Corona: Katastrophales Krisenmanagement des Kultusministeriums
Im Rahmen der „Corona-Krise“ sind die Schulen über einen langen Zeitraum vollständig geschlossen worden. Ob diese Maßnahme verhältnismäßig war, kann hier nicht geklärt werden. Darüber ohne medizinischen Sachverstand zu fabulieren wäre sicherlich unangemessen. Unabhängig davon muss aber das Versagen der Landesregierung und der Kultusbürokratie in der Krise festgestellt werden. Kritisiert rückblickend Till Seiler, Bildungsexperte und Stadtrat der FGL (Freie Grüne Liste).
Das Verhalten der Akteur*innen in Stuttgart war und ist durch sinnlosen Aktionismus geprägt, wobei oft Verantwortung nach unten auf die Schulleitungen abgewälzt wird.
Die Kette der Fehlentscheidungen beginnt damit, dass die Länder Baden-Württemberg und Bayern die von anderen Bundesländern ins Spiel gebrachte Absage der Abiturprüfungen blockiert haben. Auch ohne Abiturprüfung hätte ein Zeugnis auf Grundlage der Leistungen in drei Schulhalbjahren der Oberstufe erstellt werden können. Dies wurde etwa von Karin Prien (CDU), Bildungsministerin von Schleswig-Holstein, bereits frühzeitig vor den Osterferien vorgeschlagen. Analog hätte bei den anderen Schulabschlüssen verfahren werden können.
Der Fokus auf die Durchführung von Abschlussprüfungen hat die Situation für die Familien unnötig verschlechtert: So fehlen personelle und räumliche Kapazitäten für den Unterricht in der Unterstufe der weiterführenden Schulen. Dieser Unterrichtsausfall trifft die Familien und verschärft die ohnehin in Deutschland stark vorhandene Chancenungleichheit bei der Bildung. Der Verweis auf den sogenannten Fernlernunterricht ist problematisch, da ein relevanter Teil der Schüler*innen nicht erreicht wird. Dies liegt auch an der technischen Ausstattung der Familien, die sich zum Teil auf Smartphones beschränkt, mit deren Hilfe das Unterrichtsangebot aber nur sehr mühsam oder überhaupt nicht wahrgenommen werden kann. Die Einrichtung von Computer-Arbeitsplätzen für Schulkinder ist vielen Familien nicht möglich. Diese lässt sich auch nicht über das „Bildungspaket“ im Hartz IV-System finanzieren (im Gegensatz zu Schullandheimaufenthalten, Studienfahrten oder Nachhilfe).
Neben dieser fatalen Grundsatz-Entscheidung sind aber auch gravierende Management-Fehler des Kultusministeriums festzustellen: So wurde zunächst beispielsweise zwar die Schulleitung verpflichtet, mit einer Person an der Schule präsent zu sein, der Aufenthalt von anderen Lehrkräften oder auch mehreren Mitgliedern der Schulleitung aber untersagt. Zugleich durften in der Privatwirtschaft selbstverständlich mehrere Personen in den Unternehmen anwesend sein. Dringend notwendige Absprachen und Vorarbeiten für die Wiederaufnahme des Schulbetriebs wurden so erschwert. Offensichtlich ging es dem Ministerium also nicht um Unterstützung der Schulen vor Ort, sondern darum, die Verantwortung nach unten abzuwälzen.
Aktuell erweisen sich sogenannte „Eckpunkte“ des Kultusministeriums zum Schulbetrieb nach den Pfingstferien nach Einschätzung gymnasialer Schulleitungen als „nicht umsetzbar“. Das Ministerium hat ein „im Wochenrhythmus rollierendes System der einzubeziehenden Klassenstufen“ empfohlen, das vor allem Präsenzunterricht in den Hauptfächern ermöglichen soll. Diese Empfehlungen wurden offenbar ohne Rücksprache mit Expert*innen für die Gestaltung von Stundenplänen an großen weiterführenden Schulen ausgesprochen. Am Ende muss wieder die Schulleitung vor Ort alleine entscheiden und die Verantwortung übernehmen. Problematisch ist auch die untergeordnete Rolle der Nebenfächer aus Sicht des Ministeriums, obwohl für diese Fächer Präsenzunterricht zum Teil eine noch größere Bedeutung hat als für die Hauptfächer. Beispielhaft seien Ethik und Religionslehre genannt. Dort wird jetzt in der aktuell schwierigen Situation ein Diskurs über existenzielle Fragen ermöglicht, der so im Fernlernunterricht niemals abgebildet werden kann.
Es wäre dringend erforderlich, ein Unterstützungssystem für Schüler*innen zu entwickeln, die durch den Fernlernunterricht nicht erreicht wurden. Dabei kann es nicht um freiwillige Angebote von Lehrkräften in den Ferien gehen, sondern wir brauchen Konzepte für die kommenden Schuljahre und hierfür zusätzliche Ressourcen an den Schulen.
Insgesamt muss leider festgestellt werden, dass die Krise die krasse Leistungs- und Prüfungs-Fixierung des Schulsystems in Deutschland offengelegt hat: Pädagogische und menschliche Fragen, insbesondere die Situation der Familien, spielen für die Entscheidungsträger*innen offenbar eine untergeordnete Rolle.
Till Seiler (Foto: FGL)
Als Millionen junger Menschen in der deutschen Republik in Clubs und auf den Straßen tanzten, in den Frühzeiten von Techno-House und Internet, war es in den Bildungspalästen ausreichend zu verstehen, wie man Tamagotchi füttert.
Seit mehr als einem halben Jahrhundert antichambrieren Bürokrat*innen in den Schulämtern der 16 Bundesländer für persönliche Karrierevorteile und politische Würdigungen. Einen Personal Computer hatten viele, es wurden hohe Beamtenrabatte gewährt und eine vollständige steuerliche Abschreibung war im Rahmen eines häuslichen Arbeitszimmers jederzeit und meistens innerhalb eines Jahres möglich. Wer so ein Gerät im Unterricht einsetzten wollte bekam, leider zu oft, schon im Vorfeld das „Streber-Etikett“.
Zu viele warten heute, von Interessenverbänden und Gewerkschaften assistiert, auf Kurse und Dienstfreistellung der Schulbehörde. Sie wollen behütet und sanft durch das Tal der Ahnungslosen geleitet werden. Technik soll vom Land beschafft, ewig dauernde Weiterbildungen angeboten und andauernder technischer Support garantiert werden. Dabei gab es Lehrer*innen, die in der Corona Zeit teils über sechs Wochen weder Eltern noch Schüler kontaktiert haben. So lauten Vorhaltungen mehrerer Gäste der Talkshow Markus Lanz vom 04. Juni 2020.
In Baden-Württemberg ist die Lernmittelfreiheit in Artikel 14 Absatz 2 der Landesverfassung geregelt. Danach sind Unterricht und Lernmittel an öffentlichen Schulen unentgeltlich zu überlassen. (Wikipedia). Das Problem scheint eher, wenn alle Schüler über Internetzugänge verfügen, wollen sie damit arbeiten. Wie soll das gehen, wenn das technische Wissen etlicher Lehrkräfte nicht einmal für die Herstellung brauchbarer Fotokopien reicht?
In Jugendeinrichtungen starteten Pädagog*innen vor Jahrzehnten weltweite Musik – und Konferenzschaltungen, richteten PC-gestützte Labore und Musikstudios ein. Schulleiter und Schulämter zeigten sich oft uninteressiert bis ablehnend. Natürlich möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass es auch motivierte und interessierte Lehrer*innen mit pädagogischem Anspruch gab und gibt, die den Bildungsauftrag ernst nahmen und letztlich wegen ihrer Eigeninitiative von neidischen Kollegien bedrängt wurden. Bis das Dienstverhältnis zerrüttet, von Burn Out begleitet, mit dem Wechsel in den Vorruhestand oder einer Kündigung endete.
Es bedarf spezialisierter Angebote, weil Kinder und Jugendliche nicht zeitlich unbegrenzt vor dem Bildschirm, meist in schlechter Körperhaltung, hocken dürfen. Die Vermeidung von Computerakne, Sehschwäche, Muskelverspannungen, Herzrhythmusschäden durch die sogenannte Taktwiederholfrequenz, bis zu stressbedingten Problemen sollten im Rahmen der Arbeitsplatzgestaltung Beachtung finden.
Von zwölf Millionen schulpflichtigen Jugendlichen und Kindern nahmen deutschlandweit 300.000 als notorische Schulverweigerer nicht mehr am Unterricht teil (2017). Freitags verstoßen tausende Schüler*innen gegen die Schulpflicht, um für eine andere Klimapolitik zu demonstrieren. Sie nutzen als Ersatz, höchst fortschrittliche eigene digitale Bildungsmedien. Dann gibt es jene, die einiges durchgemacht haben: Mobbing, Gewalt, seelische Verletzungen und auch andere, denen durch psychische oder körperliche Erkrankungen eine Unterrichtsteilnahme nicht möglich ist. Die Frage ist nicht beantwortet, wie sie in den künftigen Schulalltag eingebunden werden können oder wie die Schulen dem alltäglichen Terror durch Mobbing begegnen wollen. Einer PISA-Studie aus dem Jahr 2017 zufolge ist jede(r) sechste Schüler*in im Alter von 15 Jahren betroffen. In nahezu allen Jahrgangsstufen sind Schüler*innen zu finden, die im realen und digitalen Leben von Mobbing und Ausgrenzung betroffen sind und wenig bis keine Unterstützung erfahren. Eine Lösung durch Home-Schooling wäre möglich, wenn es zum Beispiel an Schulsozialarbeit mangelt. Wobei zum Zeitpunkt der Schulöffnung ein Angebot der Schulsozialarbeit bereitgestellt und gegebenenfalls erweitert werden muss.