Reiche Schweiz wird langsam ärmer
Die Armutsquote in der gesamtschweizerischen Bevölkerung liegt bei mittlerweile 7,9 Prozent. Besonders betroffen sind Alleinerziehende und die Working Poor. Bei der letzten Erhebung der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) 2018 lag die Armutsquote in der Ostschweiz mit 5,8 Prozent unter dem schweizerischen Durchschnitt. Im Thurgau bezogen 1,5 Prozent Sozialhilfe.
Doch die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen, da viele Menschen den Schritt zum Sozialamt erst gar nicht wagen. Die Gründe dafür sind Scham, bei ausländischen MitbürgerInnen aber auch die Angst, den Aufenthaltsstatus zu verlieren. Dass sich von Armut Betroffene aus diesen Gründen häufig isolieren, sei ein breites Phänomen, weiß Judith Meier Inhelder (Bild im Teaser), Leiterin der Caritas Thurgau. Armut in der Schweiz bedeutet weniger Hungerleiden als vielmehr die fehlende Teilhabe an der Gesellschaft.
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Gerade Alleinerziehende rutschen schnell in die Sozialhilfe ab. Die Mutterzeit ist mit 14 bis maximal 16 Wochen kurz, danach gibt es außer 200 Franken Kindergeld keine weitere finanzielle Unterstützung vom Staat. Teilzeitjobs sind rar gesät, was es für Männer und Frauen schwierig macht, den Nachwuchs gemeinsam zu betreuen – denn Elternzeit gibt es in der Schweiz nicht.
144.000 Kinder wachsen in der Schweiz in Armut auf, vor allem in den großen Städten. Ausnahme bildet hier Lugano: Der Tessin ist der einzige Kanton, in dem es Familienleistungen gibt.
Tatsache ist, dass die Schweiz erst ein sehr junger Sozialstaat ist und die Sorge um die eigene Existenz von vielen, besonders SVP-nahen BürgerInnen, als Privatsache angesehen wird.
„Es gibt viele Politiker, die nicht sehen wollen, dass Armut in der Schweiz ein Problem ist“, sagt Judith Inhelder. Wer es nicht schafft, für sich selbst zu sorgen, gelte dann schlichtweg als faul.
Ihrer Ansicht nach würde die Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch bezahlbare Krippenplätze sowie ein gesetzlicher Mindestlohn viel helfen, um der Armut entgegenzuwirken. Aktuell gibt es erst in den Kantonen Neuenburg und Jura einen Mindestlohn, kommendes Jahr auch in Genf und im Tessin. Weil es keine Lohnuntergrenze gibt, ist das Phänomen der Working Poor ein weiteres Problem. In schlecht bezahlten Branchen arbeiten die Leute Vollzeit und schaffen es dennoch nicht, ihre Familie über die Runden zu bringen; oder sie arbeiten in Teilzeit, ohne die Möglichkeit, aufstocken zu können.
Wer als Einzelperson unter 2294 Franken verdient, gilt in der Schweiz als arm, bei einem Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren ist die Grenze bei 3968 Franken pro Monat. Die Krankenkassenprämien werden für viele Familien zum Verhängnis, da sie nicht lohnabhängig berechnet werden und Kinder, anders als in Deutschland, von Geburt an eigenständig versichert sind und extra kosten.
Bei Tischlein-deck-dich-Essensausgaben werden Lebensmittel verteilt, die Supermärkte ansonsten entsorgen müssten. Während der Corona-Krise hat die Caritas in Weinfelden diese Lebensmittelverteilung übernommen, da sie aus Hygienegründen sonst nicht stattfinden hätten können. Für eine Teilhabe am kulturellen Leben gibt es die „KulturLegi Schweiz“, durch die SozialhilfeempfängerInnen vergünstigte Eintrittspreise oder Karten für kulturelle Veranstaltungen bekommen können. In Kreuzlingen leistet das „Open Place“ von der Evangelischen Kirche in Kurzrickenbach wertvolle Arbeit. Ein offener Kühlschrank und der Café-Treff bringen die Menschen zusammen, die sich sonst oft nicht unter Leute trauen.
Um die Armutsquote zu verringern, gilt es noch einiges zu verbessern, wie beispielsweise die Krankenversicherung an den Lohn anzupassen, die gesamtschweizerische Einführung des Mindestlohns oder die Ansätze für Mieten zu erhöhen. Im Jahr 2018 betrug der Anteil der Sozialhilfe an den Ausgaben für Sozialleistungen im Thurgau gerade einmal 2 Prozent. Da sei doch noch Luft nach oben, ist Meier Inhelder überzeugt.
Judith Schuck (Bild und Text)