Adolf Dietrich – einmal ganz anders

Mit einem Klassiker der Moderne beginnt der junge Verlag saatgut aus Frauenfeld sein ambitioniertes Programm. Es ist ein opulentes Buch zu Adolf Dietrich (1877–1957) aus Berlingen am Untersee, einem wichtigen Vertreter von Neuer Sachlichkeit und Naiver Malerei. Geschrieben hat es Willi Tobler, ein ausgewiesener Spezialist, der seit seiner Pensionierung Programmgestalter des Adolf-Dietrich-Hauses in Berlingen ist – und manchen LeserInnen schon früh durch seine Kinderbücher ans Herz wuchs.

Als der im Jahr 2019 gegründete Frauenfelder saatgut-Verlag vor einigen Monaten seine erste Buchpublikation, ein Buch zum und über den Maler Adolf Dietrich, ankündigte, war man geneigt zu denken: Adolf Dietrich: schon wieder? Da gab es den von Heinrich Ammann in den späten 70er Jahren edierten opulenten Bildband und zuletzt ein im Jahr 2002 erschienenes Glossar Malermeister, Meistermaler mit dem gesamten erhaltenen Briefwechsel, den sich der Autor des neuen Bands Willi Tobler, ein langjähriger Kenner des Werks von Adolf Dietrich und Schwiegersohn von Heinrich Ammann, zunutze gemacht haben mag.

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Für Kinder und ihre Erwachsenen

Der Autor erzählte bei der Präsentation seines Buches für die Medien, seine erste Bekanntschaft mit einem Bild des Malers, das einen Hund zeigte, habe er als Seminarist in Kreuzlingen gemacht. Und ganz ähnlich ist es dem Rezensenten gegangen: Im großen Lehrerzimmer des Thurgauischen Lehrerseminars in Kreuzlingen hing dazumal sein mittlerweile berühmtes, zwei Jahre vor seinem Tod gemaltes Hundebild Balbo, auf der Wiese liegend.

Also noch einmal Adolf Dietrich?

Ja, aber ganz anders. Willi Tobler nennt sein Buch Das Leben des Malers Adolf Dietrich und fügt im Gespräch hinzu, es sei ein Lesebuch für „Kinder und ihre Erwachsenen“. Er erzählt das Leben des Adolf Dietrich von seiner Geburt bis zum Tod anhand von Korrespondenz und anderen Quellen und stellt jedem der zumeist kurzen Texte ein Bild zur Seite, berühmte und weniger bekannte, darunter auch mit Bleistift oder Kohle angefertigte Zeichnungen. Auf diese Weise beherzigt er bewusst oder unbewusst ein Diktum der amerikanischen Autorin Susan Sontag, die in ihrem Essay Under the Sign of Saturn schreibt: „Man kann das Leben nicht dazu benutzen, um das Werk zu interpretieren. Aber man kann das Werk dazu benutzen, um das Leben zu interpretieren.“ Eine wichtige Erkenntnis, mit der in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts der werkimmanenten Interpretation und dem Geniekult ein Ende gesetzt wurde. Genau dieser Methode bedient sich Willi Tobler mit Gewinn für den Leser und den Betrachter.

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Ein schönes Buch

Der für ein Kunstbuch eher dünne Band im Großformat 24 x 30,5 cm wurde vom versierten Frauenfelder Grafiker Urs Stuber schlicht, unaufdringlich, aber großzügig gestaltet. Ein schönes Buch, in dem die Texte und die sehr guten Fotografien der Bilder und Zeichnungen, Werk und Leben ebenbürtig nebeneinander stehen. Ein gelungener Erstling also des saatgut-Verlags, der sich der Förderung der Thurgauer Kultur- und Literaturszene verschrieben hat, sofern sie denn Ausstrahlung über den Kanton hinaus verspricht.

Jochen Kelter

Bild: Adolf Dietrich, Balbo, auf der Wiese liegend, 1955, bearbeitet (Foto: Stephan Rohner, Adolf Dietrich / CC BY-SA 3.0 DE)