Die soziale Rutsche

Der Gemeinderat debattierte in seiner letzten Sitzung unter anderem auch über Sofort­maßnahmen für Obdachlose, die in städtischen Unterkünften auf engstem Raum in Mehr­bett­zimmern zusammenleben müssen und von Corona besonders bedroht sind. Er beschloss einige schnell umsetzbar Notmaßnahmen, aber bei dieser Gelegenheit wurde wieder einmal deutlich, dass sich die hinlänglich bekannten sozialen Probleme für gefährdete Menschen seit Jahren weiter verschärft haben, und das lange vor dem Virus.

Die ohnehin schon prekäre Lage obdachloser Menschen hat sich durch die Corona-Pandemie weiter verschlechtert. Sie müssen, wo sie überhaupt eine Unterkunft finden, auf engem Raum zusammenleben, sind oft gesundheitlich vorbelastet und gehören daher zu den Hochrisikogruppen. Die Kapazitäten an Unterbringungs- und Aufenthaltsmöglichkeiten für diese Frauen, Männer und Kinder waren noch nie wirklich ausreichend, sind aber jetzt, auch aus Sicht der Verwaltung, endgültig an ihre Grenzen gestoßen: Es „muss besonders hervorgehoben werden, dass sich unter den derzeit ca. 200 ordnungsrechtlich eingewiesenen Personen in der Notversorgung ca. 90 Kinder/Minderjährige befinden, welche mit ihren Eltern/Sorgeberechtigten in Notunterkünften oder Zwischenlösungen wohnen“. Außerdem wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass seit 2019 immer mehr ältere (und damit besonders bedrohte) Menschen zwangsgeräumt wurden. Wie alle Seuchen in der Geschichte bedroht auch Corona arme Menschen wesentlich stärker als die Bessergestellten.

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Enorme Herausforderungen

Bisher verfolgte die Stadt eine Doppelstrategie gegenüber Obdachlosen: Zum Übernachten gab es Plätze in der Unterbringung im Haidelmoosweg, die aber tagsüber geräumt werden mussten, und für einen Aufenthalt tagsüber stand die AGJ am Lutherplatz, eine Einrichtung der Erzdiözese Freiburg, offen. Letztere musste ihre Angebote wegen der Pandemie aber massiv einschränken, was die ohnehin schwierige Lage weiter verschlimmert. Daher wurde die Unterbringung im Haidelmoosweg tagsüber geöffnet, aber die Situation ist (weiterhin) kaum zumutbar, und das Bürgeramt konstatiert in seiner Vorlage für den Gemeinderat: „Insbesondere bei der Unterbringung männlicher Obdachloser stehen wir für den kommenden Winter folglich vor enormen Herausforderungen.“ Ähnliches hört man alle paar Jahre wieder im Rat.

Zur Orientierung: Im Haidelmoosweg gibt es für Männer 24 Bettenplätze in 8 Doppelzimmern und in 2 Vierbettzimmern und für Frauen in 4 Zimmern insgesamt 8 Plätze. Dazu kommt eine voll belegte Männerunterkunft in der Hafenstraße, die auch nicht zur Entlastung beiträgt. Mit anderen Worten: Auch nur ein einziger Corona-Fall hätte in dieser räumlichen Enge, in der an die Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregeln ohnehin kaum zu denken ist, verheerende Auswirkungen auf die Betroffenen und deren Umfeld.

Natürlich stellt sich angesichts dieser Situation die Frage, warum Obdachlose nicht besser untergebracht werden. Nach Angaben der Verwaltung werde eine „Anmietung von Hotel-/Hostelzimmern oder Ferienwohnungen aufgrund der überwiegend schwierigen Persönlichkeitsstruktur der betroffenen Bewohner (Drogen- oder Alkoholsucht, psychische Erkrankungen, Gewalttäter …) scheitern. Insofern müssen über den Winter vorübergehend neue städtische Raumkapazitäten (z.B. leerstehende Gebäude, Wohncontainer …) erschlossen werden, um unserem ordnungsrechtlichen Unterbringungsauftrag nachkommen zu können.“ Dass die Ursache sozialer Probleme hier ausdrücklich in der Persönlichkeit der Betroffenen und nicht auch in gesellschaftlichen Zuständen (wie zum Beispiel Mindestlöhnen und Maximalmieten) verortet wird, sei nur am Rande vermerkt.

Wieder einmal nur Notunterkünfte

Der Rat folgte der Verwaltung bei ihren Vorschlägen, vorübergehend einfachste Unterbringungsmöglichkeiten zu improvisieren, z.B. in leerstehenden Gebäude/Hallen oder in angemieteten Wohncontainern sowie die AGJ zu bezuschussen, damit sie in den vorhandenen und noch zu schaffenden Unterbringungen erfahrene MitarbeiterInnen als Streetworker einsetzt. Außerdem sollen in der Byk-Gulden-Straße ein Wohnwagenplatz und am Palmenhaus eine Tagesstätte entstehen.

Ein anderer Vorschlag allerdings sorgte für Widerspruch: Nach Angaben der Verwaltung müsste im Fall der Fälle eine mehrwöchige Quarantäne über die betroffene Unterkunft und für all deren Bewohner verhängt werden, und eine „24-stündige Securitypräsenz vor Ort wäre die unvermeidliche Folge (analog Atrium-Quarantäne im April 2020).“ Zur Erinnerung: Im April wurden wegen Corona Flüchtlingsunterkünfte in der Stadt eingezäunt und bewacht. Anke Schwede (Linke Liste) wandte sich ausdrücklich gegen diese von der Verwaltung beabsichtigte Beauftragung von Security-Diensten, da es unangemessen sei, Menschen, die unverschuldet in eine extrem schwierige Situation geraten seien, von vornherein Gewalt zu unterstellen und sie bewachen zu lassen. Am Ende entschied sich eine breite Ratsmehrheit allerdings zugunsten der Sicherheitskräfte.

Sozialpolitik auf der Kippe

So weit, so unschön, denn letztlich wird wieder einmal nach vorübergehenden Notlösungen gesucht, die den Betroffenen Kindern, Frauen und Männern keine wirkliche Perspektive bieten, sondern ihr Elend nur irgendwie verwalten. Bei der Lektüre der Vorlage wird nämlich nur allzu deutlich, dass es sich mitnichten um eine plötzlich durch Corona ausgelöste Problemlage handelt, sondern dass diese Seuche eine soziale Situation nur verschärft, die sich schon lange immer bedrohlicher gestaltet. Die von der Verwaltung mitgelieferten Fakten sprechen dafür, dass schon seit Jahren kaum oder nur unwirksame Maßnahmen zur Linderung auch nur der gröbsten Not getroffen wurden.

Eine Wurzel des Übels ist natürlich der Wohnungsmarkt. In Konstanz gibt es laut der Sozialen Dienste pro Jahr 30-50 fristlose Kündigungen und in diesem Jahr rund 160 Beratungsfälle „bezüglich drohendem Wohnraumverlust trotz der Corona- Schutzpakete“. Parallel stehen 350-400 Härtefälle auf der WOBAK-Warteliste. Besonders gefährdete Gruppen wie (zumeist weibliche) Opfer häuslicher Gewalt, Jugendliche, die nicht mehr zuhause wohnen können, Geflüchtete, psychisch Erkrankte, Haftentlassene oder junge Mütter in Problemlagen haben auch mit Unterstützung durch die Sozialen Dienste keine Chance auf eine eigene Wohnung. Das verstärkt ihre Probleme natürlich, denn eine menschenwürdige Unterkunft wäre ein zentraler Faktor zu ihrer Stabilisierung.

Das Fazit der Sozialen Dienste kommt einer Ohrfeige für die Verwaltung gleich: „Der Soziale Frieden in Konstanz steht aus Sicht der Sozialen Dienste vor einer Belastungsprobe; sozial Benachteiligten muss dringend strukturell Zugang zu Wohnraum organisiert werden […], losgelöst von rein fiskalischen Erwägungen.“ Die Aussichten sind düster, denn „dem Hilfesystem droht der Zusammenbruch“.

Angesichts dieser (wahrlich nicht erst seit gestern bekannten) Situation stellt sich die Frage nach einer kommunalen Strategie, die über reine Überbrückungsmaßnahmen hinausgeht und die Situation der Betroffenen grundlegend und dauerhaft verbessert, dringender denn je – ob mit oder ohne Corona. Dass Länder und Bund die Kommunen mit dieser Frage nicht alleinlassen dürfen, versteht sich von selbst.

O. Pugliese (Bild: Peronimo, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons)