Der letzte Schritt zur Integration – oder wie ich auf den Hund kam

Haben Sie sich schon einmal gefragt, mit wem andere Menschen sprechen, wenn sie mit Ihnen sprechen? Nein? Sollten Sie aber, auch wenn Sie es nicht müssen. Wenn Sie Pech haben, ist es ja Ihr Hund – wenn Sie Glück haben, auch … Kommt drauf an. Worauf eigentlich?

Ich bin in einer Stadt aufgewachsen, in der ich die meiste Zeit damit verbracht habe, Fragen wie „Träumst Du auf Deutsch oder auf Deiner Muttersprache?“ und „Fühlst Du Dich Deutsch oder eher nicht?“, zu beantworten. Manchmal glaubten mir die Leute ein Kompliment zu machen und sagten: „Für mich bist Du eine Deutsche.“ Für die meisten anderen war ich es aber nicht. Die Entscheidung darüber blieb bei denen, die über mich redeten. Bei mir blieb nur die Verunsicherung.

Schnell eignete ich mir Anpassungsmethoden an. Assimilierung ist eben einfach, die gute Ausländerin spielt ihre vorgeschriebene Rolle: Im Kindergarten bemerkt man, dass einen die anderen nicht verstehen – also lernt man die Sprache. In der Schule bemerkt man, dass einen die anderen nicht akzeptieren – also wird man still. Und so begann das Unsichtbarwerden. Mitgedacht wurden Menschen wie ich ohnehin nicht. Gleichzeitig wurden uns Komplexe indoktriniert, von denen wir nicht mal wussten, dass wir sie hatten. Plötzlich wurde der Akzent unserer Eltern peinlich und das Essen, das sie kochten, langweilig.

Stereotype bestimmten unseren Familien-Alltag: Beim Möbelkaufen begrüßte man uns mit einem „Ihr Südländer liebt doch Hochglanzmöbel“ und verabschiedete uns mit einem „Eure Frauen sind so gepflegt wie eure Autos.“ Darüber hinaus blieben wir aber unsichtbar. Auf der Straße grüßten uns die Nachbar:innen nicht. Wir wurden ignoriert, übersehen, unsichtbar gemacht.

Um diesem Kleinstadttrott zu entkommen, zog ich nach Konstanz. Hier sollte alles anders werden. Dachte ich – aber unsichtbar blieb ich trotzdem. Die Nachbar:innen grüßten mich immer noch nicht. Dafür wühlten sie in meinem Müll und klingelten Sturm, weil sich ein Briefumschlag in den Restmüll verirrte. Sie stopften meinen Briefkasten voll mit herumliegenden Zigarettenstummeln, dass ich Nichtraucherin bin, interessierte sie offensichtlich nicht. Selbst die Studienberatung ist sichtlich überrascht, dass ich „immer noch“ an der Uni bin. Und sie hat Recht: Es ist mir auch ein Rätsel, wie ich all die Hürden überwunden habe und jetzt allen Ernstes promovieren möchte.

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All das veränderte sich mit einem Schlag, als ich meine süße Kleinspitz-Welpin adoptierte. Eine kleine weiße Polarfüchsin, die mir heute alle Türen in dieser Gesellschaft öffnet. Plötzlich grüßen mich die Nachbar:innen wärmstens und mit strahlenden Gesichtern. Passierende wollen smalltalken und erbetteln sich die Aufmerksamkeit meiner Welpin. Ich befand mich in einem Dauer-High. So viel Aufmerksamkeit hatte ich noch nie bekommen und seit dem Lockdown schon gar nicht. Irgendwie fühlte ich mich endlich dazugehörig, sichtbar, vielleicht sogar endlich wirklich integriert.

Das Dauer-High hielt, bis ich in den Kleinstadttrott reiste, um meine Familie zu besuchen. Meine Familie liebt meine Welpin, sie ist entzückt und verzaubert, wie fast alle Menschen. Wir waren viel draußen, sind geflitzt und gesprungen, haben uns des neuen Familienglücks erfreut. Bis sich langsam aber sicher ein Gefühl der Enge in uns ausbreitete. Ich bemerkte: Wir wurden sichtbar. Wir wurden plötzlich überall angesprochen. Meine Familie und ich – die ein Leben lang durch diese kleine Stadt, in der jede:r jede:n kennt, gelaufen sind und alle immer so taten, als kennten sie uns nicht.

Nach dem High das große Tief. Schlagartig wurde mir bewusst: Die Leute sprechen nicht mit mir, sie sprechen mit meiner Hündin. Sie meinen nicht mich, wenn sie grüßen, sie meinen meine Hündin. Sie sehen immer noch nicht mich, sie sehen meine Hündin. Ich bleibe unsichtbar, meine Familie bleibt unsichtbar – gesehen wird nur die kleine weiße Hündin.

Ernüchtert fahre ich zurück nach Konstanz und frage mich: Habe ich nun wirklich die letzte, maximal erklimmbare Stufe zur heiligen Integration erreicht – oder steht meine Hündin eine Stufe in dieser Gesellschaft über mir?

Lule Dielli (Bild: Lena Gmelin)