„Ein Porträt der nächsten Pandemie“

In diesem Frühjahr erschien ein Buch, das für all diejenigen, die in Regierung, Parlament und Unternehmens-Etagen Verantwortung tragen, unangenehm ist. Unangenehm, weil es Monate vor Ausbruch der Covid19-Pandemie geschrieben wurde und diesem Überraschungs-Getue nach der Devise: „Das konnte ja niemand ahnen, dass ein so böses Virus so flink von Wuhan nach Flensburg und Konstanz kommen kann“ endgültig den Garaus macht.

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„Die Pandemie als psychologische Herausforderung“ des kanadischen Psychologen Steven Taylor belegt auf 185 Seiten, wie intensiv Experten bereits seit Jahren detailliert und nahe an dem potenziellen Viren-Alltag Szenarien entwerfen und Konzepte entwickeln, mit denen (jederzeit mögliche) Pandemien wirksam und überlegt unschädlich gemacht werden sollen. Die Frage, ob es solche Pandemien geben wird, ist für diese Experten keine mehr, sie konzentrieren sich schon lange auf diese beiden: Wann kommt die nächste? Und: Welche besondere Gefahren wird sie mit sich bringen? So schreibt Taylor in seiner Einführung: „Virologen sagen voraus, dass die nächste Influenza-Pandemie in den kommenden Jahren jederzeit auftreten kann — und zwar mit möglicherweise verheerenden Folgen.“ Auch in anderen Wissenschafts-Disziplinen wird das Vertraute betont. So schreibt der Globalhistoriker Jürgen Osterhammel (mit seiner Kollegin Stefanie Gänger) in einem Aufsatz in der neuen Ausgabe der Monatsschrift Merkur, Historikern biete sich in den jetzigen Krisen-Monaten „ein in Grundzügen vertrautes Bild …“. Da es immer wieder Pandemien gegeben habe, seien Quarantänemaßnahmen, Zwangsisolation und andere Formen des social distancing „seit Jahrhunderten bekannt“. Auch die Abwägung von Nutzen und Kosten seuchenpolitischer Maßnahmen, die Stigmatisierung Asiens als Quelle der jeweiligen Seuche, die Hoffnung auf Wundermittel, das alles, so die beiden Globalhistoriker, durchziehe „die Mentalitätsgeschichte der Neuzeit“. Darüber hat übrigens auch der österreichische Journalist und Schriftsteller Robert Misik unter dem Titel „Unruhe im Seuchengebiet“ sehr informativ geschrieben.

Gesellschaften im emotionalen Stress

Taylor konzentriert sich auf Grippe-Pandemien, da er Grippe für „die wahrscheinlichste Quelle der nächsten Pandemie“ ansieht; die sehr unterschiedlichen und bedeutsamen Epidemien wie Ebola-Fieber, Vogel-Grippe, Aids, Sars, Beulenpest, vor allem die Spanische Grippe (mit 35 bis 100 Millionen Toten weltweit) werden auch in seine Analysen einbezogen. Und er konzentriert sich auf die Perspektive der Sozialpsychologie, denn die werde von den Verantwortlichen auch heute weithin vernachlässigt, so Taylor.

Wie reagiert ein Mensch, eine Gesellschaft auf die Gefahr einer Pandemie? Das ist für Taylor die Leitfrage, die Raum für rationale Überlegungen ebenso wie für „irrationale“ Gefühle schafft. Er will die bisherigen Erfahrungen sichten: was wirkte gut bei früheren Pandemien, gab es wirtschaftliche Gründe für den Ausbruch, wie sehr waren die Menschen und Gesellschaften emotional gestresst. Und er will das jeweils Besondere herausarbeiten: Die nächste Pandemie — also die jetzige —, schrieb Taylor im Sommer 2019, werde die erste im Zeitalter von weltweit voll entfalteten sozialen Medien, von Internet und Mobilfunk sein. Mit unterschiedlichen Folgen: einerseits der Möglichkeit, trotz körperlicher Distanz (medial) in Kontakt zu bleiben, andererseits der Möglichkeit, richtige und wichtige Informationen ebenso schnell weltweit zu verbreiten wie irreführende.

Taylor versucht, mit Hilfe von Fallbeispielen, der Analyse früherer Seuchen und wissenschaftlicher Untersuchungen über Pandemieverläufe in der Menschheitsgeschichte das verfügbare Wissen und die Erfahrungen so verdichtet aufzuarbeiten, dass in einer aktuellen Krise, also einer wie jetzt, darauf zurückgegriffen werden kann. Er wolle auf diese Weise „ein Porträt der nächsten Pandemie“ zeichnen, schrieb er viele Wochen vor dem Ausbruch in Wuhan. Und das macht er gründlich und systematisch. Und immer mit dem Blick auf das, was Gesellschaften besser machen können: in der Vorsorge, in der Fürsorge während der Krise. Fachleuten kann es eine Art Handbuch sein.

Pandemien — viel mehr als eine Frage der Medizin

Der entscheidende Ansatz von Taylor: Er sieht in Pandemien nicht allein ein medizinisches Problem, das Virologen, Biologen und Ärzte zu klären haben. Er bringt seine Kompetenzen als Verhaltensforscher und Sozialpsychologe ein, hält diese für mindestens so wichtig wie die der Virologen und Ärzte. Taylor: „Die persönlichen finanziellen Auswirkungen einer Pandemie können so heftig und aufreibend sein wie die Infektion selbst …“ Bei der Spanischen Grippe sei teilweise die Grundversorgung der Gesellschaften zusammengebrochen, oft sei das Gesundheitssystem überlastet. Aufgrund seiner ganzheitlichen Betrachtung haben für ihn die Rolle von sozialen Medien, der Umgang mit Gerüchten und Verschwörungsideologien, die Zunahme von Aberglauben, Fremdenfeindlichkeit, seelischen Nöten und Angststörungen (unter anderem wegen gefährdeter und unsicher gewordener Gesundheit, Finanzen und Arbeit), auch die Einstellung der Bevölkerung zu Impfungen von Anfang an eine hohe Bedeutung.

Taylor sieht Pandemien als psychologische Prozesse, bei denen das Verhalten der Bevölkerung darüber entscheide, wie stark sie sich ausbreiten können: gibt es soziale Unruhen, lässt sich die Bevölkerung impfen, beherzigt sie Hygiene-Regeln und social distancing? Denn diese Maßnahmen seien, so Taylor, zusammen mit einer überlegten Risiko- und Krisenkommunikation für die Eindämmung der Infektionsausbreitung entscheidend. Eine Erkenntnis, die von Gesundheitsbehörden und Politik „vernachlässigt“ werde. So sei von früheren Pandemien „gut dokumentiert“, dass Menschen (aus kulturellen und sozialen Gründen) häufig die Quarantäne-Richtlinien unterlaufen wollten.

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Der nächste Konflikt: Impfpflicht ja oder nein?

Meist ersehnten alle den rettenden Impfstoff. Gebe es ihn, gebe es mit ihm den nächsten Konflikt: „Die Nicht-Einhaltung von Impfungen ist selbst während einer Pandemie ein weitverbreitetes Problem.“ Die Demonstrationen von Reichsbürgern, Rechtsextremen, aber auch Impfgegnern aus Angst oder Überzeugung, die es momentan immer wieder in Stuttgart, Berlin, Frankfurt und anderswo gibt, geben einen Vorgeschmack. Taylor zitiert Studien und statistische Untersuchungen, die belegen, dass sich während der Schweinegrippe-Pandemie 2009 in den USA, Kanada und England, „weniger als 40% der Menschen“ um eine Impfung bemühten oder überhaupt die Absicht hegten, sich impfen zu lassen; weil sie meinten, sie nütze nicht, sei gefährlich oder weil sie grundsätzlich Impf-Gegner sind. Auch hier, so Taylor, ist eine Krisenkommunikation von hoher Bedeutung, die es vermöge, Kritiker wenigstens anzusprechen oder gar zu überzeugen. Diese Leute wahlweise als rücksichtslos oder dumm abzuqualifizieren, wie dies Anfang August nach Demonstrationen in Berlin viele Politiker machten, hilft vermutlich nicht viel weiter. Der Rat von Taylor: Es sei „zentral“, dass die zuständigen Behörden „ein tieferes Verständnis der motivationalen Wurzeln dieser negativen Einstellungen“ entwickelten. Immerhin habe die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in 2019 den Widerwillen gegen oder die offene Ablehnung von Impfungen „als eine der wichtigsten zehn Gesundheitsbedrohungen ausgemacht“.

„Der psychologische Fußabdruck wird stärker sein als der medizinische“

Immer wieder behandelt Taylor Themen, die in diesen Monaten in mühsamen strittigen Debatten zwischen Politik, Experten und Bevölkerung wiederholt neu ausgehandelt werden. So behandelt er beispielsweise die entscheidende Rolle des Superspreading bei der Verbreitung von Krankheiten, was im Jahr 2003 beim Ausbruch von Sars „gut dokumentiert wurde“. Die Rolle von Schulschließungen ebenso wie die Notwendigkeit, dass Social Distancing „unverzüglich, rigoros und konsequent“ umgesetzt werden müsse, weil es sonst nicht wirke. Und er behandelt auch die Frage von obligatorischen Impfungen, die er für bestimmte Berufsgruppen (Krankenhauspersonal) empfiehlt. In einem gerade erschienenen Spiegel-Interview berichtet er über eine aktuelle empirische Studie mit 7.000 Personen aus den USA und Kanada. Sie gebe Hinweise auf ein „Covid-Stress-Syndrom“, das sich konkret in Alpträumen, Hamstern, obsessivem Covid-Medienkonsum, einer ständigen Gesundheitskontrolle und auch in erhöhtem Drogenkonsum manifestiere. Es gehe dabei um drei Ängste: die vor dem Virus und um die eigene Gesundheit, die um die eigene wirtschaftliche Lage. Und drittens gebe es eine Form von Rassismus, „also die Angst, dass Menschen aus anderen Ländern die Infektion verbreiten“; dieser Rassismus sei „immer schon ein Merkmal jeder anderen früheren Pandemie“ gewesen.

Die Vermutung von Taylor mit Blick auf künftige Pandemien: Der psychologische „Fußabdruck“ einer Pandemie, also die Wirkung auf das künftige Verhalten der Menschen, werde „wahrscheinlich größer sein als der medizinische“, also die nackte Zahl an Toten und genesenen Erkrankten und deren Elend. Das könne sowohl anhand von SARS im Jahr 2003, als auch anhand der Ebola-Krise in 2014 und 2015 belegt werden. Was von der jetzigen Pandemie für künftige gelernt werden könne, will der Spiegel-Journalist wissen. Taylor: „Wir sollten diese Pandemie als eine Art Testlauf verstehen“, denn es werde eine weitere geben, „es ist unvermeidlich“.

Wolfgang Storz (Bild: Arnold Böcklin, Die Pest [1898], Ausschnitt)

Der Text erschien erstmals in bruchstücke Blog für konstruktive Radikalität


Steven Taylor, 2020: Die Pandemie als psychologische Herausforderung. Ansätze für ein psychosoziales Krisenmanagement, Psychosozial Verlag, Gießen, 185 Seiten, 19.90 Euro