Die großen und kleinen Leute von Rorschach
Ein Buch über die wenig bekannte Stadt am Bodensee erzählt auf exemplarische Weise aus dem Alltag des 20. Jahrhunderts. Über die großen und mehr noch über die kleinen Leute des Städtchens, das selbst Ostschweizer allzu häufig noch mit Romanshorn verwechseln. Geschrieben von einem Hobby-Historiker, der wohl sein ganzes Leben in seiner Heimatstadt recherchierte, und erstaunliche Geschichten entdeckte: Ein Buch für Bodensee-Liebhaber, ein Buch für Lokal-Historiker, ein Buch sogar für Literatur-Fans.
Die alte Industriestadt Rorschach am Bodensee ist ein Ort, den man westlich von Winterthur nur wegen seiner Erwähnung im Eisenbahnlied von Mani Matter, dem legendären Schweizer Liedermacher, kennt. Und in der Tat war Rorschach mit seinen Bahnhöfen, den zahlreichen Barrieren und dem Hafen früher ein wichtiges Verkehrszentrum. Sogar in der Ostschweiz wird Rorschach häufig mit Romanshorn verwechselt, einem einst ebenfalls wichtigen Hafen und Bahnknotenpunkt 20 Kilometer nordwestlich. Zwischen Romanshorn und Rorschach liegt Arbon. Alle drei Orte haben ihre industrielle Bedeutung und damit auch die Rolle als Zentren der organisierten Arbeiterschaft seit langem verloren.
Die vor hundert Jahren prägende Textilindustrie ist verschwunden, die bedeutende Maschinenindustrie zusammengeschrumpft. Auf verseuchten Industriebrachen und leeren Gleisarealen wird von industriellem Glanz vielleicht noch geträumt – oder von einer besseren Zukunft als Freizeitpark: Denn die Lage dafür wäre ausgezeichnet. Das Wasser ist heute wieder sauber, die Luft sehr gut, der Föhn lässt den See oft spektakulär erscheinen, Bade- und Uferanlagen gibt es zuhauf, Autobahnanschlüsse ebenfalls, und sogar der Nebel im Winter hat etwas Zauberhaftes. Nur die Hotels rentieren sich nicht recht.
Über den Papst und den unvollendeten Düsenjäger
Über Rorschach, das auf Durchreisende einen etwas heruntergekommenen Eindruck macht, verunstaltet auch von Bauprojekten der jüngeren Zeit, ist kürzlich ein sehr schönes Buch erschienen. In «Rorschach. Geschichten aus der Hafenstadt» erzählt Otmar Elsener die lokale Geschichte des 20. Jahrhunderts in einer Art, die über normale Lokalhistorie hinausgeht. Elsener, ein pensionierter Stickereikaufmann, berichtet zwar wie jeder Lokalchronist von glorreichen Ereignissen seiner Stadt, von der Zeit etwa, als der spätere Papst Pius XII. hier regelmäßig Ferien verbrachte (in einem Mädcheninternat), von der berühmten Flugzeugfabrik Altenrhein, die einen Düsenjäger für die Schweizer Armee bauen wollte und 1958 im letzten Moment daran scheiterte.
Oder – eben – vom industriellen Boom um 1900, als die Bevölkerungszahl dank der vermutlich weltgrößten Stickereifabrik explodierte. Doch mindestens so wichtig wie diese Geschichten, deren sich jede Stadt rühmen möchte, sind dem Autor die kleinen Erinnerungen aus dem Alltag der Leute, etwa die Biografie eines Tessiner Marronibrater- und Rorschacher Kioskbesitzerpaares oder die Geschichte eines Werkmeisters, dessen Onkel mit Herrn Saurer in Arbon ein Schienenauto entwickelte.
Die legendäre, hölzerne Badhütte
Elsener selber, Jahrgang 1934, ist an diesem Ort aufgewachsen, nach zehnjährigem Aufenthalt in den USA kehrte er 1964 zurück, um zu bleiben. Schon auf den ersten Seiten erzählt er vom Geruch des Sommers, den einst der Spritzenwagen auf den staubigen Strassen hinterließ, von Arbeiterkindern, die für die Roco-Konserven in Heimarbeit Bohnen fädelten und Karotten höhlten. Er schreibt über Leichentransporte mit Ross und Wagen, die aufhörten, als 1959 zwei Rappen mit der Leiche quer über den Friedhof durchbrannten, berichtet aus Fabrikhallen und Spielwarenläden, schreibt vom Brüllen des Viehs in den Metzgereien, das dank einem Schlachthof an den Stadtrand verschwand, resümiert die Entwicklung des Lokalsports vom Handball zum Fußball oder die irrsinnige Verkehrsplanung, die immerhin nicht ganz verwirklicht wurde. Mehr als die heute legendäre hölzerne Badhütte von Rorschach (die einzige dieser Art, die am Bodensee übrigblieb) interessiert ihn der Bau des ersten Strandbads, des «Sozibades», gegen das Katholiken agitierten, weil es dort keine Geschlechtertrennung gab. Das Bad lag neben dem Schlachthaus, 1965 ging die Stadtverwaltung dazu über, das Ufer täglich von toten Fischen zu reinigen.
Elsener hat viele ZeitzeugInnen interviewt und scheint sein Leben lang recherchiert zu haben. Wegen der Liebe zum Detail und der literarischen Qualität ist das Buch exemplarisch: Baustein einer Geschichte des Schweizer Alltags und damit auch für LeserInnen geeignet, denen an Rorschach gar nicht soviel liegt.
Autor: Stefan Keller/WOZ
Otmar Elsener: Rorschach. Geschichten aus der Hafenstadt. Appenzeller Verlag, Herisau 2011. 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen. 33 Euro.