„Weiße Raben“ (II)

Im ersten Teil untersuchte der Autor, an welche Männer des Widerstandes gegen Hitler – oft zu Unrecht – in Deutschland bei offiziösen Anlässen gern erinnert wird, obwohl sie Hitler zum Teil sehr lange unterstützt haben. Im heutigen zweiten Teil wird an einige weitgehend vergessene Männer erinnert, die als Berufsmilitärs im und nach dem Ersten Weltkrieg und damit schon lange vor 1933 zur Friedensbewegung gefunden haben und dafür von ihren Berufsgenossen aufs Entschiedenste abgelehnt wurden.

Noch fragwürdiger und dubioser wird die Berufung auf den Widerstand der Militärs des 20. Juli, wenn man sich verdeutlicht, dass nicht alle Offiziere den Weg in das „Dritte Reich“ und allem, was danach geschehen ist, mitgegangen sind. An diese Militärs hat bislang niemand erinnert. Sie sind lange vor 1933 beschimpft, verleumdet, ausgegrenzt und verfolgt worden – weil sie als Offiziere nach dem Erlebnis des Ersten Weltkrieges der Gewalt- und Militärpolitik eine Absage erteilten und sich der Friedensbewegung anschlossen. Sie engagierten sich für eine Versöhnung mit Polen und Franzosen, bekämpften Antisemitismus und Fremdenhass und wandten sich gegen die revanchelüsternen, auf einen erneuten Waffengang hinarbeitenden Kräfte im eigenen Volk. Den „alten Kameraden“ und Militärs in Diensten der Weimarer Republik galten sie jedoch als „Verräter“ und „Volksverderber“. Von solchen Denunziationen sind sie bis heute nicht wirklich befreit, eine Anerkennung ist ihnen bislang versagt geblieben. Umso mehr verdient es der von Wolfram Wette jüngst herausgegebene Band „Weiße Raben – Pazifistische Offiziere in Deutschland vor 1933“ als Meilenstein einer „Erinnerungskultur“ hervorgehoben zu werden, die nicht zuletzt jene „Vergangenheitsbewältigung“ in Frage stellt, die aus vordergründigen Motiven die besten Traditionen der jüngeren deutschen Geschichte ausblendet und verdrängt. Gerade die Auseinandersetzung der pazifistischen Offiziere mit den herrschenden Eliten offenbart, dass es neben der Kontinuität des Kriegskultes auch eine Bereitschaft zu einem gewaltfreien Austragen zwischenstaatlicher Konflikte gegeben hat.

An wen nicht erinnert wird

Die Fokussierung der deutschen Geschichtsschreibung und großer Teile der „Erinnerungskultur“ auf die Zeit des „Dritten Reiches“ führt zu Fehleinschätzungen, Irrtümern und wenig einleuchtenden Schlussfolgerungen. Wer den Widerstand gegen die Nazis erst 1933 beginnen lässt, blendet all jene Gruppen und Persönlichkeiten aus, die angesichts des fortgesetzten Irrwegs bereits lange vor der Machtübernahme der Faschisten warnend ihre Stimme erhoben haben. Der ausschließliche Blick auf die Jahre von 1933 bis 1945 nimmt sie nicht wahr und grenzt sie aus. Die „Unfähigkeit zu trauern“, die Alexander und Margarete Mitscherlich für die Deutschen nach 1945 konstatiert haben, beginnt lange vor 1933. Die Trauerarbeit hätte bereits nach 1918 erfolgen müssen, um fortan Gewaltdenken, Machtwahn und Krieg auszuschließen. Dazu gehört, dass die Geschichtsschreibung und die von ihr weitgehend beherrschte „Erinnerungskultur“ nicht selten jedweden Zusammenhang zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg tabuisiert und leugnet. Umso mehr ist die Haltung von Militärs, die sich vor und nach dem Ersten Weltkrieg zu „weißen Raben“ entwickelt haben, als bedeutend, mutig und sinnstiftend anzuerkennen und zu würdigen.

Als „Rufer in der Wüste“ und charakterstarke Persönlichkeiten sahen die zu Pazifisten Gewandelten weit über den militärtypischen Tellerrand hinaus. Ihr Urteilsvermögen hob sie aus der Masse jener Militärs heraus, die Deutschlands Größe zurückzuerobern gedachten. Angesichts ihrer Kriegserlebnisse und der Erfahrung des besonderen Militarismus preußischer Provenienz engagierten sie sich in Wort und Tat für eine Abkehr vom Gewaltkult und dem Denken in Freund-Feind-Kategorien.

Wer waren diese „Raben“?

Zu ihnen gehört der Kapitänleutnant a.D. Hans Paasche (1881-1920). Er forderte Militärs wie Paul von Lettow-Vorbeck, im Ersten Weltkrieg Kommandeur der sogenannten kaiserlichen Schutztruppe für Ost-Afrika, und andere als „verdient“ geltende Kämpfer zur Umkehr auf, ihren Sinn zu ändern, nicht weiter festzuhalten am Glauben an die Allmacht des Schwertes und statt dessen für eine Politik der Verständigung und Aussöhnung einzutreten. Zudem prangerte er die Schuld des Kaiserreichs und der Militärs am Ersten Weltkrieg an und wollte die Verantwortlichen für das Völkergemetzel vor Gericht stellen und vor aller Welt zur Rechenschaft ziehen. Des Weiteren begrüßte er den Verlust der deutschen Kolonien und vertrat den Standpunkt: „Afrika den Afrikanern!“ Statt in sich zu gehen und dem blutigen Wahnsinn fortan die Gefolgschaft aufzukündigen, erklärte ihn die Militärherrlichkeit für vogelfrei, verleumdete ihn und stempelte ihn zum „Geisteskranken“. Am 21. Mai 1920 erschossen ihn rechtsradikal gesinnte Reichswehrsoldaten auf seinem Gut „Waldfrieden“ in der Neumark „auf der Flucht“ – so die Rechtfertigungslüge für rechte Lynchjustiz. Irgendjemand hatte ihn denunziert, Waffen für einen kommunistischen Aufstand versteckt zu halten. Nichts hat man gefunden. Selbst ein Haftbefehl hatte nicht bestanden. Das Verbrechen blieb ungesühnt.

Aus amtlicher Sicht ungeeignet, um als Symbol des Widerstandes zu dienen, ist auch das Schicksal des Generalmajors Paul Freiherr von Schoenaich (1866-1954), der 1929 sogar zum Präsidenten der Deutschen Friedensgesellschaft gewählt wurde und in dem erwähnten Band neben 16 weiteren Offiziere gewürdigt wird. Immerhin, in Reinfeld in Holstein, seinem Zuhause, hat man nach 1945 den ehemaligen „Adolf- Hitler-Platz“ nach ihm benannt. Unermüdlich hat er vor 1933 in zahllosen Versammlungen gewarnt: „Hakenkreuz und Stahlhelm sind Deutschlands Untergang!“ Doch über lokale Bekanntschaft ist Schoenaich nie hinausgelangt, obwohl er nach 1945 CDU-Mitglied war. Zu sehr weicht seine Haltung von jener der Verschwörer des Juli 1944 ab. Wie in seinem 1947 veröffentlichten „Geheimen Kriegstagebuch“ nachzulesen ist, erklärte er: „Dass ich in dem Zwist der Generale mit den Nazis auf Seiten der Generale bin, brauche ich nicht zu versichern. Ich betone aber deutlich, dass die Generale schwer mitschuldig sind. Solange alles gut ging, haben sie zu 99 Prozent zu Hitler gestanden. Die Aufrüstung brachte ihnen das hochwillkommene gute Avancement, und im Krieg steckten sie die ersten Siegeslorbeeren stolz an ihre Helme.“

Neben Berthold von Deimling, Lothar Persius, Franz Carl Endres, Fritz von Unruh, Carl Mertens, Kurt von Tepper-Laski, Alfons Falkner von Sonnenburg und anderen ist Hans-Georg von Beerfelde (1877-1960) zu nennen, Spross einer märkischen Junkerfamilie und 1914 Kriegsfreiwilliger. Seit 1916 als Hauptmann im Generalstab aktiv, wandelte er sich vom Alldeutschen zum Unabhängigen Sozialdemokraten und Pazifisten. Wie Paasche setzte er sich für einen Generalstreik zur Beendigung des Krieges ein. Als erster Deutscher wies er im Juli 1918 nach, dass sich die Regierung am 4. August 1914 mit einer gefälschten Dokumentensammlung die Zustimmung des Reichstages zu den Kriegskrediten erlogen hatte. Fortan suchte er die deutsche Öffentlichkeit von der „Wahrheit über die kaiserliche Kriegspolitik“ zu überzeugen – und landete in einer „Irrenbeobachtungsanstalt“. Als 2. Vorsitzender des Vollzugsrats der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte einer der mächtigsten Männer, forderte er wie Paasche im November 1918 die Aufklärung des Volkes über die verbrecherische Politik der deutschen Militärs sowie die Entmachtung der bisherigen Herrschaftseliten. Doch bereits eine Woche später stürzte er, im Anschluss an den Versuch, den ehemaligen preußischen Kriegsminister Heinrich Scheuch zu inhaftieren. Die Ebert-SPD, insgeheim weiter im Bündnis mit dem Gewaltregime der Hohenzollern, verleumdete und bekämpfte ihn. Unbeirrt trat er „nach der großen Zeit der Lüge“ für eine „Revolution der Wahrheit“ ein. Noske ließ gegen seine Versammlungen und Aufklärungskampagnen Panzer auffahren, drohten doch die „Kaisersozialisten“ in den Sog der Anschuldigungen Beerfeldes zu geraten – wie auch der verdienstvollen Biographie von Lothar Wieland über Beerfelde zu entnehmen ist. Die Weimarer Republik setzte den Aufklärer mit Haftbefehlen und Landesverratsprozessen unter Druck. Der Nazistaat, den Beerfelde in einem offenen Brief an Hitler zu einer „Vergangenheitsbewältigung“ auf der Basis einer Anerkennung deutscher Kriegsschuld aufrief, ließ ihn zusammenschlagen und von der Gestapo auf Schritt und Tritt verfolgen. Nach 1945 wandte er sich gegen die Remilitarisierung und sprach sich für eine Verständigung zwischen Ost und West aus.

Die 1910er Crew

Um die historisch-politische Bedeutung der „Weißen Raben“ zu ermessen, ist zu berücksichtigen, in welchem Umfeld sie sich bewegten. Franz Carl Endres (1878-1954), ebenfalls als „Weißer Rabe“ gewürdigt, beschrieb den preußisch-deutschen Militarismus als „Geistesverfassung des Militärs“, womit er des Pudels Kern traf. Denn auch die anderen „Abtrünnigen“ sahen in diesem spezifischen Militarismus nicht, wie Wette in seinem wichtigen Einleitungsbeitrag darlegt, in erster Linie den Berufseifer der Soldaten, sondern erkannten das Übel in der militärischen Versklavung des Zivilen und des gesamten politischen Denkens. Die Anmaßung des Militärs, die Politik und Geschichte zu bestimmen, ging ihnen schlicht zu weit – sie wollten nicht dabei mitwirken, den Krieg, wie es bereits vor 1914 gang und gäbe war, als „Gesundbrunnen“, „Reiniger der Völker“ und „Kulturbringer“ zu rechtfertigen. Insofern empfanden sie sich auch nicht einer elitären Kaste zugehörig, sondern eher als „Bürger in Uniform“, die nicht dem ungezügelten Militarismus, sondern dem Frieden dienen und für ihre Soldaten da sein wollten.

Ein ebenso faszinierender Offizier, der sich nach 1918 für ein „anderes Deutschland“ eingesetzt hat, ist Kapitänleutnant a. D. Heinz Kraschutzki (1891-1982). Wie Martin Niemöller und Karl Dönitz gehörte er zur „Crew 1910“. Zweifel an einer militärischen Laufbahn keimten schon vor 1914 auf. Wie Paasche war er Mitglied des „Abstinentenbundes der Offiziere“ und schätzte, selbst in der Wandervogelbewegung aktiv, dessen sozialkritisches Engagement. 1916 lernte er ihn persönlich kennen, und ihm imponierte sein Bekenntnis zu Karl Liebknecht. Wie Paasche und Beerfelde missachtete er die scharfe Trennung zwischen Offizieren und Mannschaften. Von ihnen erhielt er verbotene Bücher und Schriften, wie die Denkschrift des Fürsten Karl Max von Lichnowsky, die Aufzeichnungen des Krupp-Direktors Wilhelm Muehlon oder das Buch „J’accuse“ des Berliner Rechtsanwalts Richard Grelling, die erste große Anklageschrift zur Schuld des Deutschen Reiches an der Entfesselung des Krieges. In den 1920er Jahren trat Kraschutzki in die Redaktion der pazifistischen Wochenzeitung „Das Andere Deutschland“ ein, bekämpfte u. a. den Hass auf Polen und die geheime Aufrüstung. Seiner juristischen Verfolgung entzog er sich 1932 und ging mit seiner Familie nach Mallorca, wo er nach Errichtung des Franco-Regimes auf Betreiben der Nazis 1936 zum Tode verurteilt wurde. Doch die Spanier ließen ihn leben und wandelten die Strafe in lebenslanges Zuchthaus um. Nach 1945 wieder in Deutschland, engagierte er sich erneut in der Friedensbewegung, versuchte im Ost-West-Konflikt zu vermitteln und wurde erneut verleumdet. In seinen unveröffentlichten Erinnerungen schreibt er: „Es ist nicht wahr, dass wir Pazifisten unser Vaterland nicht lieben. Wir wollten nur nicht, dass es so aussähe, wie es 1945 tatsächlich aussah.“

Helmut Donat (Bilder: Leo Baeck Institute, New York, Papers of Salomon Dembitzer / Donat Verlag. Ex-Offiziere, die man in der offiziellen Erinnerungskultur der BRD nicht zu Gesicht bekommt: Die Pazifisten Paul Freiherr von Schoenaich, Hans Paasche, Heinz Kraschutzki, Hans-Georg von Beerfelde (von links))

Zu Teil I geht es hier.


Literatur

– Wolfram Wette (Hrsg.): Weiße Raben – Pazifistische Offiziere in Deutschland vor 1933.
– Lothar Wieland: In drei deutschen Staaten verfolgt – Hans-Georg von Beerfelde (1877–1960) und die gescheiterte Revolution der Wahrheit.
– Hans Paasche: „Ändert Euren Sinn!“ Schriften eines Revolutionärs.