Hans Paasches „Lukanga Mukara“ und die Deutschen
Vor 100 Jahren wurde Hans Paasche, Marineoffizier, Pazifist, Lebensreformer und Schriftsteller, auf seinem Gut von rechten Reichswehrsoldaten ermordet. Vor allem sein Buch über die Reise eines fiktiven Afrikaners durch Deutschland wurde posthum zu einem Erfolg. Jetzt ist eine Neuauflage dieses seines bekanntesten Werkes erschienen, und der Verleger Helmut Donat hat sich einige Gedanken darüber gemacht, was Paasche und sein alter ego Lukanga Mukara wohl heute in Deutschland entdecken würden.
Teil III [Teil I, Teil II]
Großer König, Du erinnerst Dich bestimmt noch an den deutschen Offizier, auf dessen Vorschlag Du mich nach Deutschland gesandt hast. Er hat sich schon vor dem Ersten Weltkrieg für Natur- und Tierschutz eingesetzt und gegen die weit verbreitete ‚Federmode‘ gewandt, also gegen das Tragen von Hüten mit seltenen Vogelfedern und die damit verbundene Ausrottung von diversen Vogelarten. Eindringlich warnte er die Menschen vor ‚Überhebung‘ sowie davor, das Gleichgewicht der Natur aus den Angeln zu heben. ‚Die Vögel‘, sagte er, ’sind die natürlichen Vertilger derjenigen Insekten, die wir heute … als Überträger vieler Krankheitserreger kennen und bekämpfen. Wohl ist es dem Menschen in seine Hand gegeben, das, was seinem Geschoss Ziel bietet oder in seine Schlingen tritt, völlig zu vernichten. Macht er jedoch in Verblendung oder Leichtsinn davon Gebrauch, dann kommen die kleinen und kleinsten Lebewesen und fressen ihn auf.‘ Nun, der Begriff Viren war damals noch nicht geläufig, aber wie aktuell solche Einsichten sind, braucht man inmitten der Corona-Krise wohl nicht zu erläutern.
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In manchen Kreisen spricht man davon, dass das ganze Volk in ‚Hausarrest‘ gesteckt worden sei. Zweifellos haben die staatlichen Gewalten bedeutende Grund-, Freiheits- und Bürgerrechte eingeschränkt, was zu einem Verlust vieler wichtiger sozialer Kontakte geführt hat. Bei den Maßnahmen ging es darum, Vorkehrungen zu treffen, damit sich das Virus möglichst wenig ausbreitet, Betroffenen geholfen und ein Massensterben vermieden wird. Dass es dabei zu Lästigkeiten, Missfallensäußerungen, Verwerfungen und Ungerechtigkeiten kommt, ist nach Lage der Dinge nicht verwunderlich. Denn die Ungewissheit über den weiteren Verlauf der Seuche ist groß, und niemand weiß, wie es weitergehen wird, wie viele Firmen bankrottgehen, wer seine Arbeit verliert, wie teuer die Pandemie alle zu stehen bekommt. Und zweifellos ist darauf zu achten, dass es keinen Demokratieabbau gibt, und es ist alles zu tun, um Unbilligkeiten nachzugehen und abzustellen. Statt all das bei der Bewältigung einer sehr ernsten und schweren Krise in Rechnung zu stellen, tun viele so, als befänden sie sich einem so bejammernswerten Zustand, dass sie gezwungen seien, auf die Barrikaden zu gehen. Dabei versuchen sie, andere mit ihrer Hysterie anzustecken und gegen die warnenden Stimmen aufzuwiegeln. Du, mein großer König, betrachtest den menschlichen Charakter nicht nur nach dem Verhalten der Menschen gegen ihre Mitmenschen, sondern beurteilst sie auch nach ihrem Verhalten gegen die wehrlosen Tiere. Ich befürchte, würdest Du die unerträglichen Qualen der Millionen von den Menschen verbrauchten Tiere miterleben, so gerietest Du in einen Zustand des Grauens und des Abscheus, der Dich unendlich traurig machte. Um die schlimmsten und scheußlichsten Tierquälereien – jahraus, jahrein ununterbrochen millionenfach verübt – zu unterbinden und die Tiere vor reiner Grausamkeitswollust zu bewahren, hat man beschlossen, für eine bessere Behandlung der Tiere das Zertifikat ‚Platz und Struktur in den Ställen‘ einzuführen und zu vergeben. Es bedeutet, dass die Tiere mehr Bewegungsfreiheit haben und besser versorgt werden sollen – bevor man sie schlachtet und sie zum Verzehren auf den Tellern liegen. Man will also weiter beständig in Strömen von Tierblut waten, um sich ein Nahrungs- und Genussmittel zu verschaffen, von dem man nicht lassen kann. Man will sogar mehr für das Fleisch bezahlen. So sehr hat man sich hier an die Ruchlosigkeit, die der Mensch durch sein Verhalten gegen die Tiere zeigt, gewöhnt, dass man gar nicht auf den Gedanken kommt, die Menschen von Jugend an zu Handlungen anzuregen, die Grausamkeiten verhüten und bedrohtes Leben retten. Wer ihnen rät, auf das Fleisch zu verzichten und sich stattdessen gesund und ohne tierische Leiden zu ernähren, findet wenig Gehör und muss damit rechnen, nicht verstanden oder belächelt, ja verunglimpft zu werden. Statt leise zu sein, still zu werden und nachzudenken über die Verrücktheiten und die Folgen eines falschen Lebens und sich zu fragen, ob und in welchem Maße sie selbst zu dem gegenwärtigen Übel beitragen, reagieren viele unzufrieden, beleidigt und bösartig. Sie merken nicht, dass ihre Seelen vergiftet und krank sind und zerreiben sich an ihren Ansprüchen. Auf sogenannten ‚Hygiene-Demos‘ protestieren sie gegen die Einschränkung von Freiheiten, und wer vor Aufrufen und Verlautbarungen warnt, weil sie durch die großen Menschenansammlungen die Schutzmaßnahmen durchbrechen, das Virus verharmlosen und die Infektionsgefahr erhöhen, muss damit rechnen, beschimpft und verspottet zu werden. Was geschieht, wenn man die Warnungen nicht ernstnimmt, sieht man überall dort, wo man die Verordnungen zu früh gelockert und nicht aufgepasst hat. Vielfach höre ich den Vorwurf, die Menschen richteten sich zu sehr nach dem, was in den großen Zeitungen geschrieben stehe und was die Regierung ihnen sage. Auch mir hat man geraten, sich doch die Berichte von ‚unabhängigen Medien‘ anzusehen, welche die Wahrheit verbreiteten und nicht einseitig informierten. Also habe ich es getan. Du wirst über das Ergebnis staunen: Was diese Kritiker der von ihnen sogenannten ‚Lügenpresse‘ im Internet, Magazinen und Gazetten behaupten, ist nichts weiter als Propaganda und hat mit seriöser und aufgeklärter Nachrichtenübermittlung nichts zu tun. Hier nennt man so etwas auch ‚Fake News‘, was so viel wie erfundene Botschaften bedeutet. Sie interpretieren sich die Welt so zurecht und wählen ihre Worte so aus, bis sich alles so darstellt, wie sie es haben wollen und wie sie glauben, dass es ihnen nutzt. Ihr Gejammere und Selbstmitleid, ihre Unzufriedenheit mit sich selbst und ihr Hass auf Menschen, die nicht ihrer Meinung entsprechen, sind kaum zu beschreiben. Sie halten sich für besonders wertvoll und zukunftsweisend. Es ist aber noch schlimmer. Die zentralen Gestalten der ‚Hygiene‘- oder ‚Corona-Demonstrationen‘ kommen aus den Kreisen der Rechtsextremisten, der sogenannten ‚Reichsbürger‘ und der Verschwörungstheoretiker. Ich habe versucht, mit einigen von ihnen zu sprechen. Sie sind Argumenten nicht zugänglich. Hat man sie widerlegt, sind sie nicht bereit zuzustimmen. Sie bringen sogleich eine noch größere Verschwörung ins Spiel, die sie daran hindert, ihre Meinung zu ändern. Es ist, wie bei der Debatte über den Locarno-Vertrag, über die ich Dir schon berichtete. Von ihrer tödlichen Krankheit, andere für ihr selbst verursachtes Leid verantwortlich zu machen, sind viele von ihnen offenbar noch immer nicht geheilt. Sie verstehen nicht, wenn man ihnen sagt: ‚Hört nie auf, danach zu schauen, was nicht da ist!‘ Darum hüte, großer König, Dich und Dein stolzes Volk, vor ihnen. Vergesse nicht, wie sie einst Dein Land verwüstet und ausgeplündert, wie sie die Hütten niedergebrannt, die Brunnen vergiftet und sich als Herren aufgespielt haben. Empfange aber bitte jeden, der zu Dir kommt und Dir ehrlich die Hand zur Versöhnung ausstreckt, wie einen Freund. Es werden nicht viele sein. Aber die Zukunft wird mit ihnen und uns sein.“
Lukanga Mukara ist aktuell geblieben – nicht zuletzt vor der Kulisse des Umganges mit den postkolonialen Hinterlassenschaften und wie wenig geradlinig die einstigen Kolonialherren mit Wiedergutmachungs- und Hilfeleistungen für die von ihnen unterdrückten und ausgebeuteten Völkern umgehen. Der kritische Blick eines vermeintlichen „Exoten“ auf das, was vielen in unserem Land lieb und teuer ist und mit dem wir uns auseinandersetzen, erweist sich immer noch hilfreich als ein Beitrag dafür, zu sich selbst und zu einem von Völkerverständigung und Mitmenschlichkeit getragenem Daseinsgrund zu finden – fernab von Profitgier und unwürdigen Lebensbedingungen.
Helmut Donat (Bilder aus dem Archiv Donat, Oben Paasche in Afrika, um 1905; unten Hans und Ellen Paasche, um 1909.)