System Rassismus brechen
Vergangenen Dienstag, am 25. Mai, jährte sich der Tag, an dem ein Polizist George Floyd ermordet hat. Obwohl nur eines von zahllosen Opfern rassistischer Gewalt in den USA, entwickelte sich der grausame Erstickungstod, den der Afroamerikaner unter einem Polizeistiefel sterben musste, zum Fanal. Nicht nur in seinem Heimatland, weltweit gingen Menschen gegen Rassismus und Staatswillkür auf die Straße. Auch in Konstanz taten sich BIPoC (1) zusammen und organisierten zwei der eindrucksvollsten Demos der vergangenen Zeit. Jetzt, ein Jahr danach, rief die Black-Lives-Matter-Gruppe wieder zu einer Mahnwache auf.
Nicht nur George Floyds und vieler anderer Opfer gedachten die rund 150 Teilnehmenden indes auf dem Münsterplatz. In Reden forderten AktivistInnen die hiesige Stadtgesellschaft auf, die eigene Kolonialgeschichte aufzuarbeiten. Nötig seien zudem Maßnahmen, das „System Rassismus zu brechen“ – in öffentlichen Strukturen und Zivilgesellschaft. Zwei der am 25.5. auf dem Münsterplatz gehaltenen Reden zum – ausdrücklich empfohlenen – Nachlesen:
In Erinnerung an George Floyd und den Kolonialismus in Konstanz
Wir von Black Lives Matter Konstanz sind heute hier, um ein Jahr nach dem Mord an Georg Floyd und der daraus resultierten BLM-Bewegung zu gedenken und zu reflektieren. Wir möchten denen gedenken, die täglich dem System Rassismus zum Opfer fallen; denen die immer noch keine Gerechtigkeit erfahren haben und denen, deren Geschichten schon lange in Vergessenheit geraten sind.
Wir gedenken nicht nur Schwarzen Amerikaner*innen wie George Floyd und Briana Taylor, sondern auch Schwarzen Opfern von rassistisch motivierter Transphobie wie Monika Diamond. Und wir gedenken auch deutschen Fällen wie dem von Oury Jalloh, der 2005 von Polizist*innen in Dessau in seiner Zelle angezündet wurde.
Deshalb werden wir jetzt 5 Minuten schweigen.
Wir sind heute aber auch hier, um zu zeigen, dass Black Lives Matter und der Kampf gegen Rassismus kein Hobby oder Trend ist, sondern zum Alltag und zur Realität gehören muss.
365 Tage ist es her, dass George Floyd ermordet worden ist, doch die Bilder in unseren Köpfen, wirken noch immer so gegenwärtig, als sei das ganze erst gestern gewesen. Das Schuldigsprechen eines Polizisten ist in Anbetracht einer andauernden Ungerechtigkeit zwar ein Erfolgserlebnis – das Ziel ist aber immer noch nicht erreicht.
„Black Lives Matter“ hat sich im vergangenen Jahr zu einer globalen Bewegung entwickelt und wir wollen, dass dieser Zeitgeist am Leben bleibt!
Daher erinnern wir uns heute nicht nur an brennende Straßen, globale Proteste und Menschen in Aufruhr. Auch in Deutschland gibt es eine bislang unsichtbare Schwarze Geschichte, die aufgearbeitet und erinnert werden muss.
Die Geschichte Schwarzer Menschen und ihre historische Wahrnehmung sind von der kolonialen Vergangenheit Deutschlands geprägt. Eine Aufarbeitung der Folgen, die bis in die Gegenwart reichen, hat bisher nicht stattgefunden.
Umso wichtiger ist es, dass wir heute damit beginnen ein Zeichen zu setzen. Für unsere Brüder und Schwestern in der deutschen Diaspora und für alle anderen weltweit.
Nicht über die Kolonialvergangenheit zu sprechen, heißt ignorant zu sein.
Rassismus in Deutschland zu relativieren, heißt ignorant zu sein.
All Lives Matter zu schreien, heißt ignorant zu sein.
Alle Menschen als gleich zu sehen, heißt ignorant zu sein.
Wir sind in einem System verstrickt, das die Gedanken weißer Aufklärer feiert, aber die des Anton Wilhelm Amo (2) nicht. Wir leben in einer Zeit, in der die Gedichte von deutschen Dichtern, aber nicht die von May Ayim (3) gelesen werden. Wir löschen die NS-Geschichte aus dem Stadtbild, aber die M-Apotheke und seine rassistische Sklavenfigur nicht.
Wir bewegen uns zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, weil die Stimmen von Schwarzen Menschen ignoriert werden, egal, wie oft man im Südkurier zitiert oder der OB von Konstanz auf Posts verlinkt wird.
Die Floskeln über Multikulturalismus, Vielfalt, Gleichstellungskonzepte, unzureichende Vorstellungen von Frieden und all die Aufklärungsarbeit durch die örtliche Presse reichen nicht aus. Wir brauchen Verbündete, sowohl in den Strukturen der Stadt als auch in der Zivilgesellschaft, um das System Rassismus zu brechen.
Aus diesem Grund stellen wir heute unsere Forderungen an die Stadt Konstanz.
In einer Stadt, die angeblich verantwortungsbewusst mit der Vergangenheit umgeht, wird ausschließlich Aufklärungsarbeit über die NS-Zeit geleistet. Die Kolonialzeit wird jedoch schlichtweg nicht thematisiert. Dies zeigt, wie all die schrecklichen Geschehnisse der Zeit verharmlost werden.
Konstanz befasst sich nicht mit seiner eigenen Kolonialgeschichte, sodass die Versklavung von 5000 Menschen während dieser Zeit einfach verschwiegen und dadurch vergessen wird. Wir fordern deshalb eine nachhaltige städtische Erinnerungskultur, die bemüht ist, diese Geschichte zu vergegenwärtigen.
Wir fordern auch die Schaffung von Anti-Diskriminierungs- und Anti-Rassismusstellen, welche mit und für BIPoC geschaffen werden, um zum Beispiel verpflichtende Workshops und Seminare in staatlichen Institutionen für Lehrer*innen, Schüler*innen, Politiker*innen, Polizist*innen, aber auch für die breite Stadtgesellschaft zu organisieren.
Wir fordern eine multiperspektivische Neuverhandlung historischer Themen in den Schulen der Stadt Konstanz, welche die Sicht von BIPoC miteinschließt. Denn nur die wenigsten können auf die Frage, was denn mit schwarzen Menschen in der NS-Zeit passierte, antworten.
Wir fordern die Narrative von BIPoC zu betrachten, um die Identitäten herauszubilden. Sei es durch eine Neuverhandlung der Vergangenheit oder auch durch fiktive Geschichten.
Wir fordern, dass Bücher von Autor*innen of Color in Kitas, Kindergärten und in Grundschulen gelesen und verstanden werden.
Vor allem fordern wir, dass uns zugehört wird und wir von der Stadt Konstanz eingebunden werden. Die Leben Schwarzer Menschen zählen in Konstanz und überall auf der Welt nur dann, wenn wir Rassismus gemeinsam als Verbündete bekämpfen.
Glorianne, Linda, Serena
„Wir brauchen eine starke, solidarische Gegenkultur der Minderheiten und keine deutsche Leitkultur“
Rassismus tötet: Er tötet nicht nur Menschenleben, er tötet auch emanzipatorische und demokratische Ideale. Er tötet Hoffnungen und Freiheit. Er tötet die Würde von Menschen.
Rassismus ist kein amerikanisches Phänomen. Rassismus gibt es auch in Deutschland, auch in Konstanz. Erst vor einem Jahr wurden neun Menschen aufgrund ihrer vermeintlichen Herkunft von einem Rassisten in Hanau getötet. 213 Menschen zählt die Amadeo Antonio Stiftung in Deutschland, die aus rassistischen Motiven seit den 90ern getötet wurden.
Death in Custody zählt seit den 90ern 181 Morde durch die Polizei. 2005 starb Oury Jalloh in Dessau in Polizeigewahrsam. 2018 verbrannte Amad Ahmad in einer Zelle, er wurde fälschlicherweise festgenommen. 2020 wird Mohammed Idrissi bei einem Einsatz erschossen, er starb an der Verletzung. KOP, die Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt beklagt die fehlende Aufklärung dieser Fälle und verweist darauf, dass bei Gewalt durch die Polizei, die Polizei selbst ermittelt und es keine unabhängige Untersuchungskommission gibt.
Und in Konstanz? In Konstanz schreibt die Polizei rassistische Polizeiberichte, ehrt ein ehemaliges NSDAP und später NDP- Mitglied, lässt rassistische Klausuren schreiben. Auch die polizeiliche Praxis des racial profiling ist in Deutschland weit verbreitet. Diesen erniedrigenden Kontrollen sind Menschen mit bestimmten äußeren Merkmalen in unserem Zollgrenzgebiet Konstanz/Kreuzlingen regelmäßig ausgeliefert.
Rassifizierte und migrantisierte, jüdische und muslimische Menschen erleben in Deutschland Rassismus, Antisemitismus und anti-muslimischen Rassismus in Behörden und Institutionen, in Medien, in politischen Debatten, in der Schule und im Studium, im Alltag, beim Busfahren, beim Einkaufen, beim Feiern. Regelmäßig wird in deutschen TV-Formaten verhandelt, wer Deutsch ist, wer Deutsch sein darf und wer auf keinen Fall dazugehört. Die Debatten um eine deutsche Leitkultur sind endlos und sie verpesten das gesellschaftliche Klima und ersticken eine gleichberechtigte Teilhabe von allen Menschen im Keim. Erst vor ein paar Tagen behauptete Jens Spahn die hohen Inzidenzen letzten Sommer haben an den Verwandtschaftsbesuchen in die Türkei und in den Balkan gelegen. Die tatsächlichen hohen Inzidenzen gab es aber erst im Winter. Statt sich mit der eigenen misslungenen Gesundheitspolitik auseinanderzusetzen, schiebt er das Problem auf migrantische Communities – mal wieder sind die sogenannten Ausländer die Sündenböcke.
Rassismus ist ein strukturelles Problem. Wir sind alle mit Rassismus sozialisiert worden. Wir können ihn nicht einfach abschütteln. Weiße deutsche Menschen erfahren keinen Rassismus und finden oft nur schwer einen Umgang mit ihm. Sie kennen es nicht, als defizitär thematisiert zu werden, in einem menschlichen Wertigkeitsranking eingeordnet zu werden. Sie kennen es nicht, dass ihre Mütter, ihre Schwestern, ihre Brüder und Väter beleidigt und erniedrigt werden mit Witzen, Sprüchen, Blicken. Ist ja alles nur Satire.
Auch gemeinsam werden wir das nicht so schnell ändern können, aber es ist wirklich Zeit, dass wir offen thematisieren können, wo Rassismus beginnt und wo er vielleicht aufhört.
Wir brauchen Chancengleichheit und kein Heimatmuseum, wir brauchen Ressourcen, um die Menschen auf der Flucht zu unterstützen und kein Ministerium zum Schutz der europäischen Lebensweise. Wir brauchen eine starke, solidarische Gegenkultur der Minderheiten und keine deutsche Leitkultur. Wir brauchen rassismuskritisch geschulte Menschen auf allen Ebenen und keine erniedrigenden Sonderbehandlungen. Rassismus tötet – an vielen Orten und auf vielen Ebenen.
Black lives matter, no justice, no peace!
Abla Chaya, Jehona
jüg (Bilder: Sophie Tichonenko)
Anmerkungen:
(1) Abkürzung für Black, Indigenous and People of Color
(2) Anton Wilhelm Amo, geb. um 1703 im heutigen Ghana, war der erste bekannte Philosoph und Rechtswissenschaftler afrikanischer Herkunft in Deutschland. Er stellte die Ungleichheit von schwarzen Europäern in Frage und gilt als ein Vordenker des Antirassismus.
(3) May Ayim (1960–1996) war eine deutsche Dichterin, Pädagogin und Aktivistin der afrodeutschen Bewegung.