Zu Kreuze kriechen in Corona-Zeiten
Alle Kulturstätten sind dicht, dazu Gastronomie und vieles andere auch. Man mag an verschiedenen Maßnahmen berechtigte Zweifel haben und sie kritisieren. Aber in der Hauptsache – vor allem, wenn es um die Vermeidung von Menschenansammlungen in geschlossenen Räumen geht – sind sie nachvollziehbar. Was aber zumindest Fragen aufwirft, ist die Absicht des evangelischen Kirchenbezirks, kommenden Sonntag einen Festgottesdienst in der Lutherkirche abzuhalten. Meint einer unserer Redaktions-Atheisten.
Der Grund für den geplanten Glaubensauflauf: Vor 200 Jahren wurde die erste evangelische Gemeinde in Konstanz gegründet. Das, so steht es im Einladungsschreiben, sei Anlass „zur Freude und zum Feiern“. Dieser Freude wolle man „Ausdruck“ geben, und zwar am 13. 12. in der Lutherkirche. Sogar der Landesbischof Jochen Cornelius-Bundschuh reise von weit her an zum fröhlichen Jubilieren. Ich vermute, auch Sangeseinlagen mit vermehrtem Aerosol-Ausstoß sind vermutlich von ganz oben gewünscht und bereits im Vorfeld abgesegnet.
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In der Einladung vom 20. 11. zu diesem Lobpreis ist sogar die Rede davon, dass man nach dem Gottesdienst „gemeinsam“ im Barbarossa Mittagessen und sich „persönlich austauschen“ wolle, sofern dies „die Pandemiebestimmungen zulassen“. Doch am 20. 11. hatten die verschärften Bestimmungen längst dazu geführt, dass alle Restaurants geschlossen waren. An Schnitzel-to-go auf dem zugigen Obermarkt war sicher nicht gedacht. Hoffte man auch diesbezüglich auf göttlichen Beistand? Oder auf eher weltlichen, denn auch Honoratioren aus Stadt und Landkreis werden zum geistlich geschwängerten Rapport gebeten?
Seit langen Seuchenmonaten dürfen wir rund um die Uhr hören und lesen: Private Kontakte seien auf ein absolutes Minimum zu reduzieren, und zwar noch weit bis ins kommende Jahr. Die Gastroküchen bleiben kalt, die Kulturbühnen leer und vernagelt, aber für schlecht beheizte und meist unterkühlte Glaubenstempel, hallo Corona!, kann man ja wohl mal eine kleine Ausnahme machen.
Vor dem Gesetz sind alle gleich, heißt es. Gilt halt nicht für alle. Also stimmen wir uns vorweihnachtlich ein und singen in eingeübter Demut: „Macht hoch die Tür, das Tor macht weit“ – für unsre selige Christenheit. Und ja: Auf der Intensivstation im Konstanzer Krankenhaus sind die Beatmungsgeräte knapp geworden, neue kommen erst wieder am Ostersonntag.
H. Reile (Text und Foto)
@Angelika Bernecker: 1. Dass etwas Unsinniges passiert, macht anderes Unsinniges nicht sinniger: 2. Während eines evangelischen Gottesdienstes sitzen die Leute normalerweise gegen eine Stunde lang nebeneinander, Auch in einem Drogeriemarkt dauert die Begegnung zwischen KonsumentInnen selten länger als 15 Sekunden – in der Schlange vor der Kasse sollte der Abstand ja eingehalten sein. 3. Es sind bisher schon mehrere Superspreader-Ereignisse aus – bevorzugt – Freikirchen bekannt geworden. Aber es wäre mir neu, dass Ähnliches aus Supermärkten gemeldet worden wäre. 4. Kulturelle Veranstaltungen dürfen nicht stattfinden – es sei denn, es sind Gottesdienste. Hat das Corona-Virus bekanntgegeben, es stelle seine Tätigkeit während eines „grosser Gott wir loben dich“ ein, setze sie aber während „Nessun dorma“ oder „wie eiskalt ist dies Händchen“ in Oper fort?
@Angelika Bernecker
Da das von Ihnen Erwähnte ebenso absurd und unnütz wie das im Artikel beschriebene Sektenhaus ist, kann ich die Frage verneinen.
Oh je, jetzt wird es aber selbst in Seemoz absurd. Schon mal jemand im Drogerie Müller auf der Marktstätte gewesen?
Solange sich im Anschluss der Veranstaltung alle Sektenmitglieder in 10-tätige Quarantäne begeben ist doch alles kein Problem. Direkt die Kirchentüre von außen vernageln, Security davor abgestellt und erst wieder öffnen, wenn alle symptomfrei sind. Essen gibt es durch das Fenster und Platz für Grillschalen gibt es in dem Gotteshaus genug. Holz ist zudem reichlich vorhanden – da muss dann auch niemand frieren. Halleluja