Gesichter Stadelhofens Teil V: „Viele sind weg, weil sie’s nicht mehr aushielten“

Als Reinhard Böhler mit 23 Jahren seine Werkstatt in Stadelhofen eröffnete, war er einer der jüngsten Meister im Landkreis und hatte schon eine bewegte Zeit hinter sich. 1953 in Konstanz geboren, verbrachte er seine Jugend auf der Reichenau. Die Verbundenheit zur Insel erkennt jeder, der in sein Büro tritt. Der Platz an den Wänden ist mit Bildern der Gemüseinsel bedeckt. Er sammelt Kunstwerke, die mit seiner Heimat zu tun haben oder von Künstlern stammen, die eine Zeit ihres Lebens dort verbrachten.

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Mindestens genauso beeindruckend wie die Sammlung der Bilder ist dabei der Reichtum an Geschichten, die er zu jedem einzelnen Bild erzählen kann. Der Platz hinter dem Elternhaus, auf dem ein befreundetes Ehepaar einen Wohnwagen geparkt hatte, findet sich dort in Öl. Radierungen zeigen die Orte, an denen er in der Kindheit gespielt hat. Fotografien erzählen Geschichten aus der Nazizeit auf der Insel, als der Obersturmbannführer die Prozession an Maria Himmelfahrt anführte und die Reichenau schon früh als „judenfrei“ ausgerufen wurde.

Reinhard Böhler verbrachte die letzten 50 Jahre an einem anderen Ort. Nach seiner Lehre und Meisterschule bezog er 1976 eine kleine Werkstatt in dem damals industriell geprägten Stadelhofen. Ein Haus mit Geschichte, in dem vor ihm die Familien Storz und Diemer bereits an Autos und davor Kutschen arbeiteten. Er selbst hat das Ende der industriellen Prägung des Viertels erlebt.

Nicht lang nach seinem Einzug verschwanden die großen Automobilfirmen aus dem Viertel. BMW, Mercedes, Citroën und Fiat zog es aus der Innerstadt in das neu entstehende Gewerbegebiet am Oberlohn. Innerhalb von zehn Jahren veränderte sich alles. Es kamen keine Aufträge mehr aus den Autohäusern, die Karosseriearbeiten wurden weniger.

Der Standort, der sich durch seine Nähe zum Bahnhof und die damit gute Verfügbarkeit von Ersatzteilen auszeichnete, wandelte sich. Reinhard Böhler blieb. Er fing an Autos zu verkaufen, lernte die Leute aus der Nachbarschaft kennen, wechselte hier eine Batterie aus, wechselte dort Reifen. Er verkaufte viele englische Autos, Range Rover, Morgan und Jaguars. Aus welchem Grund genau, kann er heute nicht mehr sagen. Den Industriellen verkaufte er englische Sport- und Geländewagen, den Linken skandinavische Modelle.

Er erzählt auch, dass es viele irgendwann nicht mehr in Stadelhofen ausgehalten haben. Zu viel Verkehr und marode Häuser ließen sie wegziehen. Dann kamen viele Italiener und Türken. Denen sei das egal gewesen, denn es sei hier billig gewesen. „Hier bei uns oben hat ein Italiener mit seiner Schwester gewohnt, der hat dort 125 Mark für drei Zimmer gezahlt. Kein Bad, keine Dusche, Schüttstein, das reichte.“

Heute, 25 Jahre nach dem Anschluss des Hauses an die Kanalisation und der Verkehrsberuhigung der Kreuzlinger Straße, sieht das anders aus. Viele seiner Freunde, die aus dem Viertel aufs Land geflohen sind, wollen heute zurück. Er wird bleiben. Schließlich braucht das Viertel ja seinen eigenen KFZ-Meister.

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Benjamin Arntzen (Text und Bilder)


Mit diesem Text endet unsere kleine Serie.
Außerdem erschienen:

09.07.20 | Gesichter Stadelhofens Teil I: Ein „Wohnzimmer für alle“
10.07.20 | Gesichter Stadelhofens Teil II: „Dass es sowas noch gibt!“
13.07.20 | Gesichter Stadelhofens Teil III: „Die Zeiten haben sich geändert, wir nicht“
14.07.20 | Gesichter Stadelhofens Teil IV: „Komm, geh’n wir in den Wald“