Ich, Olaf Scholz
Wie ist er denn so? Vor allem unverwüstlich. Als er das Ringen um den SPD-Vorsitz verlor, und bei der Bekanntgabe des Ergebnisses am Abend des 30. November sogar sichtbar kurz erschüttert wirkte, schien er wieder einmal am Ende — um neun Monate später Kanzlerkandidat zu sein. Die Co-Vorsitzende Saskia Esken meinte bei der Präsentation: „Scholz hat den Kanzler-Wumms.“ Er: „Ich freue mich über die Nominierung als Kanzlerkandidat – und ich will gewinnen.“
Seine wie geliftet wirkende Minimal-Mimik beschrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) schon im Jahr 2002 nach Erinnerungen eines Weggefährten so: Bei Sitzungen könne er erst „wie versteinert“ zuhören, um den Anderen dann „in langatmigen Reden die wahre Lehre“ einzutrichtern, „ohne ein Lächeln“. Seine Sprache passt dazu; Form und Inhalt sind also grob in Deckung. Denn ein Jahr später, 2003 — Scholz war damals Generalsekretär der Partei —, entdeckte der Journalist Jan Roß seine maschinellen Teile: „Scholzomat“ taufte er ihn, weil Scholz oft wenige Worte oder Sätze, wie am Fließband produziert, automatisiert wiederholte. Heute ist für die FAS das wichtiger: Er sei „krisenerfahren, sachorientiert, unideologisch.“ Und das Handelsblatt charakterisiert: durchsetzungsstark, zuverlässig, Meister des Kompromisses. Die FAS hat sein engeres Umfeld („Küchenkabinett“) umfassend porträtiert — von seiner Ehefrau Britta Ernst, dem Vordenker Benjamin Mikfeld über den Pressesprecher Steffen Hebestreit bis zu Staatssekretär Jörg Kukies, ehemaliger Investmentbanker — und dabei herausgefunden: „Nur seiner Frau erzählt der Chef wirklich alles.“
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Wirkt alles erwartbar solide.
Wer einen Blick auf sein politisches Leben wirft, der kann Scholz allerdings auch so sehen: Er ist alles andere als ein Parteigänger der Zuverlässigkeit. Seine Spezialität: nicht selten gegenteilige Haltungen einnehmen und diese jeweils mit der Maßlosigkeit des 150-Prozenter vertreten.
Gegen den Kapitalismus
Olaf Scholz vertrat als stellvertretender Bundesvorsitzender der Jungsozialisten die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (Stamokap); kurz definiert, aber deshalb nicht falsch: das Finanzkapital hat das Sagen, auch über den Staat. Witzigerweise stimmt das heute mehr als damals, vor allem weil Gerhard Schröder mit seinen Rotgrünen (und Scholz) Anfang bis Mitte der 2000er Jahre Banken, Versicherungen und Hedgefonds Tür und Tor öffneten; einst kämpfte Scholz gegen das Finanzkapital, heute füttert er es (Cum-Ex, Warburg, Wirecard). Das Handelsblatt hat über den Scholz der 1980er Jahre — er war damals immerhin 25 bis 30 Jahre alt, also geschäfts- und denkfähig und angehender Arbeitsrechtler — diese schöne Geschichte ausgegraben: Den damaligen Juso-Bundesvorsitzenden Willi Piecyk, ein nicht-marxistischer Reformer, soll Scholz auf dessen Frage, warum es zwischen ihnen beiden denn ständig Konflikte gebe, angebrüllt haben: „Weil du den Kapitalismus nicht so sehr hasst wie ich!“ In Schriften unterfütterte Scholz damals seine Positionen über die „aggressiv-imperialistische Nato“, die Bundesrepublik als „europäische Hochburg des Großkapitals“ und forderte „die Überwindung der kapitalistischen Ökonomie“. Heute könne er über den „fachlichen und sachlichen Schwachsinn“ seiner damaligen Positionen nur lachen, betont er, wenn er heute auf das Frühere angesprochen wird.
Für den Kapitalismus
Wie tief Olaf Scholz seit Jahren das Wesen des Kapitalismus verinnerlicht hat, ist bei dem Soziologen Stefan Kühl nachzulesen, der über „Brauchbare Illegalität“ und Regelverletzungen arbeitet. Er beschäftigt sich auch mit dem Bilanzskandal des bisherigen Vorzeige-Finanzdienstleister Wirecard — von heute auf morgen fehlten irgendwie zwei Milliarden Euro — und den vielen Forderungen, man müsse doch jetzt die Regeln verschärfen, um solch‘ verwerflichem Tun ein- für allemal einen Riegel vorzuschieben. Kühl ist folgende Feststellung sehr wichtig: „Es wird dabei jedoch verkannt, dass die kreative Buchführung von Unternehmen die fast zwangsläufige Nebenfolge einer durch den Finanzmarkt getriebenen Wirtschaft ist.“ Und seit wann sind die Finanzmärkte so mächtig, dass sie die ganze Wirtschaft treiben und immer wieder zu „phantasievollen Formen der Bilanzkosmetik“ antreiben? Das ist so, seit Kanzler Gerhard Schröder und sein bis heute einflussreiches Team aus Frank-Walter Steinmeier, Peer Steinbrück, auch Hans Eichel und eben Olaf Scholz, dem Stamokap-Experten, in den Jahren 2000 bis 2005 mit vielen Gesetzen alle Fesseln und Hürden für Banken, Versicherern, Hedge- und Kapitalfonds aus dem Weg räumten; so dass sich unter anderem immer mehr Unternehmen mit Risikokapital finanzieren (können und müssen).
Das war der erste Teil der Agenda 2010; die Finanzmarktpolitik, wegen der es bereits zuvor zum Bruch mit Oskar Lafontaine gekommen war. Es gab noch einen zweiten Teil, ebenfalls harter Tobak, besonders für das SPD-Klientel aus Facharbeitern und Angestellten. Mit der HartzIV-Gesetzgebung wurden Hilfen und Rechte für Arbeitslose stark eingeschränkt und auf dem Arbeitsmarkt generell eine Spirale nach unten geöffnet: So sollten die damals etwa fünf Millionen Arbeitslose von der Straße geholt werden, indem jeder und jede von ihnen jederzeit eine auch deutlich schlechtere Arbeit zu noch niedrigerem Lohn annehmen musste; bisherige Erfahrungen und Qualifikationen galten nichts mehr. Ein Ergebnis: der größte Niedriglohnsektor in den westlichen Industrieländern ist in Deutschland.
Ehrensache für Olaf Scholz auch diesen Kampf ganz vorne zu fechten: als Generalsekretär der SPD (siehe oben: „Scholzomat“ oder „Hofsänger des Kanzlers“); damals wurde übrigens die Linkspartei zur gesamtdeutschen Partei. Er sieht auf diese Zeit ganz anders: „Ich empfand mich als Offizier. Ich wollte nicht mich retten, sondern meine Partei.“
Der Soziologe Sighard Neckel, heute Universität Hamburg, sieht in der Agenda-Politik und damit auch in der Arbeit von Scholz den eigentlichen Grund für die anhaltende Schwäche der SPD: „Denn diese Gesetze anerkennen die lebenslange Arbeitsleistung von Lohnabhängigen gar nicht oder nur sehr gering. Weil der Wert von Arbeit jedoch … den Kern der Sozialdemokratie ausmacht …, hat sich die SPD mit dieser Gesetzgebung als Partei und als Milieu zersetzt.“
Das galt 2013, als Neckel dies sagte, das gilt heute noch. Die Wahlforschung belegt: Es gibt kein typisch sozialdemokratisches Milieu mehr; was an strukturellen gesellschaftlichen Tendenzen liegt, aber eben auch an der Agenda-Politik, die ein Schock für die damalige Kernklientel war.
Das dritte Beispiel: Scholz war Verhandlungsführer der Sozialdemokraten, als es um das Klimapaket der Bundesregierung ging. Stolz präsentierte er die Ergebnisse Ende 2019. Die Inhalte sind an den Reaktionen abzulesen: Die Industrie atmete auf, die Umweltschützer empörten sich, die Wissenschaftler benoteten: nicht ausreichend. Scholz sah dies so: „Was wir vorgelegt haben, ist ein großer Wurf.“
Für rigides Sparen — die rotschwarze Null
April 2018, Scholz ist gerade frisch als Bundesfinanzminister gewählt und nimmt zum ersten Mal an einem IWF-Treffen teil, so die Schilderung in einem Porträt des Handelsblatts.
Frage an ihn: Ob er erklären könne, was er anders machen werde als sein Amtsvorgänger Wolfgang Schäuble (CDU). Die Antwort: „Nein.“
Diese Antwort war ebenso richtig, wie die Politik falsch, die bereits Wolfgang Schäuble seit Jahren betrieb und Scholz mit derselben Rigidität nur fortsetzte: eine Schwarze Null um fast jeden Preis; der Spott über Scholz: die rote Null. Auf keinen Fall neue Schulden, um fast jeden Preis Schulden abbauen. Was sprach in diesen Zeiten (lange vor der Pandemie) dagegen? Das: Seit Jahren kann (auch) der Staat Kredite zu Null Zinsen oder sogar Negativ-Zinsen aufnehmen. Billiger kann er also seine Investitionen nicht finanzieren. Und der Bedarf ist enorm: ein dramatischer Verfall der öffentlichen Infrastruktur — Schulen, Brücken, Straßen, Bahn, Schwimmbäder, öffentliche Gebäude werden seit vielen Jahren nicht mehr saniert und verkommen. Seit 2000 wurde in vielen Jahren nicht einmal die Instandhaltung, also die Substanz finanziert; das heißt, der öffentliche Kapitalstock schrumpft. Nach seriösen Berechnungen – unter anderem auf Basis von Befragungen des Deutschen Institut für Urbanistik (dfu) – betrug der Investitionsrückstand im Sommer 2015 rund 136 Milliarden Euro. Ein weiterer Rückstand: Wenn Deutschland nur so viel Geld in die Bildung stecken würde wie der Durchschnitt der OECD-Länder, hätte es 2015 rund 21 Milliarden Euro zusätzlich ausgeben müssen. Soll denn den kommenden Generationen eine Baustelle anstelle eines funktionierenden Staates hinterlassen werden?
Der Unterschied zwischen Schäuble und Scholz: Ersterer ist ein Konservativer, zu denen eine solche Politik ideologisch passt — und tut nicht so als sei er Sozialdemokrat.
Michael Hüther, als Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft qua Amt Chefideologe der Arbeitgeber, hat viele Jahre lang das Dogma von Schwarzer Null und Schuldenbremse vertreten. Bereits zwei Jahre vor der Pandemie rückte er (öffentlich) davon ab. Der Grund: Auch er sah inzwischen die seit Jahren unübersehbaren Mängel in der öffentlichen Infrastruktur — wenn es Schulen an digitaler Hard- und Software ebenso fehlt wie an funktionierenden Toiletten, dann ist es auch für einen Michael Hüther zu weit gekommen.
Auch das sieht Scholz völlig anders. Er ist stolz auf seine Spar-Politik, die die von Schäuble ist, und begründet sie in den heutigen Pandemie-Zeiten so: Deutschland könne die jetzige Krise auch ökonomisch nur „stemmen“, weil „wir in den vergangenen Jahren konsequent eine solide Haushaltspolitik betrieben haben“. Und: „Wir haben die Staatsschulden seit der Finanzkrise vor zehn Jahren auf 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zurückgeführt …“ Von zuvor 80 Prozent.
Das kann man so sehen. Mehr spricht für eine gegenteilige Sicht: Weil so rigide gespart wurde, war der Staat denkbar schlecht auf diese Krise vorbereitet: zusammengesparte Gesundheitsämter, monatelanger Mangel an notwendigsten Schutzkleidungen, keine Puffer in der Katastrophenvorsorge, Schulen im analogen Zeitalter — die Liste ist lang.
Für das Geld-zum-Fenster-Hinauswerfen
Nun betreibt Olaf Scholz (wegen der Pandemie) das Gegenteil seiner vorigen Politik und auch das wieder maßlos. Über das von ihm jahrelang als Nummer 1 thematisierte Problem zu hoher Staatsschulden redet er nicht einmal mehr. Ist es nun ein Problem oder keines? Vom Gralshüter der schwarzen Null zum ersten Schuldenmacher der Republik. Er lobt seine neue Laxheit ebenso wie seine alte Rigidität. Für 2020 kalkuliert Scholz mit knapp 220 Milliarden zusätzlicher Schulden. Und 2021 bleibe er bei diesem Kurs, kündigte er schon an. Eine Kanzlerkandidatur auf Pump. Da wird das Kurzarbeiter-Geld schnell mal verlängert, ebenso die Insolvenzantrags-Pflicht (damit es vor der Wahl zu nicht so vielen Insolvenzen kommt), neun Milliarden für die Lufthansa, drei Milliarden für TUI und so weiter und so fort. Wie wirksam ist das denn und wie zukunftsträchtig? Auch die französische Regierung hilft Airbus mit zig Milliarden. Wirtschaftsminister Bruno Le Maire gibt jedoch vor: Es sei gemeinsames Ziel, bis 2035 ein Flugzeug zu entwickeln, das „kohlenstoffneutral fliegt“. Und der Air France wird im Gegenzug für Hilfen das Ziel gesetzt, viele der Inlandsflüge zugunsten der Bahn einzustellen. So kann gezieltes Geldausgeben aussehen: nicht nur erhalten, was ist und wie es ist, sondern helfen und zugleich neue Wege einschlagen.
Oder: die einmalige Vermögensabgabe; also bewusst keine dauerhafte Vermögenssteuer. Französische Ökonomen, wie Gabriel Zucman, schlagen vor, von Millionären ein Prozent des Vermögens, das die ersten zwei Millionen übersteigt, zu erheben; zahlbar über einen Zeitraum von zehn Jahren. Und von Milliardären drei Prozent des Vermögens, das die erste Milliarde überschreitet.
Weitere kleinere Eruptionen
Es gibt noch weitere Beispiele, die das Bild des maßvoll-überlegten und zuverlässig-pragmatischen Olaf Scholz ins Wanken bringen können. Seine Amtszeit als Erster Hamburger Bürgermeister gilt weithin als glänzender Erfolg. Jedoch: Er wollte mit aller Energie Hamburg als Austragungsort der Olympischen Spiele 2024 — und scheiterte bei einer Volksabstimmung im Jahr 2015 grandios. Für den maßlosen Ehrgeiz, aus Gründen des Prestiges mitten in (der größeren) Stadt Hamburg einen G20-Gipfel auszurichten, riskierte er Krawalle, Straßenzüge in Flammen, mindestens einen Stadtteil im Belagerungszustand — während der Erste Bürgermeister in der Elbphilharmonie lauschte und sich die Welt wunderte, was die im ordentlichen Deutschland so alles machen. Er sah danach (selbstverständlich) bei sich gar keine Fehler und mit etwas zeitlichem Abstand fast keine. Als im Nachhinein weit über 100 Ermittlungsverfahren gegen Polizisten angestrengt wurden, kommentierte er: „Polizeigewalt hat es nicht gegeben, das ist eine Denunziation, die ich entschieden zurückweise.“
Und als Hamburger Innensenator — das war er von Mai bis September 2001 — führte er das ein: Drogendealern können, um Beweise zu sichern, zwangsweise Brechmittel verabreicht werden. Die Hamburger Ärztekammer warnte damals vor erheblichen gesundheitlichen Gefährdungen, und Justizsenator Roger Kusch merkte an, dies kurz vor Bürgerschaftswahlen einzuführen, habe „einen Geruch von Unseriösem“; im Jahr 2006 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Brechmitteleinsatz übrigens als menschenrechtswidrig.
Gang durch die Innereien — ein Überblick
Der (partei-)politische Werdegang des 1958 in Osnabrück geborenen SPD-Scholz:
■ Mitglied der SPD (seit 1975)
■ Stellvertretender Bundesvorsitzender der Jungsozialisten (1982 bis 1988)
■ SPD-Kreisvorsitzender in Hamburg-Altona (1994 bis 2000)
■ Bundestagsabgeordneter der SPD (1998 bis 2011, mit kurzer Unterbrechung)
■ SPD-Landesvorsitzender (2000 bis 2004, wiedergewählt 2009)
■ Innensenator in Hamburg (Mai bis September 2001)
■ SPD-Generalsekretär (2002 bis 2004)
■ Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion (2004 bis 2007)
■ Mitglied des SPD-Bundesvorstandes (seit 2002)
■ Bundesminister für Arbeit und Soziales (2007 bis 2009)
■ Stellvertretender Bundesvorsitzender (seit 2009)
■ Erster Bürgermeister von Hamburg (Februar 2011 bis 2018, Wiederwahl in 2015)
■ Kommissarischer SPD-Vorsitzender (Februar 2018 bis zur Neuwahl)
■ Vizekanzler und Bundesfinanzminister (seit Februar 2018 bis 2021)
■ Kanzlerkandidat der SPD (seit Sommer 2020)
Sich Veränderungen verweigern
Passt Olaf Scholz in unsere Zeit? Kann er die jetzigen Herausforderungen bewältigen? Nimmt er sie überhaupt wahr?
Was macht unsere Zeit denn aus? Das deutsche Exportmodell, das entscheidend für den hiesigen Wohlstand ist, stößt an Grenzen; nicht nur, aber auch wegen der Pandemie, die ja nicht die letzte sein wird. Die Automobilindustrie steht vor einem gewaltigen Umbruch. Der Digitalisierungsschub wird Arbeiten und Leben deutlicher verändern als noch vor wenigen Monaten gedacht. Wissenschaftler warnen, die psychischen und seelischen Folgen der Pandemie könnten noch viel stärker als die medizinischen sein. „Eisfreies Wasser über weite Strecken“, meldete vor wenigen Tagen der deutsche Forschungseisbrecher „Polarstern“, als er den Nordpol passierte; eine historische Entwicklung. Bei uns gehört die Klimakatastrophe mit Hitzeperioden zwischen 30 und 40 Grad und vor allem mit Dürreperioden zum Alltag. Und dann natürlich noch die ungewissen Folgen der jetzigen Pandemie für die Wirtschaft in Deutschland und anderswo; zeitgleich mehrere existenzielle Herausforderungen. Anders Indset, einer der momentanen In-Philosophen, sieht: den „Niedergang des Alten und gleichzeitig Entstehung von Neuem, ohne dabei Alt und Neu definiert zu haben“.
In Scholz‘ Reden ist das Neue und die Dramatik des Jetzigen nur selten zu entdecken. Vielleicht will er die Menschen beruhigen, indem er einfach weiter spricht wie zuvor: „Jetzt gilt es, mutig Beschlüsse zu fassen und zügig alles Notwendige zu tun.“ Ok. Und: Diese Krise zeige, wie verletzlich „wir Menschen“ seien. Und er sieht keinen Grund, am Wirtschaftsmodell etwas zu ändern. Nur das: „Klug wäre es aber, die Lieferketten etwas stärker abzusichern — und bestimmte Produkte künftig auch wieder in Europa herzustellen.“ Und geht es um neue Ideen, beispielsweise um das bedingungslose Grundeinkommen — zugegeben: sehr umstritten —, dann setzt er sich damit nicht auseinander, sondern schubst das Thema mit einer herablassenden Handbewegung vom Tisch: „Das wäre Neoliberalismus.“
Für sich Selbst — Ich, Olaf Scholz
Ein Autoren-Team des Handelsblatts kommentiert in einem großen Porträt: Er sei — im Unterschied zu Angela Merkel — so sehr von sich eingenommen, dass er seine Defizite nicht wahrzunehmen vermöge. Umso mehr seine Überlegenheit. So wird erzählt: In Telefonschaltkonferenzen von Partei und SPD-Ministerien pflege er meist als Letzter das Wort zu ergreifen, auch um anmerken zu können, wo der eine oder andere Vorredner die Sache wieder einmal nicht zu Ende gedacht habe. Und diese wunderbare Geschichte des Autorenteams zum Schluss: Auf seiner ersten IWF-Tagung 2018 als Bundesfinanzminister habe er in einer Diskussionsrunde gesagt: „Durch die Kurzarbeit habe ich während der Finanzkrise Massenarbeitslosigkeit verhindert.“ Die neben ihm sitzende damalige IWF-Chefin Christine Lagarde habe darauf im Scherz zu ihm gesagt: „Ah, wir haben uns immer gefragt, warum Deutschland so gut durch die Krise gekommen ist, Sie waren das also.“ Scholz darauf: „Ja, genau.“ Die Anwesenden waren sich sicher: Diese Antwort war komplett humorfrei.
Den Artikel über Scholz, oder auch ähnliche Artikel über Land, Bund, Europa oder die weite Welt, möchte ich auch in der seemoz nicht missen.
Gerade seemoz, im besten Fall nahe am regionalen Pulsschlag, kann ja im Wesentlichen mit Informationen und damit aufgeworfenen Fragen zwar politischen Einfluss ausüben, dies aber nur in einem begrenzten Rahmen und nicht mit jener Wirkmächtigkeit, wie ich mir das wünschen würde.
Man sehe sich jetzt aber mal, am Beispiel des OB-Wahlkampfes, die in den Vordergrund getretenen Fragestellungen des Lebens in Konstanz an. Nehmen wir das Wohnungsproblem, die Dringlichkeit einer Verkehrswende als wichtigen Teil nicht nur des Kampfes um Klimaneutralität, sondern um Lebensqualität schlechthin. Da gibt es unterschiedliche Lösungsansätze der einzelnen OB-Kandidaten, IMHO Nebelkerzen, Bagatellisierungsversuche und stimmenfangende Lügen, aber auch redliches Bemühen, im Rahmen des Machbaren Schritte in die richtige Richtung zu gehen, wenn nicht sogar den alten betonfesten Klüngel aufzubrechen.
Der Bewerber, der mit Transparenz, „Bürgernähe“ (nicht zu verwechseln mit Drängeleien im Hinterzimmer) und Wahrnehmung und Berücksichtigung der gesellschaftlich zu kurz Gekommenen etwas anfangen kann, ist Luigi Pantisano.
Er könnte am Ehesten das sein, wie man sich sozialen und demokratischen OB vorstellen mag (also „sozialdemokratisch“, nicht unbedingt zu verwechseln mit SPD).
Gleichwohl wird er keine Wunder vollbringen können.
Und daran ist eben zu einem guten Teil der Herr Scholz schuld, über den jeder, der an einen kommunalpolitischen Fortschritt glaubt, so viel missen müsste, ihm kein einziges Wort mehr zu glauben.
Das gilt vermutlich noch mehr für UvdL, Merkel, Seehofer, Kretschmann und Özdemir/Bärbock. Und erst recht für die Schwarz-Braun-Blauen, auch nicht viel mehr als für die EU-Kommission, denn der Fisch beginnt bekanntlich vom Kopf her zu stinken.
Das sind die personifizierten Verderber von Sozialstaat und und freiheitlicher Demokratie, und das sind auch die, die dafür sorgen, dass im finanzpolitischen Teil der Coronapolitik der Teufel wieder mal auf die größten Haufen geschissen hat, dass die CUM-EX-Kriminellen ihre Beute wohl behalten dürfen, und dass wir auf Weisung des US-Hegemon noch stärker weltweit Krieg und Not finanzieren. Da ist dann das Geld, das dringend gebraucht wird.
Und wenn mir jemand aus den bürgerlichen Parteien kommt, mit der heuchlerischen Ausrede, es sei halt kein Geld da, für Dieses und Jenes, das sie ja auch für die Bürger wollten, dann nehme ich mir die Freiheit, ihnen zu sagen:
NEIN, das wollt ihr nicht für die Bürger, denn wenn ihr das wollen würdet, hättet ihr eurer Partei längst den Rücken gekehrt oder würdet dafür sorgen, dass diese Armuts- Erzeuger und -Verwalter endlich mal konsequent christlich, sozial, grün oder sonstwas, was auf dem Etikett steht, werden.
Für Luigi Pantisano, dessen politische Ansichten alles Andere als kongruent mit meinen sind, hoffe ich, dass er zuerst die Wahl gewinnt, und dann bezüglich Wohnen und Verkehr mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln das Menschenmögliche rausholt.
Und ich denke, ich kann mich auf ihn verlassen, dass er das was kein Geld kostet, nämlich Transparenz und Bürgernähe, endlich auf Gegenkurs zum Konstanzer Klüngel bringt.
Und dabei hoffe ich, dass er die Unterstützung der Konstanzer Bürger, die nicht nur auf ihre Pfründe starren, erhält.
@Lieber Herr Pauli,
seemoz bietet eine gut ausgewogene bunte Mischung. Und die Last der Welt kann eine „kleine Redaktion (?) auch nicht alleine tragen. Das ist mir schon klar. Also freuen wir uns auf die allmorgendlichen lokalen und manchmal auch überregionalen Nachrichten, die manchmal davon künden: „Hinter dem Horizont geht´s weiter,“
Ihnen und den seemozen wünsche ich einen schönen Sonntag.
Lieber Peter Groß, ihren posts nach zu urteilen sind sie sicherlich ein Politik-Fex und profunder Kenner der Politik-Szene im Bodenseeraum Konstanz und darüber hinaus. Sie haben recht, es ließe sich viel schreiben über Herrn Scholz, G 20 Demo, wirecard, Cum-Ex , die Spd usw., auch gibt es bestimmt viele Verbindungen von der „großen Politik“ zur Stadtgesellschaft Konstanz.
Ich meine nur, man sollte das kommunale/regionale nicht geringschätzen . In der Niederburg, Cherisy und Paradies sind die Probleme ähnlich wie in Stuttgart oder Berlin – nicht ganz so krass! und SEEMOZ bietet (als Teil der Stadtgesellschaft) eine Plattform für Diskussion über Themen und Strategien zu Wohnen, Klima, Jobs usw. aus linker Perspektive, in diesem Sinn…
@Lieber Pauli Heinzelmann,
ich bin recht froh über die gelegentlichen „seemoz-Ausflüge“ in die weite Welt. Das hängt auch mit den zunehmenden Lesesperren und Qualitätsabfall bei Südkurier etc. zusammen. Dazu kommt, dass. nicht jede(r) über das nötige monatliche Abogeld verfügt.
Die taz, junge welt, Neues Deutschland oder KONTEXT Wochenzeitung sind weitere Beispiele neben „Rosa-Luxemburg“, wie man an gute Nachrichten kommt. Wer kann darf und sollte diese Medien, wie auch seemoz, finanziell unterstützen.
Am Beispiel Olaf Scholz wird das zweifelhafte Handeln vieler SozialdemokratInnen bis in die Gemeinderäte deutlich, die eben nicht besonders frei in ihren Entscheidungen, sondern einer Parteidoktrin unterworfen, sind. Gabriel in Tönnies Diensten, Schröder in Putins Diensten und möglicherweise Scholz und Kumpane in diversen Banker- und Großindustrieellen Diensten.
Da lohnt ein Blick unter die Teppiche in jedem Fall. Übrigens Gabriel hat in Friedrichshafen ein 12 Millionen-Projekt (Landshut) angeschoben, von dem heute niemand mehr spricht.
Gedanken eines Seemoz-Lesers…
Artikel wie obige, so gut sie auch geschrieben sein mögen, durchbrechen doch das journalistische Seemoz.Format der „regionalen Berichterstattung“. Dieses Format ist beliebt beim Nutzer, der in der Region lebt, weil er die news quasi zu Fuß selbst verifizieren kann.
Trotzdem ist es natürlich verlockend auch über den“ regionalen Tellerrand“ hinauszuschauen – aber für eine bundesweite oder gar globale authentische Berichterstattung braucht man bekanntlich Korrespondenten, oder man hängt, wie die meisten Medien, am Ticker von DPA, Reuters, AFP, Royals oder showbiz, die fertiggeschriebene Artikel mit Foto anbieten, allerdings nicht für lau!
Nun hat Seemoz natürlich gute Autoren aus der Schweiz (wo viele Konstanzer arbeiten, auch zu einem Mindestlohn von über 20 Euro!!! Hallo!!!) Das ist schon mal eine Bereicherung.
Es gibt aber auch andere Optionen – die Linke hat ein internationales Netz von Rosa-Luxemburg-Instituten, die auch podcasts ins Netz stellen! – und man ist oft verblüfft über die etwas andere Perspektive auf politische Ereignisse in der Welt.