„Wir spüren eine große Unzufriedenheit und auch Verunsicherung“

Wie es sich im Politikbetrieb geziemt, hat der Konstanzer Oberbürgermeister Uli Burchardt (CDU) in einem Brief der alten und neuen Landtagsabgeordneten Nese Erikli (Grüne) artig zum Wahlerfolg gratuliert. Doch bei Glückwunsch-Floskeln blieb es diesmal nicht. Burchardt äußert in dem Schreiben mit Blick auf die teils desolate Lage in Stadt und Landkreis ungewohnt deutliche Kritik an der Corona-Politik des Landes und mahnt dringend Verbesserungen an. Erikli solle sich persönlich und nachdrücklich dafür einsetzen, dass Konstanz jetzt schnell die Außenstelle eines Impfzentrums bekommt.

Der Unmut über die als chaotisch empfundene Corona-Politik in Baden-Württemberg wächst. Zuerst entlädt er sich naturgemäß beim politischen Personal, das vor Ort dafür geradestehen muss, dass man weder beim Testen noch beim Impfen aus dem Knick kommt. Im Konstanzer Rathaus jedenfalls scheint ob dieser Stimmungslage so manche das ungute Gefühl zu beschleichen, dass gerade etwas gewaltig schiefläuft. Die Angst vor sich zusammenbrauendem Ungemach mag deshalb ein Grund für die deutlichen Worte sein, die das Stadtoberhaupt in seinem Schreiben an die Landtagsabgeordnete Erikli findet. Die maßgeblichen Passagen des Burchardtschen Brandbriefs im Wortlaut.

Wir spüren eine große Unzufriedenheit und auch Verunsicherung insbesondere bei älteren MitbürgerInnen im Zusammenhang mit der nach wie vor desolat organisierten Vergabe von Impfterminen, zweitens mit der ungerechten Verteilung von Impfstoff innerhalb des Landes Baden-Württemberg und drittens mit der aus Sicht der Stadt Konstanz ausgesprochen ungünstigen Verteilung von Impfzentren. Von keinem der Oberzentren in Baden-Württemberg ist ein zentrales Impfzentrum so schlecht erreichbar wie von Konstanz aus. Die Entfernungen zu den nächstliegenden zentralen Impfzentren in Freiburg, Ulm und Tübingen betragen 125 bis 150 Kilometer. Hinzu kommt, dass es in Konstanz auch kein KIZ gibt.

Ich glaube, wir sind uns darüber einig, dass uns besonders unsere älteren BürgerInnen am Herzen liegen müssen. In Konstanz leben rund 5750 BürgerInnen über 80 Jahre und weitere 6900 BürgerInnen zwischen 70 und 80 Jahren. Viele davon sind gehbehindert oder trauen sich mental die Fahrt in das 30 Kilometer entfernte Impfzentrum Singen nicht mehr zu. Angehörige stehen auch nicht immer zur Verfügung und nicht jede Rentnerin, nicht jeder Senior kann sich eine Fahrt mit dem Taxi für 170 Euro leisten. Der vulnerable Personenkreis nutzt den ÖPNV aus den bekannten Gründen zur Zeit eher weniger. Es kann nicht sein, dass „schwächere“ BürgerInnen in dieser Situation zurückbleiben, nur weil die größte Stadt im südlichen Baden-Württemberg geografisch am Rande der Republik liegt. Um der Situation entgegenzusteuern, haben wir für besonders hilfebedürftige Menschen ein Patenschaftssystem zur Beschaffung von Impfterminen eingerichtet und wir übernehmen die Fahrtkosten in das Kreisimpfzentrum für bedürftige SeniorInnen, die keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen können. Unser Engagement ändert allerdings nichts an der grundsätzlichen unbefriedigenden Situation des fehlenden Impfzentrums für die 86.000 Einwohner in unserer Stadt. Ich habe daher an Herrn Minister Lucha geschrieben und ihn um Unterstützung für den Aufbau einer KIZ-Außenstelle in Konstanz gebeten. Eine KIZ-Außenstelle in Konstanz senkt das Risiko insbesondere für die vulnerablen Gruppen der Bevölkerung, da die Wege kürzer und die Anfahrt erleichtert werden. In den vergangenen Wochen haben mich unzählige Anfragen, Beschwerden und Hilferufe älterer Menschen erreicht, die auf diesen Umstand hingewiesen und ihr Unverständnis über diese politischen Versäumnisse geäußert haben. Ich würde mich freuen, wenn Sie das Anliegen von mir und vielen älteren BürgerInnen nach einer KIZ-Außenstelle unterstützen würden und wir in dieser Angelegenheit gegenüber dem Sozialministerium gemeinsam an einem Strang ziehen könnten.

Ein weiteres Problem betrifft den Landkreis insgesamt. Das Sozialministerium hat für die Verteilung der Impfstoffe im Land einen Schlüssel gewählt, nach dem alle Landkreise im Land gleich bedient werden. Dieses Verteilverfahren ist absolut ungerecht, da größere Landkreise wie eben Konstanz mit rund 280.000 Einwohnern gleich viel Impfstoff erhalten wie kleinere mit z.B. 140.000 Einwohnern. In der Praxis bedeutet dies: pro Kopf der Bevölkerung erhält der Landkreis Konstanz damit bis zu 50 % – also eklatant! – weniger Impfstoff als andere Landkreise. Diese Institutionalisierung des Mangels durch das Sozialministerium kann weder von uns politischen Vertretern noch von den Bürgerinnen und Bürgern hingenommen werden! Das Hauptproblem bleibt sicher die nicht ausreichende Verfügbarkeit von Impfstoff – das kann allerdings kein Argument sein, der nicht gerechten Verteilung von Impfstoff tatenlos zuzusehen.

Neben Verbesserungen beim Thema Impfen brauchen wir dringend Klarheit über die Teststrategie für die Bevölkerung. Die BürgerInnen signalisieren uns klar, dass sie nach dieser langen Zeit des Ausnahmezustands in ihr normales Leben zurückfinden wollen. Dafür brauchen wir eine sehr große Anzahl von privaten Tests und auch von bestätigten Tests – und zwar an jedem einzelnen Tag. Ich fordere vom Bund und vom Land Baden-Württemberg eine Strategie dafür sowie die Ausstattung mit ausreichend Tests – selbstverständlich auch für Schulen und Kitas. Dabei muss klar sein: wer sich Tests nicht leisten kann, muss sich und seine Kinder mehrmals die Woche kostenlos testen lassen können. Tests dürfen kein Luxusgut sein!

Das Thema Tests berührt auch das Thema Grenze. Bund und Land sollten zügig Lösungen finden, um an der Grenze zurück zum normalen Grenzverkehr zu kommen. Dazu braucht es zum einen eine stabile Abwärts-Entwicklung der Inzidenz auf beiden Seiten der Grenze, zum anderen schnelle, unbürokratische Lösungen für Tests an der Grenze sowie für die Anerkennung von Tests, die möglicherweise in der Schweiz zugelassen sind, in Deutschland aber nicht.

Zum Schluss muss ich leider auch nochmals auf das leidige Thema des Anmeldeverfahrens für Impfberechtigte zurückkommen. Das Land hat hier zwar gegenüber dem ursprünglichen Verfahren nachgebessert, doch gut ist es leider immer noch nicht. Die MitarbeiterInnen unseres Impfbegleitungstelefons, das wir am Anfang des Jahres eingerichtet haben, erreichen nach wie vor sehr viele Anrufe von Impfberechtigten, dass sie im Anmeldeverfahren einfach nicht weiterkommen. Dass ein Land, das sich technologischer Spitzenleistungen rühmt, ein derart umständliches Anmeldeverfahren praktiziert, das viele zur Verzweiflung treibt, ist für mich nicht nachvollziehbar. Hier sollte das Sozialministerium unbedingt die im Land ja unzweifelhaft vorhandenen herausragenden technologischen Kompetenzen nutzen, um bürgerfreundlicher zu werden. In diesem Zusammenhang fordere ich eine digitale Lösung für die Kontaktnachverfolgung, die anstelle unserer fußlahmen Corona-App in der Lage ist, mit Zustimmung der User Kontaktdaten ans Gesundheitsamt zu übermitteln. Und ich meine, dass wir uns im Land Baden-Württemberg, Heimat der Fanta 4, unverzüglich auf den Weg machen sollten, die LUCA App zum Standard für all diejenigen zu machen, die schnellstmöglich zurück zu Kultur, Gastronomie, Events und Einzelhandel wollen.“

MM/jüg (Foto: Screenshot konstanz.de)