Mitten in der Pandemie: Machtkampf mit den Pharma-Konzernen

Zweimal in wenigen Tagen zeigen Dritte den Regierenden von Union und SPD, was Politik bewegen kann. Das Bundesverfassungsgericht machte erst mit einem Urteil der Bundes­regierung Dampf in Sachen Klimaschutz. Und jetzt zeigt US-Präsident Joe Biden: Den profitmaßlosen Impfstoff-Konzernen kann die Politik auch während einer Pandemie Grenzen setzen. Einfach deren Patente freigeben. Bei beiden großen Entscheidungen stehen Merkel, Scholz, Altmeier, Laschet, Söder und wie sie alle heißen weit im Abseits.

Zum Stand der Dinge: In ärmeren Ländern wurde bisher jeder 500. Mensch geimpft, in den westlichen Wirtschaftsnationen bereits jeder Fünfte. Bis Ende 2021 wird Deutschland über etwa 320 Millionen Impfdosen verfügen. Linn Selle, Präsidentin der „Europäischen Bewegung Deutschlands“ rechnet vor: Obwohl die EU nur fünf Prozent der Weltbevölkerung repräsentiere, habe sie sich schon jetzt 25 Prozent des in diesem Jahr weltweit verfügbaren Impfstoffs gesichert.

Und was hat COVAX bisher erreicht? COVAX ist eine Initiative von Staaten und Pharmakonzernen, geleitet von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und UNICEF. Sie verfolgt das Ziel, möglichst viele arme, benachteiligte Staaten möglichst schnell mit Covid-Impfstoffen zu versorgen. Was hat sie bisher erreicht? Sie konnte lediglich 38 Millionen Impfdosen in 100 Länder liefern; unter anderem weil die Pharma-Konzerne so gut wie nichts zum Gelingen beitragen.

Ist das die Lösung: Patente freigeben?

Weil der Impfstoff so ungerecht verteilt ist, fordern bereits seit Monaten mehr als hundert Staaten, angeführt von Indien und Südafrika, der Patentschutz auf die Impfstoffe solle im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) zeitlich befristet ausgesetzt werden. Der Vorteil: Mit dem Wissen von Biontech, Pfizer, Moderna, Johnson & Johnson und anderen Unternehmen könnten dann weltweit zahlreiche Unternehmen die Impfstoffe produzieren. Die Folge: Es gäbe schneller mehr Impfstoff, der zudem gerechter verteilt sei. Dieser Plan hatte bisher so gut wie keine Chancen. Der Grund: Alle wichtigen Industrienationen, darunter Deutschland und die EU, waren strikt dagegen. Nun aber geht die US-Regierung Biden einen Schritt, der bereits als „historisch“ gilt, so der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO): Sie schlägt sich auf die Seite der ärmeren Länder. Wer will da noch widersprechen? EU und Deutschland beraten in diesen Tagen blamiert; wollen sie es sich doch eigentlich nicht mit ‚ihren‘ Pharma-Konzernen verderben. Die Pharmaindustrie selbst heult auf, sieht sie doch ihre Superprofite in Gefahr.

Nehmen wir an, es kommt nun, bestenfalls mit der zähneknirschenden Zustimmung von Berlin und Brüssel, zu einer solchen Patent-Freigabe: Was bringt das überhaupt? Und wie berechtigt sind die Gegenargumente der Konzerne?

Die bisherige Stimmung: Wir unterschreiben alles

Wie war die Stimmung bisher? Alle waren froh und unterschrieben alles, was die Impfstoff-Konzerne wollten. Und wenn verantwortliche Politiker, wie die von der EU, mit den Konzernen über Preise und Haftung verhandelten, wurden sie von allen Öffentlichkeiten zurechtgewiesen und abgestraft: Das sei verantwortungslos und koste doch nur wertvolle Zeit. Es galt die Devise: Bedingungslos unterschreiben. So wie die Regierung von Israel das tat: Sie bezahlte übersteigerte Preise und stellt den Pharma-Konzernen alle Patientendaten rund um die Impfung zur Verfügung. So war jüngst beiläufig einem Artikel der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) unter der Headline: „Geld spielt keine Rolle mehr“ zu entnehmen, eine Impfdosis von Biontech-Pfizer habe die EU einst 12 Euro, dann 15,50 gekostet und jetzt verlange und erhalte das Unternehmen 19,50 Euro. Das alles galt und gilt als vernünftig.

Weshalb die Pharma-Konzerne heute natürlich aus allen Wolken fallen. Dass einer der mächtigen Politiker des Westens, in diesem Fall US-Präsident Joe Biden, Rückgrat hat und ihnen in den Rücken fällt – damit hatten sie natürlich nicht gerechnet.

Die fallen aus allen Wolken

So sieht beispielsweise Stephen Ubl, Verband der US-Pharmaunternehmen (PhRMA), in der Entscheidung der Biden-Regierung einen „beispiellosen Schritt, der unseren globalen Kampf gegen die Pandemie untergräbt“. Bereits seit Wochen wendet sich auch Uğur Şahin, Vorstandsvorsitzender von Biontech, gegen eine Patent-Freigabe; übrigens wird sein Vermögen inzwischen mit knapp sieben Milliarden US-Dollar angegeben, passend zur Postanschrift seines Unternehmens „An der Goldgrube 12, 55131 Mainz“.

Aber was tragen die Konzerne konkret an Bedenken und Gegenargumenten vor?

Ihr erstes Argument: Vor allem die Herstellung der mRNA-Impfstoffe sei sehr komplex, und sämtliche qualifizierten Hersteller seien sowieso bereits via Lizenzen in die Produktion eingebunden. Und abgesehen von dieser herausfordernden Komplexität gebe es ganz andere Probleme, gegen die helfe eine Patent-Freigabe gar nichts: Es fehlten Rohstoffe, es gäbe Lieferengpässe bei den verschiedensten Komponenten, eben weil die Pharma-Konzerne ihre Impfstoff-Produktion so schnell so stark gesteigert hätten.

Vor allem: Nur die Impfstoff-Erfinder selbst könnten deshalb den Impfstoff auch produzieren. Eine Zahl von Biontech: Deren Impfstoff benötige in der Produktion knapp 300 verschiedene Komponenten, die von Dutzenden Unternehmen in knapp 20 Ländern hergestellt werden. Und in einem Tagesthemen-Interview mit Ingo Zamperoni argumentiert der Biontech-Chef Uğur Şahin: Man betrete mit der Produktion dieses neuartigen Impfstoffes Neuland, so dass auch kleine technische Probleme nennenswerte Folgen haben könnten. Schließlich handle es sich um die Massenproduktion eines höchstkomplexen Produktes mit anschließender anspruchsvollster Logistik.

Werden die Pharma-Konzerne die neuen Hersteller unterstützen? Wer‘s glaubt, wird selig!

So bräuchten Kooperationspartner von Biontech Monate, um ihre Hallen technisch so umzurüsten, dass sie abfüllen könnten.

Und der Vorstandschef des Darmstädter Pharma-Konzerns Merck, Stefan Oschmann, sagte Mitte Februar in einem FAZ-Interview: Sein Unternehmen produziere ja die Lipide, fettartige Moleküle, die Biontech jetzt in rauen Mengen benötigt. Bereits diese Lipid-Herstellung sei „ziemlich kompliziert“, so Oschmann. Und: Weltweit gebe es „nur ungefähr eine Handvoll Unternehmen“, die sie überhaupt produzieren könnten, in Deutschland seien es gerade zwei: Merck und der Spezialchemie-Konzern Evonik.

Was ist dieser Rede bisher zu entnehmen? Die jetzigen Marktführer wie Biontech und Moderna werden vermutlich alles tun, um andere Hersteller bei der Produktion am langen Arm verhungern zu lassen oder deren Produkte als zweitklassig zu denunzieren. Dazu geht es um zu viel Geld, als dass sie ihr Profit-Terrain kampflos räumen.

Das zweite Argument von Biontech und anderen: Ohne Patente verdienen wir zu wenig Geld. Wir müssen aber viel Geld verdienen, denn wir brauchen den Profit dringend, um den hohen finanziellen Aufwand für Forschung und Entwicklung überhaupt refinanzieren zu können. Und ohne die hohen Profite haben wir keinen Anreiz mehr, weiter erfinderisch und innovativ tätig zu sein. Gabriel Felbermayr, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), stützt diese Behauptung der Pharma-Branche. Im SPIEGEL sagt er: „Hunderte Unternehmen haben viele Milliarden Euro in Forschung investiert; nur wenige waren erfolgreich. Für die Branche ist es notwendig, dass im Durchschnitt erwartet werden kann, dass sich Forschung lohnt. Patentschutz spielt hier eine herausragende Rolle.“

Das Märchen von den hohen Forschungsausgaben

Experten von Ärzte ohne Grenzen und Medico International widersprechen und verweisen diese Darstellung in den Bereich der Märchen, denn diese Forschungen wurden und werden weitgehend vom Steuerzahler bezahlt. Beispiel: Der Impfstoff von Moderna und Biontech basiert auf der Technik der Messenger-RNA (mRNA); ein Bote befördert Gen-Informationen in die Körperzelle, dann werden Proteine aufgebaut. Diese Möglichkeit wurde erstmals im Jahr 1961 entdeckt. Vor allem öffentliche Forschungsinstitute forschten dann Jahrzehnte an diesem Impfstoff.

Die heute prominenten Unternehmen stiegen erst spät ein: Curavec im Jahr 2000, Biontech 2008, Moderna 2010. Meist waren es Wissenschaftler, die an den Unis diese Grundlagenforschung vorantrieben und dann ausstiegen und Firmen gründeten. Das heißt, sie profitieren von Wissen, das mit dem Geld der Steuerzahler öffentlich erforscht worden ist; Wissen, das von der öffentlichen Hand leider nie patentiert wurde. Was diese Unternehmer liefern: Sie haben ein Gespür für Chancen, Engagement und Risikobereitschaft. Dafür sollen sie auch sehr gut verdienen. Aber müssen es unbedingt zig Milliarden sein? Anhand der Geschäftszahlen ist zu belegen: Das Unternehmen Moderna hat beispielsweise in den letzten Jahre höchstens zwei Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung all seiner Produkte investiert. Und über Biontech ist bekannt, dass es gerade einmal eine Milliarde Euro in die Impfstoffentwicklung investiert habe. Christoph Koch hat im Wirtschaftsmagazin brandeins in einem kurzen und sehr informativen Text (siehe hier) weitere Daten und Informationen rund um das Agieren der Pharma-Konzerne und deren Förderung mit Steuergeldern zusammengetragen.

Dieter Lehmkuhl, Arzt und Kenner der Pharmabranche, hat bereits vor einigen Jahren in einer Analyse über „Das fatale Geschäft der Pharmaindustrie“ (Blätter für deutsche und internationale Politik, 2/2018) viele Mythen entlarvt, mit denen die Konzerne ihre exorbitanten Preise zu begründen versuchen. So räumten selbst Manager der Unternehmen ein, dass ihre hohen Medikamentenpreise wenig bis nichts mit den angeblich so hohen Kosten für Forschung und Entwicklung zu tun haben. „Es ist ein Irrtum zu glauben, dass unsere Preise die Kosten für Forschung und Entwicklung widerspiegeln”, so zitiert er Hank McKinnel, ehemaliger Chef von Pfizer. Die Kostenangaben schwankten sehr, so Lehmkuhl. So gebe das überwiegend von der Pharmaindustrie finanzierte Tuft Center for the Study of Drug Development aufgrund von nicht offengelegten Berechnungen an, diese Ausgaben beliefen sich je Medikament zwischen 1,2 bis gut 2,5 Milliarden US-Dollar. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen verweise dagegen auf Angaben der Drug for Neglected Diseases Initiative (DNDI), einer primär öffentlich finanzierten Fachorganisation. Diese rechne mit 50 bis maximal knapp 190 Millionen US-Dollar pro Medikament. Viele Pharma-Konzerne, so Lehmkuhl, geben nachweisbar doppelt so viel für Marketing aus wie für Forschung und Entwicklung, brächten viele Medikamente doch kaum Nutzen und Vorteile, so dass diese mit einem sehr hohen Werbeaufwand – auch gegenüber den Ärzten – in den Markt gedrückt werden müssten. Viel Geld fließe zudem in Lobbyarbeit gegenüber der Politik. Damit eben solche geschäftsschädigenden Störmanöver wie das jetzige von US-Präsident Joe Biden nicht passieren!

Aber auch für die Welt vor der Patent-Freigabe gilt: Nicht alle Unternehmen sind gleich. So müsste ausgerechnet das Unternehmen, das den Impfstoff mit dem miesesten Image anbietet, eigentlich weltweit den besten Ruf haben: AstraZeneca. Denn dieses Unternehmen zeigt, dass es auch anders geht. Deutlich anders als Unternehmen wie Biontech es vormachen.

Wie wäre es damit: Impfstoff zum Selbstkostenpreis?

Denn AstraZeneca versprach: Wir werden während der Pandemie mit unserem Impfstoff keinen Profit machen, sondern ihn zum Selbstkostenpreis abgeben. Der momentane Preisunterschied: zwischen fünf (AstraZeneca) und knapp 20 Euro (Biontech). Das Patent für den Impfstoff von AstraZeneca liegt bei der Universität Oxford, deren Wissenschaftler ihn auch entwickelt haben. Eine positive Seite des sehr umstrittenen Unternehmens, über die in unseren Medien so gut wie nicht berichtet wird. Würde darüber intensiv berichtet und debattiert, dann müssten wir unsere hochdekorierten Vorbild-Unternehmen Curavec und Biontech ja öffentlich mit der Frage konfrontieren: Reicht nicht der Selbstkostenpreis?

Wolfgang Storz (zuerst erschienen bei bruchstuecke.info; Bild: Jan Felix Christiansen auf Pixabay)