alltag.
[the_ad id=’68671′]
Dass dies kein gewöhnlicher Kundgebungsnachmittage werden sollte, war schon vor dem für 16 Uhr angekündigten Beginn der Protestaktion nicht zu übersehen. Vor dem Konstanzer Münster mühten sich hunderte Menschen redlich, den durch das Virus gebotenen Abstand einzuhalten. Ein schwieriges Unterfangen, denn es strömten immer noch mehr auf den Münsterplatz. Nicht nur der war am Ende voll, auch die umgebenden Gassen füllten sich mit Demonstrierenden.
Anlass der Kundgebung war der Polizistenmord am Afroamerikaner George Floyd, dessen lange Minuten andauerndes, qualvolles Sterben per Handyvideo um die Welt ging. Seither ist nicht nur die USA in Aufruhr, weltweit löste dieser besonders brutale Fall rassistischer Polizeigewalt Proteste aus.
Mehr als 180.000 demonstrierten, Medienberichten zufolge, deswegen allein am vergangenen Wochenende auch in über 30 deutschen Städten unter dem Slogan „Black Lives Matter“. Im Südwesten waren es etwa in Stuttgart um die 10.0000 Menschen, die dem Aufruf folgten, in Mannheim versammelten sich 6000, in Karlsruhe rund 3000. Dass auch in Konstanz am Samstag mehr als 1000 Leute ihren Protest gegen Rassismus und Polizeigewalt manifestierten, hat die VeranstalterInnen selbst überrascht.
Bei denen handelt es sich, und das macht die Veranstaltung ebenfalls hervorhebenswert, nämlich nicht nur um die üblichen Verdächtigen aus der linken Politszene. Federführend auf die Beine gestellt hat die Aktion vielmehr eine Gruppe überwiegend junger, überwiegend weiblicher und überwiegend andersfarbiger Leute.
Wie für viele scheint auch für sie der Fall George Floyd der Tropfen gewesen zu sein, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Sehr schnell wird auf dem Münsterplatz deutlich, dass es den Versammelten, zu denen ebenfalls eine ungewöhnlich große Zahl Schwarzer Menschen und People of Color gehören, nicht allein um den Polizeimord in den fernen USA geht.
„Kein amerikanisches Problem“
Zwar skandieren sie, demonstrativ auf dem Boden liegend, gemeinsam immer wieder die weltweit zur Anklage geronnenen letzten Worte des sterbenden Afroamerikaners: „I can’t breathe“. Sie richtet sich, selbstverständlich, gegen die Verhältnisse in der westlichen Führungsmacht, denen beständig überdurchschnittlich viel nichtweiße und besonders Schwarze Menschen zum Opfer fallen – „einem Land, welches auf der Ausbeutung, Erniedrigung und dem Blut von Sklaven und Ureinwohnern errichtet worden“, wie das Verena, Schülerin in Konstanz und Schwarz, zu Beginn ihrer Rede formuliert.
Für viele DemonstrantInnen ist es indes die Möglichkeit, auf Zustände aufmerksam zu machen, die auch hierzulande wenig Luft zum Atmen lassen. „Rassismus ist kein amerikanisches Problem“, betont auch die Rednerin unter großem Beifall. „Es ist Teil eines weltweiten Systems, welches Schwarze Menschen seit 500 Jahren versklavt, ausbeutet, ermordet und unterdrückt.“ Aufgrund ihrer Hautfarbe oder Herkunft kennen viele der Versammelten rassistische Diskriminierung aus eigenem Erleben, wie man den teils emotionalen Reaktionen anmerkt. Die Rednerinnen, bis auf wenige Ausnahmen nichtweiße Menschen, machen an vielen Beispielen deutlich, dass es sich mitnichten um ein auf die USA beschränktes Phänomen handelt. Rassistische Herabwürdigungen auf der Straße oder beim Einkauf, in der Schule und der Uni oder im Betrieb, nicht zuletzt beim Kontakt mit staatlichen Institutionen, gehören auch im scheinbar weltoffenen Konstanz, zum Alltag – mal offen, mal subtil. Sie rufen Verletzungen hervor, deren Tiefe für einen Weißen, zumal männlichen Geschlechts, nicht zu ermessen ist.
Wie muss sich etwa eine Bäckereiverkäuferin fühlen, von der eine Kundin ein dunkles Brot verlangt mit der Bemerkung, es sei „ja so verbrannt wie Sie“? Wie die Schwarze Jugendliche, die aufgefordert wird, sich endlich mal den Dreck wegzuwaschen? Wie eine Sechsjährige, die der gleichaltrige weiße Mitschüler vom ersten Schultag an wegen ihrer Hautfarbe drangsaliert? Wie die Radfahrerin, der auf der Konstanzer Radstraße ein Auto die Vorfahrt nimmt und sie, deswegen zur Rede gestellt, auffordert doch endlich das Land (in dem sie geboren ist) zu verlassen. Nur einige Beispiele für Alltagsrassismus, von denen am Samstag Betroffene erzählen.
„Warum ist es im Jahr 2020 immer noch ein Makel, schwarz zu sein“, fragt eine Rednerin stellvertretend. „Warum sterben immer noch schwarze Menschen durch rassistische Angriffe, auch durch die Polizei, die uns eigentlich schützen sollte? Und warum wird immer noch weggeschaut, wenn Menschen kontrolliert und drangsaliert werden?“
Berechtigte Fragen, denn auch in Deutschland ist die Liste der Opfer von Polizeigewalt lang, wie in verschiedenen Redebeiträgen betont wird. Nur das bekannteste Beispiel ist der Asylsuchende Oury Jalloh, der in einer Polizeizelle in Dessau starb, unter ungeklärten Umständen wie die Staatsanwaltschaft behauptet, die den Fall 2019 zu den Akten legte, obschon zivilgesellschaftliche Initiativen zahlreiche Indizien für Polizeiverschulden zusammengetragen haben. Auch Ahmed Amad verbrannte 2018 in Kleve unter ungeklärten Umständen in einer Zelle, in der er wegen einer Verwechslung fälschlicherweise eingesperrt war. Vor ein paar Tagen erst kam heraus, dass die Polizei schon Wochen vor seinem Tod von dieser Verwechslung wusste. Nur die Spitze des Eisbergs? Angaben der Gruppe „Death in Custody“ zufolge sind in Deutschland seit 1993 nicht weniger als 138 von Rassismus betroffene Menschen in Polizeigewahrsam gestorben.
Zu dem Ergebnis, dass die deutschen Ordnungskräfte ein Rassismusproblem haben, kommt auch ein im März 2020 veröffentlichter Bericht des Anti-Diskriminierungs Ausschusses des Europarats. Demnach seien bei der Polizei mehr Anstrengungen nötig und vor allem verpflichtende Kurse besonders wichtig, um Racial Profiling entgegenzuwirken. Opfer diskriminierender und rassistischer Gewalt trauten sich oft nicht zur deutschen Polizei. „Auch wenn es hinreichende Beweise für ein extensives Racial Profiling gibt, sind sich viele Polizeidienste und -vertreter dessen nicht bewusst“, so der Bericht wörtlich.
„Gerechtigkeit für alle von uns“
Durch George Floyd bekomme das Thema Rassismus jetzt die Medienöffentlichkeit, die benötigt werde, überfällige Veränderungen zu bewirken, sagt Rednerin Verena. „Wir wollen nicht, dass Black Lives Matter ein Trend ist, der gerade mitgemacht wird“, vielmehr gehe es darum, „dass dieses unterschwellige rassistische Verhalten entlarvt und vor allem entfernt wird.“ Denn kein Mensch werde als Rassist geboren.
Wie weit der Weg auch vor der eigenen Haustür ist, den es bis dahin zurückzulegen gilt, wird im Lauf der Kundgebung oft thematisiert. Zur Sprache kommen in weiteren Beiträgen etwa die zahlreichen Fälle von Racial Profiling durch Behörden und Polizei, gerade in unserer Grenzregion oft praktiziert. Berichtet wird von den Absagen bei der Wohnungs- und Jobsuche wegen Hautfarbe oder Herkunft. Auch die jüngst von Stadtverwaltung und Landratsamt veranlassten Einzäunungen von zwei Konstanzer Geflüchteten-Unterkünften wird als Negativbeispiel für den rassistischen Umgang der weißen Mehrheitselite mit als fremdartig stigmatisierten Menschen genannt.
Weit mehr als 1000 Menschen haben am Samstag keinen Zweifel daran gelassen, dass sie gewillt sind, dem Krebsgeschwür des Rassismus den Kampf anzusagen: „Wir wollen nicht, dass unsere Kinder, Enkel und Urenkel wie wir auf die Straße gehen müssen, um für ihre Rechte zu kämpfen. Wir wollen nicht nur Gerechtigkeit für George und all die anderen Leute, die keine Aufmerksamkeit bekommen haben. Wir wollen diese Aufmerksamkeit und Gerechtigkeit für alle von uns“.
J. Geiger (Text und Fotos)