Auf dem rechten Auge blind, auf dem linken Auge blöd

„Alerta – Antifacistas“ („Achtung – die Antifaschisten kommen“) war die Losung am Freitag in Konstanz. Zahlreiche Jugendliche unter den fast 500 Demonstranten riefen diesen Slogan auf ihrem Weg durch die Innenstadt zur Marktstätte, wo sich weitere 100 Teilnehmer einreihten. Ein eindrucksvoller Zug,  eine eindrucksvolle Kundgebung und wahrlich eindrucksvolle Reden „gegen rechte Gewalt“. seemoz veröffentlicht eine dieser Reden an dieser Stelle, weitere werden folgen.

Höchstens das martialische Polizeiaufgebot störte den friedfertigen Eindruck: 200 auswärtige Bereitschaftspolizisten waren allein auf dem Stephansplatz stationiert, zusammen mit örtlichen Polizeikräften eskortierten sie den Demonstrationszug. Andererseits: Übergriffe auf die Kundgebung waren im Internet angekündigt worden – und ausnahmsweise sicherte die Polizei dieses Mal eine antifaschistische Demonstration, während in Friedrichshafen in den letzten Jahre zum Beispiel, nur Aufmärsche der Neonazis bewacht wurden.

Die sieben Reden auf der Marktstätte verstärkten diesen Eindruck einer nachdenklichen Demonstration. Nur wenige Beispiele: Holger Reile zeigte die internationale Vernetzung der hiesigen Neonazis auf, sparte aber auch nicht mit Kritik an der örtlichen CDU wegen ihrer Weigerung, diese Veranstaltung zu unterstützen, und an den Narrenvereinen, die eine Einmischung von Neonazis in den Fasnachtsumzug kommentarlos ließen. Roswitha Besnecker schilderte das Schicksal der Singener Familie Harlander, die unter den Nazis litt und nun Stolpersteine gewidmet bekommt. Raoul Ulbrich kritisierte auch die Untätigkeit der Konstanzer Staatsanwaltschaft nach dem Überfall von Neonazis auf eine Ausstellung vor fünf Jahren, die den Anlass für die aktuelle Demonstration lieferte.

Emotionaler Höhepunkte der Veranstaltung aber die Rede von Zahide Sarikas: „Ich bin Konstanzerin, hier bin ich zuhause“, rief die sozialdemokratische Landtagskandidatin, die vor einem Jahr vermutlich von einem Neonazi überfallen worden war, den Demonstranten zu. Sie schilderte ihre Angst, aber auch ihre Zuversicht, als Mensch mit ausländischen Wurzeln weiter in Konstanz leben zu wollen. Und sie rief ihre Mitbürger auf, in der Familie und in der Schule die Kinder zu integrationswilligen Menschen zu erziehen.

seemoz dokumentiert in Anschluss die Rede von Margrit Zepf, stellvertretende Geschäftsführerin  der Gewerkschaft ver.di im Bezirk Schwarzwald-Bodensee:

Auf dem rechten Auge blind, auf dem linken Auge blöd. Trifft diese Aussage auf unser Land zu?

Als Angehörige der ersten Nachkriegsgeneration habe ich mich immer wieder gefragt, wie es dazu kommen konnte, dass in den Nationalsozialismus eng verstrickte Juristen, Politiker und Verwaltungsmenschen nach 1949 nahtlos wieder in ihre Ämter kamen. Während Opfer des Nationalsozialismus viele Jahre für ihre Rechte kämpfen mussten.

Der Fall des früheren Oberbürgermeisters und Noch-Ehrenbürgers der Stadt Konstanz, Bruno Helmle, ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie dies gelang. Die Täter von damals sind heute verstorben oder hochbetagt, in den Institutionen von Polizei, Justiz und Verfassungsschutz sitzen heute andere…

Aber dennoch gilt: Auf dem rechten Auge blind und auf dem linken Auge blöd: Während in Sachsen-Anhalt Staatsschützer mit besonders hohen Aufklärungsquoten rechter Gewalttaten in den Streifendienst versetzt werden, weil der Vize-Polizeipräsident Angst hat, dass hohe Fallzahlen das Ansehen des Landes stören könnten, wird in Sachsen, Thüringen, Hessen und im Bundestag die Immunität von Abgeordneten der Linken aufgehoben,

…nicht weil sie unserem Ex-Bundespräsidenten nachgeeifert hätten oder mit Alkohol am Steuer erwischt worden sind, sondern ihnen wird vorgeworfen, dass sie eine Demonstration Rechtsradikaler in Dresden gestört hätten. Verfassungsschutz und Geheimdienste nehmen die Bedrohung von rechts nicht ernst.

Ich frage nach den Ursachen…

Teilweise erklärt sich dies aus der Geschichte der Dienste. Seit ihrer Gründung waren die Spionagejäger und Verfassungshüter Soldaten des Kalten Krieges im geteilten Deutschland – und da stand der Feind eben links. Vor 20 Jahren ist die Mauer gefallen. Unsere Welt hat sich grundlegend verändert, der Feind steht nicht mehr in Moskau oder Ost-Berlin. Aber,  unser Land ist immer noch auf dem rechten Auge blind und auf dem linken Auge blöd….

Liebe Bürgerinnen und Bürger, sehr geehrte Damen und Herren, müssen wir uns auch in Konstanz vor rechter Gewalt sorgen? Ich sage ja.  

Ist es nicht Grund genug, wenn wir heute froh sein müssen, dass uns im Hintergrund dieser Demonstration ein großes Polizeiaufgebot vor den Neonazis schützt,

Ist es nicht Grund genug, wenn schon bei den Vorbereitungstreffen ein Polizeiauto vor der Türe stehen muss, weil Störungen von Rechtsradikalen angekündigt wurden,

Ist es nicht Grund genug, wenn Zahide Sarikas, nachdem sie überfallen worden ist, Angst um ihr Leben hatte und Monate braucht, um sich in der Mitte dieser Gesellschaft wieder wohl zu fühlen,

Ist es nicht Grund genug, wenn Rechtsradikale versuchen, eine antifaschistische Ausstellung zu stürmen..…

Ist es nicht Grund genug, wenn Rechtsradikale den Konstanzer Fastnachtsumzug für Propaganda missbrauchen…

Ich weiß, es gibt Menschen, die meinen, man sollte nicht so viel Aufhebens machen, und damit die Rechten aufwerten. Dieser Meinung bin ich nicht. Unsere Eltern haben weg geschaut und nachher gesagt, sie hätten nichts gewusst….Hinter dieser Ausrede dürfen wir uns nicht verstecken.

Das Internet macht es einerseits den Rechtsradikalen leicht, ihre Hassparolen zu verbreiten…Aber es macht es uns auch leicht, uns darüber zu informieren, was sich da in der braunen Szene zusammenbraut. Ich gebe zu, auch ich war, nachdem ich gezielt im Internet gesurft hatte, schockiert, was da an braunem Sumpf, auch aus unserer Region hervortrat….Und ich fragte mich, wie jemand in Zweifel ziehen kann, dass es zwischen NPD und rechtsradikalen Gruppen wie den sogenannten „Freien Kräften“ und „den Unsterblichen“ sehr enge Verbindungen gibt.

Liebe Bürgerinnen und Bürger, sehr geehrte Damen und Herren,….

Unsere Gesellschaft muss aufhören mit der blödsinnigen Ausgrenzung von Linken, die in der Überwachung von 27 Bundestagsabgeordneten der Linken durch den Verfassungsschutz gipfelt.

Und nicht nur die Konservativen müssen aufhören, zu glauben, man bekämpfe Neonazis am besten dadurch, indem man den Mantel des Schweigens über sie ausbreitet.

Wer Linken mit Totschlagargumenten begegnet und gleichzeitig Totschläger von rechts ignoriert, der macht sich mitschuldig. Annähernd 200 Menschen sind seit der Wiedervereinigung politisch motivierten Morden Rechtsradikaler zum Opfer gefallen. Nein, wir dürfen nicht wegschauen, sondern wir müssen hinschauen und aktiv werden.

Lassen Sie mich zum Ende als Gewerkschafterin noch ein paar Sätze zu den Ursachen und den Gefahren sagen, die ich für die Zukunft sehe: Was ist denn der Nährboden für die Rechtsradikalen?

Die ständig wachsende Kluft zwischen Arm und Reich! Und ich zitiere aus der Rede, die Hans Jochen Vogel auf dem Schlossplatz in Dresden am 18. Februar gehalten hat: „Diese Kluft gefährdet den Zusammenhalt und damit letzten Endes die Demokratie, denn sie verschafft den Extremisten Gehör und Zustimmung“.

Eine schlechte Familienpolitik und Kinderarmut lassen leichtes Spiel für Kinderfeste der Rechtsradikalen, die in den neuen Bundesländern großen Zulauf finden …Wer den Jugendlichen keine Perspektiven bietet, bereitet den Boden für militante Kameradschaften. Und wer nicht dafür sorgt, dass Menschen von ihrer Arbeit auskömmlich leben können, Stichwort Mindestlohn, der gefährdet den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und unserer Demokratie.

Liebe Bürgerinnen und Bürger, sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich, dass Sie heute so zahlreich zu dieser Demonstration gegen rechte Gewalt gekommen sind und ich schließe mit einem weiteren Zitat aus der Rede von Hans Jochen Vogel:

Jede und Jeder ist aufgerufen, seiner Verantwortung nicht nur heute, sondern auch im Alltag gerecht zu werden.