„Es ist heute zu wenig, nur Konzerte zu spielen“ [III]

Was macht eigentlich den Zauber der Musik aus, zumindest für jene Mehrheit der Menschen, die für ihn empfänglich sind? Das weiß niemand, denn Mysterien lassen sich zwar erfahren, doch kaum erklären. Aber selbst ein abgebrühter Berufsmusiker, der durch Corona monatelang auf Musik-Diät gesetzt wurde, wird plötzlich von Bach wieder elektrisiert. Und wie sieht es mit der nächsten Generation aus: Hat die europäische Kunstmusik- und Orchestertradition beim Nachwuchs überhaupt noch eine Chance?

Teil I dieses Gespräches lesen Sie hier. Teil II finden Sie hier.

seemoz: Die Honorare der schreibenden Zunft befinden sich seit Jahrzehnten im freien Fall. Wie sieht es denn für MusikerInnen aus, ich meine damit natürlich vor allem die freiberuflich tätigen, machen deren Honorare eine ähnliche Entwicklung durch?

Benno Trautmann: Wir Festangestellten spielen außer unserer Tätigkeit im Orchester ja nebenher auch viele Konzerte als Freiberufler, und dort sind die Honorare schon seit langem eingefroren oder gesenkt worden.

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Christoph Grund: Für mich als freien Musiker, der ich viel mit Rundfunkorchestern arbeite, sieht die Situation noch recht gut aus. Wenn ich mich in der Bezahlung mit den festangestellten Musikern vergleiche, fühle ich mich benachteiligt, wenn ich mich mit anderen freien Musikern vergleiche, fühle ich mich privilegiert. Die Honorare in der freien Szene bekomme ich mit, wenn ich z.B. in Berlin mit freien Ensembles zusammenarbeite. Da sind Sätze üblich, die das Bezahlen von Miete und Unterhalt kaum ermöglichen.

Ich weiß, dass viele freie Musiker insbesondere jetzt unter Corona sehr zu leiden haben, zumal die Soforthilfen bei Ihnen entweder nicht ankamen oder sie gar nicht anspruchsberechtigt waren. Vielen war auch der Gang zum Jobcenter zuwider, weil viele Freie sich nicht als arbeitslos empfinden, sondern glauben, es gebe nur mal eine kurze Unterbrechung ihrer Arbeit. Ich habe mich sofort darum gekümmert, weil ich nicht einsehe, dass ich eine Hilfe nicht in Anspruch nehmen soll, wenn sie mir angeboten wird. Ich bin letztlich auch sehr froh, dass ich mich durch diesen beträchtlichen Formularwust hindurchgewühlt habe.

Tiefer Einschnitt

Christoph Grund: Ich kann im Moment eigentlich nicht klagen, mir geht es ganz gut, aber ich weiß natürlich nicht, wie die Zukunft aussieht. Ich vermisse die Begegnungen mit anderen MusikerInnen und das Konzertieren sehr, das mich ja immer ein Stück weit in die Zukunft hineinträgt. Ich hatte zum Beispiel noch ein Kammermusikprogramm mit Patricia Kopatchinskaja geplant, und daraus entsteht ja oft eine langfristige Zusammenarbeit. Ich hatte auch eine Einladung zu zwei Wochen mit MusicAeterna in Sankt Petersburg, wo sich sicher auch tragfähige neue Kontakte ergeben hätten. Das alles ist wegen Corona ausgefallen. Corona ist auf jeden Fall ein tiefer Einschnitt.

seemoz: Ich habe in den letzten Jahrzehnten, auch durch die Schulzeit meines Nachwuchses, den Eindruck gewonnen, dass Heranwachsende kaum mehr ein Interesse an klassischer Kultur entwickeln, sei es nun Musik oder Literatur. Bücher spielten dort überhaupt keine Rolle mehr. Ohne Harry Potter, den sie dann doch alle gelesen haben wie wir Knaben damals Karl May, wäre vermutlich eine ganze Schülergeneration im Urzustand des tiefsten Analphabetentums verharrt. Ich habe den Verdacht, dass die uns vertraute Kultur- und Bildungstradition, zu der ja auch die Orchestermusik zählt, mit der nächsten oder übernächsten Generation komplett aussterben könnte.

Benno Trautmann: Auch Kinder- und Volkslieder sind ja mittlerweile komplett verschwunden, es kann ja heute niemand mehr ein Lied auswendig singen, was wir ja noch in der Schule unerbittlich geübt haben.

seemoz: Ich habe gerade ein sowjetisches Buch aus den dreißiger Jahren gelesen, und dort brechen dauernd irgendwelche Leute in Lieder aus, und andere Menschen stimmen dann sofort ein. So war es einfach Jahrhunderte lang, die Menschen sangen miteinander. Noch mein Großvater, der aus der Gewerkschafts-Mandolinenbewegung herkam, pflegte mit seinen Kumpels irgendwelche Lieder anzustimmen, wenn sie abends beim Bier saßen oder sich zu einer Geburtstagsfeier trafen. Das waren zwar diese sägenden, zittrigen Altmännerstimmchen, die den Ton nicht halten konnten, aber die kannten ihren Stoff und für sie war das einfach eine natürliche Form von Geselligkeit. Da ist in zwei Generationen eine ganze Kulturwelt weggebrochen – zugegeben, eine Welt, der im Moment niemand wirklich nachweint. Angesichts einer solchen Entwicklung stellt sich natürlich die Frage, wie es in zwei Generationen mit der Entwicklung der abendländischen Kunstmusik aussehen könnte. Natürlich passt Kultur im klassischen Sinne auch nur sehr begrenzt in die Weltsicht unserer wirtschaftlichen Eliten. Die wollen einen schlanken Staat, und alles, was nach Subventionen für Kultur oder in Soziales riecht, wollen sie schleunigst streichen. Da dürften eventuell dann auch die Orchester dazugehören, abgesehen vielleicht von einigen wenigen Prestigeorchestern oder Bayreuth, wo ebenjene Eliten und der Geldadel im Hochsommer ihre Luxuskleider zur Schau stellen und Bussibussi machen.

Die nächste Generation

Christoph Grund: Wir haben bei unserem Sohn gemerkt, dass er über das Orchesterspiel an der Musikschule und später über das Landesjugendorchester eine innige Verbindung zur Musik entwickelte. Er und seine Kumpels schicken sich viele Aufnahmen hin und her, vergleichen die auch, tanzen manchmal sogar dazu und gehen voll ab. Der Auslöser war bei ihm natürlich das Mitspielen im Orchester, wo er schon früh die Pauke übernehmen durfte. Eine Zeitlang dachte ich, dass die Klassik ihn niemals so richtig erreichen wird, aber mittlerweile hört er Hip-Hop, Klassik und alles sonstige, genau wie sein Vater auch. Auch experimentelle Sachen, die er bei mir kennenlernt, interessieren ihn zum Teil, zum Teil findet er sie auch einfach zu blöd, dann hören wir sie uns noch mal an, und manchmal kann ich ihn gewinnen und manchmal eben nicht. Wir haben auch schon zusammen gespielt. Aber wir stehen in einem engen Austausch. Ich habe ihn damals bewusst nicht zum Üben geprügelt, weil ich dachte, wenn er nicht von ganz alleine den Anlauf nimmt, Musik zu studieren, bin ich auch nicht traurig, denn ich finde, dass es so viele andere Berufe gibt, in die man hineinwachsen und die einen erfüllen können oder die noch gar nicht erfunden sind. Ich wünsche mir ehrlich gesagt, dass er etwas Progressiveres macht, als ausgerechnet Orchester-Schlagzeuger zu werden.

Benno Trautmann: Mein Sohn studiert Schlagzeug und will Orchester-Schlagzeuger werden, und auch ich habe ihn da sicher nicht hingeprügelt. Ich denke aber, das Elternhaus war nicht ganz unschuldig an dieser Entwicklung.

seemoz: Gibt es international Formate, die ihr als vorbildlich für Deutschland anseht, mit denen jüngere Publikumsschichten für klassische und zeitgenössische Musik gewonnen werden können?

Benno Trautmann: Das einzige, was mir dazu einfällt, ist El Sistema[7] in Venezuela, das ist eine ganz fantastische Sache und unglaublich mächtig, auch, weil sie Kindern eine Chance gibt, aus dem Dreck herauszukommen, in den sie hineingeboren wurden.

Christoph Grund: Wir sprachen ja schon über die Musikvermittlung. Mir fällt da jetzt international nichts ein. Aber es gab einige Projekte beim SWR, die ich sehr vielversprechend fand. Da war z.B. „Vivarium/Freigehege“ von Manos Tsangaris[8], bei dem auf beispielhafte Weise Jugendliche bei der Vorbereitung und der Aufführung integriert wurden. Oder „Romeo feat. Julia“[9], bei dem wir die Ballettmusik von Prokofjew mit Rapmusik auf Shakespeare-Texte verwoben haben und dazu HipHop-Tanz inszeniert wurde. Ich habe zusätzlich Elemente aus zeitgenössischer Musik bei den Instrumentierungen der Rap-Songs und in Überleitungen eingebracht. Ich habe auch unzählige Workshops gegeben zu Konzertprogrammen, um die jungen Zuhörer auf unbekannte Klänge neugierig zu machen.

Menschen mit Ausstrahlung

Insgesamt bin ich mir am Ende aber doch unsicher, ob diese Versuche wirklich nachhaltig sind. Was mich nachhaltig begeistert sind Musiker, die unabhängig vom Format die Begeisterung für die Musik und für das Leben ausstrahlen und in der Musik rüberbringen. Ein zusätzlicher Anreiz ist, dies an einem ungewöhnlichen Ort zu erleben – wie z.B. in einer Lokomotivhalle in Bozen oder im Hangar des Tempelhofer Flughafens. Aber letztendlich kommt es auf die Menschen und ihre Ausstrahlung an, wie wir an Teodor Currentzis sehen.

Es ist übrigens auch interessant, dass die europäische klassische Musik und insbesondere auch die deutsche Tradition international sehr begehrt sind. Die deutschen Musikhochschulen haben international einen ganz ausgezeichneten Ruf und werden zum Beispiel von StudentInnen aus den asiatischen Ländern geradezu gestürmt, die klassische Musik total lieben und als Möglichkeit begreifen, etwas Neues zu entdecken. Es sind natürlich zumeist die wohlhabenden Schichten, die ihre Kinder nach Europa zum Studieren schicken und für die das ein Prestigegewinn ist, auch wenn die meisten Kinder später als KlavierlehrerInnen enden.

Benno Trautmann: Ich bin gerade heute Nachmittag mit einem früheren Kollegen, jetzt Professor für Oboe, spazieren gegangen, und der erzählte mir, dass bei ihm gerade ein Schüler seinen Abschluss gemacht hat, der durchschnittlich, jedoch nicht überragend spielt, aber aufgrund seines Abschlusses aus Deutschland in China sofort eine Position als Solo-Oboist in einem Orchester bekommen hat und auf Anhieb Professor an der dortigen Hochschule geworden ist. Ein Abschluss an einer deutschen Musikhochschule hat in vielen asiatischen Ländern einen unglaublich hohen Wert. Dazu kommt natürlich, dass das Studium an den deutschen Musikhochschulen nichts kostet, was für viele eine ungeheure Chance bedeutet.

seemoz: Darf ich um ein Schlusswort bitten?

Benno Trautmann: Ich denke, Corona hat bewiesen, wie stark Kultur sehr vielen Menschen fehlt, wie wichtig sie für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft ist. Das macht sie aber noch lange nicht zum Selbstläufer, sondern wir müssen etwas für sie tun. Ich habe neulich im Fernsehen einen Flashmob auf einem großen Flughafen gesehen. Es war unglaublich, was dabei geschah. Zuerst hast du eine anonyme Menge von Menschen gesehen, von denen jeder für sich war und allein dahinwuselte. Doch dann kam ein Chor, hat sich unter diese Menge gemischt und zu singen begonnen. Du hast gesehen, wie schnell diese Menschenmenge aus unglaublich vielen Passanten plötzlich zu einer Einheit zusammenwuchs. Nicht nur der Chor, sondern buchstäblich alle Menschen wurden plötzlich zu einer Einheit, es war einfach überwältigend zu sehen, wie die Gesichter der Menschen sich veränderten, wie bewegt Kinder und Erwachsene waren, viele mit Tränen in den Augen. Es ist unglaublich, wie der Mensch eine Einheit schaffen kann, in der er bloß noch Mensch ist, und wie schnell auch ein völlig solidarisches Kollektiv entstehen kann, obwohl einer die anderen nicht kennt. Das fand ich ungeheuer bewegend. Das ist die Kraft von Musik. (Fängt an zu schlucken, spricht eher beiseit‘: Ich glaube, dieses Corona macht mich noch fertig!)

Der Zauber der Musik

Christoph Grund: Ich möchte alle Leser dieses Artikels dazu aufrufen, sobald es wieder erlaubt ist, in die Konzerte zu strömen und sich dem unmittelbaren Erleben der Musik mit allen Sinnen und gemeinsam mit anderen hinzugeben. Es gibt dafür keinen digitalen Ersatz!

Benno Trautmann: Noch eine andere Sache: neulich lief eine Aufzeichnung des Weihnachtsoratorium [von Johann Sebastian Bach] mit dem Gewandhausorchester. Ich habe es mir angeschaut, aufgenommen und beim Frühstück wieder angehört, das hätte ich früher niemals getan, weil ich als Berufsmusiker viel zu nah an der Musik dran bin. Aber plötzlich hatte diese Musik, nach so vielen beruflichen Unterbrechungen durch Corona, eine magische Wirkung auf mich, wie ich sie gar nicht mehr erwartet hätte. Das ist das vielleicht einzig Gute an Corona, dass ich die ungeheure Kraft der Musik wieder deutlicher spüre. Das Fantastische an der Musik ist, dass sie am Kopf vorbeigeht und dich unmittelbar erreicht und vielleicht sogar trifft, ohne dass du dich dagegen wehren kannst. Und sie bewegt etwas in dir. Deshalb, so finde zumindest ich, hat es auch die zeitgenössische Musik so viel schwerer als zeitgenössische Malerei. Malerei kannst du angucken, dann guckst du wieder weg, dann guckst du vielleicht wieder hin, und dann gehst du weiter. Gegen Musik kannst du dich nicht schützen, zumindest für die Dauer des Konzerts bist du ihr einfach ausgeliefert, aber das ist jetzt meine Theorie als Orchestermusiker (lacht).

seemoz: Wollen wir das als Schlusswort so stehen lassen?

Christoph Grund und Benno Trautmann wie aus einem Munde: So sei es!

Das Gespräch führte Harald Borges. Bild oben: SWR Symphonieorchester mit Teodor Currentzis (SWR). Zweites von oben: Christoph Grund (rechts, Privatbesitz). Drittes von oben: Benno Trautmann (Mitte, Privatbesitz). Unten: Christoph Grund am Klavier (Privatbesitz).

Christoph Grund arbeitet als Pianist mit führenden Orchestern und Ensembles zusammen, ist ein gefragter Kammermusiker und Liedbegleiter und entwickelt mit namhaften Komponisten wie Mark Andre, Samir Odeh Tamimi, Sarah Nemtsov oder Iris ter Schiphorst neue Klaviermusik, oft in Verbindung mit elektronischen Klangerweiterungen. Er ist regelmäßig bei internationalen Festivals zu Gast. Als Komponist wurde er von seinen Lehrern Eugen Werner Velte, Mathias Spahlinger und Wolfgang Rihm geprägt, aber auch durch die enge Zusammenarbeit mit Michael Gielen, Pierre Boulez oder Hans Zender als Pianist im SWR Symphonieorchester. Die Liste seiner Kompositionen umfasst Tonbandstücke und elektronische Musik, Musik zu Kunstvideos, Hörspielmusiken, Solo- und Kammermusik, Werke für Chor und für Kammerorchester, Musiktheater und eine Filmoper. Seine Kenntnisse gibt er in Gastseminaren an europäischen Hochschulen weiter. www.christophgrund.de

Benno Trautmann hat an der Musikhochschule Köln bei Prof. Erich Penzel studiert. Seit 1981 ist er als Hornist im SWR Symphonieorchester, damals SWF Sinfonieorchester, tätig. Er hat sich in dieser Zeit innerhalb des Orchestervorstands und anderer Gremien für die Belange des Orchesters engagiert.


Anmerkungen

Quelle: Zumeist Wikipedia

[7] Das Simón-Bolívar-Orchester ist das führende von 30 professionellen Orchestern, die zur „Fundación del Estado para el Sistema de Orquesta Juvenil e Infantil de Venezuela (FESNOJIV)“ gehören. Das staatlich geförderte Programm hat das Ziel, Kindern und Jugendlichen aus allen sozialen Verhältnissen eine fundierte musikalische Ausbildung zu ermöglichen und hat Orchester und Musiker von außerordentlicher Qualität hervorgebracht. 350.000 Teilnehmer in 180 Zentren erhielten im Jahr 2008 unter anderem kostenlos Leihmusikinstrumente, im Jahr 2017 waren laut offiziellen Angaben 827.000 Jugendliche dort eingeschrieben. Filme: „El Sistema“ und „Der Klang der Hoffnung – The Promise of Music“.
[8] https://www.swr.de/swrclassic/musikvermittlung/aexavarticle-swr-1400.html
[9] https://www.swr.de/swrclassic/musikvermittlung/aexavarticle-swr-1408.html