Der Schriftsteller, das Chamäleon und das Berufsverbot (IV)
Jochen Kelter, im nahen Ermatingen lebender deutschstämmiger, aber längst mit ganzem Herzen eingeschweizerter Schriftsteller, zieht eine Zwischenbilanz seines Lebenspfades. Der letzte Teil unseres Gespräches dreht sich um deutsch-deutsche Befindlichkeiten, die Nationalcharaktere der schreibenden Zunft und warum es sich gelohnt hätte, als schwedischer Schriftsteller geboren worden zu sein. Aber auch die Schweiz ist kein ganz so schlechtes Pflaster für Schriftsteller, will es scheinen.
seemoz: Ich entsinne mich dunkel, bei irgendeinem Ex-DDR-Autor gelesen zu haben, er könne nicht in einem Verband mit Jochen Kelter, diesem Stalinisten, sein.
Kelter: Viele dieser Ex-DDR-Autoren waren ziemlich schräge Vögel, allen voran Biermann, ein unausstehlicher Mensch. Mit anderen bin ich sehr gut ausgekommen. Natürlich hatten wir auch Kontakte zum DDR-Schriftstellerverband. Ich habe natürlich auch eine ostdeutsche Fiche!
[the_ad id=“70230″]
seemoz: Hast Du die jemals eingesehen?
Kelter: In der DDR war meine Akte nicht auffindbar, aber ich war in der Akte des ersten Sekretärs des Schriftstellerverbandes der Deutschen Demokratischen Republik, einem Stasi-Oberst, verzeichnet, der übrigens auch ein richtiger Kotzbrocken war. Als ich ihm in Potsdam sagte, „Ihr habt aber viele polnische Touristen hier“, antwortete er: „Touristen? Das sind doch alles Polacken! Die kaufen hier Wasserschläuche und verkaufen die teuer in Magdeburg, weil es da gerade keine Schläuche gibt.“ Aus seiner Akte habe ich entnommen, dass er die SPDler, und im VS waren ja meist SPDler, eher als potenzielle Bündnispartner behandelt hat. Aber ich war für ihn ein unsicheres bürgerliches Element.
seemoz: Es gab also regelmäßige Kontakte zwischen dem westdeutschen VS und dem ostdeutschen SV?
Kelter: Ja. Aber es gab ein grundlegendes Missverständnis – wir haben immer wieder betont, dass wir keine Regierungsvertreter sind. Das haben die aber nicht kapiert, weil sie sich das einfach nicht vorstellen konnten. Wenn Hermann Kant, der Präsident des DDR-Verbandes, den Kulturminister besuchte, wusste niemand, wer mehr Angst hatte: Kant oder der Minister. Hermann war nämlich Mitglied des ZK.
Ganz am Ende der DDR bin ich noch mal hingefahren, weil der europäische Verband den DDR-Verband retten wollte. Da holte mich ein Chauffeur ab, um mich das kleine Stück zum Verband in der Friedrichstraße zu fahren. Ich sagte ihm, dass ich kein Auto brauche, weil ich das kurze Stück auch laufen kann, darauf sagte er zu meiner Lebensgefährtin: „Wenn der Präsident unbedingt loofen will, dann fahr‘ ich eben die Frau Präsidentin, einen muss ich doch fahren.“ Die hatten eine eigene Fahrbereitschaft, und als ich in der Friedrichstraße ankam, sind dort alle 30 Angestellten, so viele hatte dieser Verband tatsächlich, aufgestanden, um mich zu begrüßen. Ich hab da nur gesagt: „Setzen, setzen.“ Das war wie in Vorkriegsdeutschland.
seemoz: Wie hast Du Hermann Kant als Menschen erlebt?
Kelter: Der Mann hatte Witz. Wir waren einmal auf seine Datsche eingeladen und er fing an zu erzählen: Er saß eines Tages im ZK, und eine indische Delegation war zu Besuch. Da kommt Erich Honecker vorbei, geht auf ihn zu und schüttelt ihm die Hand. Daraufhin musste er anschließend 100 Indern die Hand schütteln.
Auch Volker Braun hat mich sehr beeindruckt, er war auch ein paarmal Gast bei mir im Thurgau. Er hatte eine besondere Neigung zur Schweiz, weil er nach dem Krieg als Kind auf einem Berner Bauernhof durchgefüttert worden ist. Er sagte immer, man solle die DDR und die Schweiz miteinander vereinigen. Er sei sich zwar nicht sicher, ob das klappt, aber wenn’s klappte, dann wäre das prima.
seemoz: Wie sah es denn in den europäischen Verbänden mit der internationalen Solidarität aus?
Kelter: Die Schriftsteller meinen ja immer, sie seien ganz anders als die Völker, aus denen sie stammen, aber das ist natürlich Quatsch. Sie haben genau die Macken, die man ihnen nachsagt. Die Deutschen waren oft unausstehlich großmannssüchtig und Heulsusen. Die Spielregeln wurden ganz klar von den Engländern gemacht, die können das am besten, und die haben wie auch die Iren die nötige Ironie. Ich habe mal am Schluss eines Sitzungsprotokolls gelesen: „The President closed the meeting at 5 p.m and went off to swallow a beer“ – Präsident Kelter schließt die Sitzung und stolziert davon, um ein Bier zu kippen.
Die Italiener kamen immer mit Anträgen, wenn der Tagesordnungspunkt bereits seit einer halben Stunde vorbei war. Die Skandinavier sprachen gerne dem Alkohol zu und waren wohlhabend. Die Norweger haben ständig protestiert. Die Spanier hatten sogar einen kastilischen, einen katalanischen, einen baskischen, einen Verband der spanischschreibenden Autoren in Katalonien usw. Ich habe Kongresse miterlebt, zum Beispiel in Barcelona, auf denen drei Sprachen simultan gedolmetscht wurden: Englisch, Französisch und Katalanisch. Für die Spanier wurde nicht übersetzt, die mussten sehen, wo sie blieben.
seemoz: Unterscheiden sich die Lebensverhältnisse der Schriftsteller stark?
Kelter: Die Skandinavier etwa haben ein anderes System und werden von der Wiege bis zum Grabe bezahlt. In Schweden bekommen Künstler Stipendien, von denen sie gut leben können. Die Ausschüttungen der Verwertungsgesellschaften gehen dort nie an Einzelpersonen, sondern immer an den Verband. Dadurch hat der Verband, der das Geld weiterverteilt, natürlich eine große Macht. Der schwedische Verband hatte damals 15 Angestellte, der deutsche VS nur zwei. Das 100-jährige Jubiläum des schwedischen Verbandes wurde im Stockholmer Rathaus mit 800 Personen plus dem König begangen. Ähnlich ist es im finnischen Verband, da begann das im Smoking und endete besoffen buchstäblich unter dem Tisch.
seemoz: Du bist also ziemlich rumgekommen?
Kelter: Ich habe durch diese Tätigkeit Gegenden gesehen, die ich sonst wahrscheinlich nie gesehen hätte. Kaum waren die baltischen Staaten unabhängig, bekam ich eine Einladung nach Litauen und habe den Präsidenten der Republik Algirdas Brazauskas getroffen. Die litauischen Kollegen wollten unbedingt ein Urheberrechtsgesetz . Ich hatte nicht den Eindruck, dass er mich verstand, aber sechs Monate später hatte Litauen einen Urheberrechtsgesetzentwurf, denn dort wurde gern dem gefolgt, was einer aus dem Westen sagte.
seemoz: Wie hat sich denn die Wende auf die Autorenverbände ausgewirkt?
Kelter: Wir haben in vielen Ländern Seminare veranstaltet. Sie hatten bisher ihre staatlichen Stellen, die bestimmten, wo sie hindurften, was von ihnen gedruckt wurde und welche Honorare sie erhielten. Sie mussten sich um nichts kümmern, der Staat kümmerte sich schon in jeder Hinsicht um sie. Darum hatten sie nicht die geringste Ahnung vom „freien“ Buchmarkt, vom Urheberrecht oder von Verlagsverträgen. Natürlich hat sich auch die Buchlandschaft in diesen Ländern total verändert, der ganze Schund überschwemmt die dortigen Märkte. Vor der Wende war das ganz anders, in der DDR war zum Beispiel die Zeitschrift „Neue Deutsche Literatur“ (NDL/ndl) des DDR-Schriftstellerverbandes nach einem halben Tag ausverkauft und hat ihre höchste Auflage 1989 erreicht, und das war keine kleine Auflage.[1]
seemoz: Du stammst aus Köln, bist aber inzwischen eingefleischter Thurgauer?
[the_ad id=’68671′]
Kelter: Ich habe sogar die hiesige Kulturstiftung mit aufgebaut, (lacht) vorher gab es ja keine Kultur im Thurgau. Die Kulturstiftung soll helfen, Institutionen hervorzubringen, die es einfach geben muss. Diese werden dann nach einigen Jahren direkt vom Kanton in den kantonalen Haushalt übernommen. Das Bodmanhaus in Gottlieben ist das Literaturhaus Thurgau, das hätten wir ohne die Kulturstiftung gar nicht aufbauen können. Die schweizerischen Institutionen sind da sehr hilfreich. Allein der Kanton Thurgau lässt sich die Kultur 1,1 Millionen Franken im Jahr kosten.
seemoz: Davon kann man in anderen Ländern nur träumen – wie kommt das?
Kelter: Erstens hat man in der Schweiz einfach mehr Geld und zweitens ist es typisch für kleinere Länder, dass dort Kultur wesentlich höher geschätzt wird als in großen Ländern, und dass Kultur dort als ein Exportartikel verstanden wird. Große Nationen wie Frankreich, Großbritannien oder Deutschland haben eine vergleichsweise mickrige Kulturförderung, während Länder wie Österreich, die Niederlande oder die Schweiz pro Kopf viel mehr Geld für Kultur ausgeben. Und drittens gibt es in der Schweiz ein Stiftungswesen und Mäzenatentum, das man so in Deutschland nicht kennt. In Basel wurden praktisch alle Museen von Mäzenaten gestiftet. Als das Schauspielhaus dort einen zusätzlichen kleinen Saal brauchte, sind die Damen der besseren Gesellschaft mit dem Hut rumgegangen und haben 10 Millionen gesammelt. „Damit kann man anfangen,“ sagten sie.
seemoz: Was liest Du eigentlich gerade?
Kelter: Im Moment lese ich Danilo Kiš, von dem erst jetzt ein Roman auf Deutsch herausgekommen ist, der ursprünglich 1962 erschien.[2] Der Roman kann sich locker mit Primo Levi, Imre Kertész oder Jorge Semprún messen. Was noch? Von George Orwell die „Notes on Nationalism“, die erst 75 Jahre nach ihrem Erscheinen in England auch in Deutschland herausgekommen sind. Dann liegt schon Georges Perec bereit.
seemoz: Georges Perec ist doch der, der mal ein Buch ganz ohne den Buchstaben E geschrieben hat? Wenn ich „Jochen Kelter“ hieße, könnte ich auch kein E mehr sehen …
Kelter (winkt wild nach der Bedienung): Die Rechnung bitte, und bitte schnell, ich muss jetzt los. Der Mann neben mir zahlt alles zusammen!
— Ende —
Das Gespräch mit Jochen Kelter führte Harald Borges, Bilder: Privatbesitz; oben Jochen Kelter (links) mit Sinan Gudzevic, dem Übersetzer einer Gedichtauswahl ins Serbokroatische, bei einer Buchvorstellung in Zagreb, Mai 2016; unten Werbung für eine Lesung in Bogotá (Kolumbien).
Jochen Kelter liest
– Mittwoch, 21. Oktober, um 20.00 Uhr in der Buchhandlung Homburger & Hepp, Münsterplatz 7, in Konstanz, Eintritt frei. Eine Voranmeldung persönlich oder unter Tel. +49-7531-90810 ist erforderlich.
– Freitag, 23. Oktober, um 19.00 Uhr im Kunstmuseum Singen, Ekkehardstraße 10, Singen, Eintritt frei. Für die Teilnahme bedarf es einer Anmeldung unter +49 (0)7731 85-269 oder per E-Mail hier.
Sein neustes Buch: Jochen Kelter, Fremd bin ich eingezogen. Gedichte, Caracol Verlag, Warth, 2020, 20,- CHF/Euro, ISBN 978-3-907296-02-8.
Anmerkungen
[1] Von dieser Zeitschrift des Schriftstellerverbandes der DDR, die seit 1952 monatlich bzw. zweimonatlich erschien, wurden 1989 jeweils bis zu 11.500 Exemplare verkauft (Quelle: Wikipedia).
[2] Danilo Kiš, Psalam 44, 1962 (deutsch Psalm 44, München 2019).
Ein grosses Dankeschön den beiden Gesprächspartnern für ihre ausführliche Unterhaltung in Fortsetzungen – so viel Raum bekommen Literatur und Literaten heute ja leider viel zu selten, vermutlich weil die intensive Beschäftigung mit einem Menschen und einem Thema zu viel Arbeit macht. Ich schätze es, dass dieses in jeder Hinsicht lohnende Gespräch Anlass zum Mitdenken gibt, die Leserin hinter die Kulissen von Literatur und Politik schauen lässt – und die Begegnung mit einer echten Autorenpersönlichkeit ermöglicht. Ich würde mir wünschen, des öfteren Interviews dieses Kalibers zu lesen, in denen den Dingen so gründlich nachgegangen wird.