Ende gut, alles gut?
Mit grosser Mehrheit stimmte der Konstanzer Gemeinderat mit der Stimme des Oberbürgermeisters bei seiner letzten öffentlichen Sitzung für das Anbringen einer Gedenktafel für Martin Katschker. Dies geschah fünfzig Jahre nach dem sogenannten „Gammlermord“ auf dem Blätzleplatz in Konstanz. Vorangegangen war eine interessante Diskussion, fußend auf einem ausführlichen Gutachten des Konstanzer Stadtarchivars Prof. Klöckler. Dazu ein Kommentar von Anselm Venedey.
In diesem Gutachten wird das soziale Umfeld von Täter und Opfer beleuchtet, zeitgenössische Quellen werden zitiert. Ein Bild unserer Stadt im Nachgang der 68er-Bewegung wird detailliert entworfen. Selbst der Prozess und das folgende Urteil werden ausführlich gewürdigt.
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Das Gericht kam damals zu dem Urteil, dass es sich bei der Tötung Martin Katschkers nicht um Mord gehandelt habe. Ob heutige Gerichte wieder so urteilen würden, kann ich mangels juristischer Kompetenz nicht beurteilen – darüber mögen Experten sich streiten. Aber es spielt im Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion über den „Gammlermord“ auch gar keine Rolle. Denn hierbei geht es um das gesellschaftliche Umfeld der damaligen Tat. Und darüber geben die im Gutachten wiedergegebenen Quellen ein beredtes Zeugnis:
So spricht der Leiter des Polizeikommissariats von „arbeitsscheuen, mittellosen, verwahrlosten“ Jugendlichen, die „öffentlichen Geschlechtsverkehr“ vollzogen. Laut Südkurier mussten sich einige Jugendliche wegen sehr starken Alkoholkonsums, der Alkohol sei zuvor im Hertie gestohlen (sic!) worden, übergeben. Mangelnde Toiletten führten dazu, dass sich „Urin, Exkremente, Erbrochenes“ auf dem Platz ansammelten.
Beim Lesen der Quellen kann man sich den Ekel der Passanten, vor diesen „langhaarigen Hippies“, wie sie der Südkurier bezeichnete, und deren Ausscheidungen regelrecht ausmalen. Und sicher ist es nicht zu weit hergeholt, wenn man vor dem geistigen Auge Genugtuung in den Gesichtern mancher Passanten sieht, als, so schreibt die Badische Zeitung, „einige Gammler und auch Unbeteiligte eine kalte Dusche erhielten“ weil ein Wasserwagen des Tiefbauamtes den Platz abspritzte. Diese „Exkremente“ liessen sich mit einem Wasserspritzwagen relativ einfach entfernen. Doch die Masse an brauner Gülle, die jahrzehntelang über den Menschen in Deutschland ausgegossen wurde, und von der viele dieser „Gammler“ und „Hippies“ endgültig genug hatten, die liess und lässt sich nicht so leicht wegspritzen.
Der Täter wuchs als Kriegshalbwaise auf, hatte Probleme mit Alkohol, war mehrfach vorbestraft und wollte, so wird ein Journalist der Stuttgarter Zeitung zitiert, Ordnung herstellen: „Die Gammler hatten Obser nicht unmittelbar provoziert, er ging hin, um sie zu vertreiben, um die Welt von sich aus wieder in Ordnung zu bringen. Ordnung ist ein Begriff, der ihm viel bedeutet…“
Wo immer man hinschaut in dieser Causa, blickt uns unsere braune Vergangenheit ins Antlitz. Sei es in den Schilderungen der „langhaarigen“ „Gammler“, der Familienverhältnisse des Täters, dem Vorgehen der Reinigungskräfte, der Betonung von „Ordnung“ als wichtigster gesellschaftlicher Notwendigkeit.
Und je mehr man darüber nachdenkt, umso klarer wird, dass die Tötung des Martin Katschker natürlich ganz klar mit dem Fortbestand dieses nazistischen Denkens verknüpft und wohl auch deren Ursache ist. Der in der Diskussion im Gemeinderat genannte Unterschied zwischen den Tötungen vom Martin Katschker und Walter Lübcke mag hinsichtlich ihrer juristischen Beurteilung korrekt sein, hinsichtlich der gesellschaftlichen Umstände ist er völlig falsch, um nicht zu sagen infam. Damals wie heute sind diese Straftaten Ausfluss einer zutiefst unmenschlichen Haltung von Teilen der Gesellschaft und Individuen. Und dieser Haltung gilt es heute wieder mehr denn je entgegenzutreten!
Insofern sind Gegenstimmen und Enthaltungen beim Vorschlag der Verwaltung, eine Gedenktafel anzubringen, zwar legitim – aber völlig inakzeptabel.
Und auch, wenn es diese Tafel nun geben wird, so ist am Ende eben doch nicht alles gut.
Anselm Venedey (Foto: H. Reile)
Lieber Jürgen,
Du hast natürlich Recht. Strather zitiert hier die vorherrschende Meinung der Konstanzer bezüglich der Jugendlichen, die sich eben NICHT mit den Ermittlungen der Pokizei deckte. Das beschreibt die damalige Stimmung in der Stadt sogar noch besser.
Ich bitte, das Versehen zu verzeihen.
Anselm Venedey
Lieber Anselm,
du tust dem damaligen Polizeichef Hans Stather unrecht. Das Zitat, auf das du dich wohl beziehst, entstammt einem Schreiben Stathers an den OB Helmle und widersprach eindeutig dem vorherrschenden „gesunden Volksempfinden“. Wörtlich (s. Gutachten):
„Laufende Personenkontrollen (der Polizei) hatten…die Meinung weiter Kreise der Bevölkerung widerlegt, es handle sich bei den in Konstanz auftretenden Gammlern vorwiegend um arbeitsscheue, mittellose und verwahrloste Jugendliche.“
Im Übrigen bin ich bei dir und Ralf Seuffert. Es wird auch darauf ankommen, das Gedenken nicht auf ein „Verwaltungsversagen“ (Klöckler) zu reduzieren.
Jürgen Leipold
Ich würde mich der Meinung von Anselm Venedey vollumfänglich anschließen- das Gutachten ermöglicht doch gerade einen Blick auf den Kern des Problems: Die gesellschaftliche Stimmung und Diskussion war durchsetzt von Vorurteilen, die aus „alten Zeiten“ genährt wurden und teils noch werden. Aus dieser Stimmung heraus handelte der Täter, auch wenn kein direkter ursächlicher Zusammenhang zwischen Umfeld und Tat nachzuweisen war. Als Willy Brandt damals von „Mehr Demokratie wagen!“ sprach, meinte er genau dies: über Vergangenes reden und anders miteinander umzugehen wollte und will gelernt und geübt sein. Das gilt heute umso mehr und der Gegenwartsbezug ist offensichtlich! Interessant die Bemerkung von Herrn Dr. Everke über die Umbruchszeit und „easy-Rider“ als Befreiungserlebnis- ich erinnere mich genau, dass mein Vater mir ein paar Jahre später, als ich entsprechend altersmäßig ins Kino durfte, den Film ans Herz legte und er begeistert davon war – er selbst eigentlich ein liberaler Bürgerlicher mit konventionellen Lebensformen. Das Gutachten von Herrn Prof. Klöckler gibt also eine gute Grundlage für eine Tafel mit entsprechenden Hintergrundinformationen. Sie gehört auf jeden Fall her!
Ralf Seuffert