„Max Maddalena 36“ oder die Geschichte der Harsenstraße in Singen
Von der „Geschichte der Singener Max-Maddalena-Straße (heute Harsenstraße), ihrer Identität, den Menschen, die für die Freiheit kämpften und ihrem Echo, das bis heute zu uns spricht“, handelt das neue Theaterstück „Max Maddalena 36“ des schon lange über die Region hinaus bekannten Autors und Rechtsanwalts Gerd Zahner. Fünf Opfer der Nationalsozialisten – die Familie Harlander, die wegen Fluchthilfe zu Gefängnisstrafen und KZ verurteilt wurde, sowie Max Maddalena, Arbeiter, Gewerkschaftsführer, Reichstagsabgeordneter der KPD – lebten in dieser Straße und prägten ein Stück ihrer Geschichte.
Ein Teil der „alten Nordstadt“, zwischen Alemannen- und Uhlandstraße, wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das „rote Viertel“ genannt. Dort wohnten viele Arbeiterfamilien, die traditionell SPD oder KPD wählten. Eine der Straßen des Viertels ist die Harsenstraße.
Vor dem Haus Nummer 36 erinnern vier Stolpersteine an seine damaligen Eigentümer: Das Ehepaar Georg und Therese Harlander und deren Kinder Xaver und Anna waren 1928 in das eigene Haus gezogen, das von Herbst 1933 bis Anfang 1935 für knapp eineinhalb Jahre zur „Anlaufstelle Harlander“ wurde. Über diese sogenannten Anlaufstellen lief die Verbindung der in Deutschland tätigen Widerstandsgruppen zu den jeweiligen Widerstandszentren im Ausland. Die Arbeiterstadt Singen mit ihrem guten Anschluss ans Eisenbahnnetz, der nahen Grenze zur Schweiz und den vielen Grenzgängern, die vor allem in Schaffhausen arbeiteten, eignete sich für eine solche Anlaufstelle bestens. Der damals 25 Jahre alte Xaver Harlander, als Gipser in Schaffhausen beschäftigt, hatte Kontakt zu Schweizer Nazigegnern und war von einem Genossen angesprochen worden, ob in seinem Haus eine solche „Anlaufstelle“ geschaffen werden könnte. Eltern und Schwester willigten ein – überzeugt von der Notwendigkeit einer solchen Unterkunft für Menschen, denen nur der Weg ins Exil blieb.
Harsenstraße Nr. 36: „Anlaufstelle Harlander“
„Ich komme von den BMW-Werken“, hieß die Losung für all jene, die auf der Flucht vor den Nazis Deutschland schnellstmöglich verlassen mussten. Jeder, der kam, übernachtete bei Harlanders, am nächsten Tag brachte ein Schweizer Genosse oder eine Genossin einen Tagesschein und eine Rückfahrkarte mit der Bahn. Mit dieser reiste der jeweilige Emigrant in die Schweiz (deren Asylpolitik in diesen Jahren noch recht liberal war). Der Schweizer Genosse selbst kaufte eine neue Fahrkarte und fuhr mit seinem richtigen Pass über die Grenze zurück. „Ich weiß nicht mehr, wie viele das waren, die wir über die Grenze brachten“, erinnerte sich Xaver Harlander.[1] Nach seiner Verurteilung hatte ihn die Gestapo wiederholt verhört, um Namen von jenen, die bei Harlanders Zuflucht suchten und fliehen konnten, zu erfahren. Doch die wirklichen Namen kannte auch er nicht. Der „kleine Grenzverkehr“ via Anlaufstelle Harsenstraße 36 funktionierte gut – bis zum 23. Januar 1935. An jenem Tag wurde Xaver Harlander auf dem Heimweg von Bankholzen verhaftet. Er hatte illegale Flugblätter bei sich. Damit war auch die „Anlaufstelle Harlander“ nicht mehr sicher. Therese Harlander konnte die Schaffhauser Genossen warnen, und in der Wohnung der Familie Schwarz, Am Posthalterswäldle (ebenfalls im „roten Viertel“), gelang es nochmals für kurze Zeit, eine neue Anlaufstelle einzurichten.
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Xaver Harlander wurde im Juni 1935 vom Sondergericht Mannheim zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt. Danach wurde er der Gestapo in Schutzhaft überstellt, denn inzwischen waren die Anlaufstellen Harlander und Schwarz in deren Visier geraten und Gegenstand von Ermittlungsverfahren. Am 26. August 1935 wurde Friedrich Schwarz verhaftet, am 14. Januar 1936 Therese Harlander und am 16. Januar 1936 Georg und Anna Harlander. Im Juli 1936 begann der Prozess: Therese und Georg Harlander wurden je zu einem Jahr und sieben Monaten Gefängnis wegen Hochverrats verurteilt, Tochter Anna wegen Fluchthilfe zu zehn Monaten. Aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes wurde Therese Harlander im September 1937 per Gnadenerweis aus dem Gefängnis entlassen. Sie starb am 11. November 1938 an den Folgen der Haft. Sohn Xaver blieb bis 1942 – in den Konzentrationslagern Kislau, Flossenbürg und Dachau – Gefangener der Gestapo.[2]
Max-Maddalena-Straße 1947 bis 1959
Die Max-Maddalena-Straße in Singen? Daran werden sich wahrscheinlich nur noch sehr betagte SingenerInnen erinnern. Auch der Name des Singener Arbeiters Max Maddalena (geb. 17.1.1895 in Riedheim, gest. am 22.10.1943 im Zuchthauskrankenhaus Brandenburg-Görden), als Unteroffizier im 1. Weltkrieg ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz II. und I. Klasse sowie der Badischen Kriegsverdienstmedaille, Mitglied im Deutschen Metallarbeiter-Verband, Gewerkschaftsführer, KPD-Reichstagsabgeordneter und Mitglied des Zentralkomitees der KP, zeitweise Weggefährte von Klara Zetkin, Ernst Thälmann und Herbert Wehner, dürfte nur noch wenigen etwas sagen. Die Autorin Sabine Bade widmete dem Umgang mit der Erinnerung an ihn jüngst einen Beitrag in ihrer seemoz-Serie „Ausflüge gegen das Vergessen“.
Kurz nach Kriegsende wurden auf Veranlassung des damaligen französischen Besatzungskommandanten einige Straßen zum Gedenken an Opfer der Nazi-Gewaltherrschaft umbenannt. Aus der Harsenstraße wurde so 1947 die Max-Maddalena-Straße. Dort war für kurze Zeit – von Herbst 1932 bis Frühjahr 1933 – Maddalenas letzter Wohnsitz in Singen gewesen. Bestand hatte diese Umbenennung nur wenige Jahre. In der rückwärtsgewandten Adenauer-Ära und während des Kalten Krieges waren Kommunisten mehr als suspekt. Nicht an sie erinnert, sondern aus dem Gedächtnis gelöscht sollten diese WiderstandskämpferInnen und Opfer der NS-Justiz werden. Als Singener Bürger an den damaligen Oberbürgermeister Theopont Dietz (CDU) einen Brief geschrieben hatten, mit der Bitte, der Max-Maddalena-Straße ihren alten Namen zurückzugeben, setzte sich der damalige Stadtrat Josef Schüttler mit mehreren Redebeiträgen erfolgreich für diese Umbenennung ein: Am 6. April 1959 stimmte die Mehrheit des Singener Rates für die Rückbenennung in Harsenstraße. Schüttler charakterisierte Maddalena als „einen großen Kommunisten, der sich im Reichstagshandbuch von 1932 gerühmt habe, wegen Landfriedensbruchs und Vorbereitung zum Hochverrat und schließlich wegen eines Verstoßes gegen das Republikschutzgesetz vorbestraft zu sein“. Ein Mann mit einer solchen Einstellung könne nicht durch die Benennung einer Straße gewürdigt werden.“[3] Purer Kommunistenhass des CDU-Politikers?
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Außer Mitglied im Singener Stadtrat war Josef Schüttler von 1946 bis 1961 Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Konstanz und von 1960 bis 1968 baden-württembergischer Arbeitsminister unter Ministerpräsidenten mit brauner Vergangenheit, Kiesinger und Filbinger. Und: Schüttler war wie Maddalena ein Mann der Gewerkschaft. Anfang der 1920er Jahre kam er als hauptamtlicher Sekretär des Christlichen Metallarbeiter-Verbands nach Singen. Max Maddalena war zur selben Zeit zum Geschäftsführer des Deutschen Metallarbeiter-Verbands im Gebiet Singen-Konstanz ernannt worden, in dem SPD und KPD um die Vorherrschaft rivalisierten, 1922 aber die KPD die Mehrzahl der ArbeiterInnen für sich gewinnen konnte. Die bürgerlich-christlichen und die linken Funktionäre waren sich überwiegend herzlich abgeneigt. Nach Kriegsende 1945 engagierte sich Schüttler in der IG Metall und war bis 1956 ihr Geschäftsführer im Bodenseeraum. War die Rückbenennung des Straßennamens vielleicht auch eine späte Rache an einem einstigen, erfolgreicheren Rivalen?
Straßen und ihre Namen
Josef Schüttler ist übrigens eine Straße gewidmet, im neuen Singener Industriegebiet, ziemlich am Rande der Stadt. Auch mit seinem Namen wissen höchstwahrscheinlich nur wenige etwas anzufangen. Und nach Max Maddalena ist zwischenzeitlich eine andere Straße, eine kleine Anliegerstraße in einem Neubaugebiet in der Nordstadt benannt. Aber selbst darum musste 2006 im Singener Gemeinderat noch gerungen werden. Die Harsenstraße blieb die Harsenstraße.
Doch – böse Ironie des Schicksals? – fast genau gegenüber dem Haus Harsenstraße Nr. 12, in dem der Arbeiterführer Max Maddalena wohnte – mündet die Querstraße mit dem Namen Major-Scherer-Straße. Auch sie war unter französischer Kommandantur für ganz kurze Zeit umbenannt worden – in Ernst-Thälmann-Straße. Aber seit Jahrzehnten wird hier einem Vertreter jener in der Weimarer Ära republikfeindlichen Offizierskaste gedacht.
Hintergrund ist folgender: Am 4. Juli 1922 – dem Tag der Beisetzung des von Rechtsradikalen ermordeten liberalen Außenministers Walther Rathenau – hatte die lokale Gewerkschaftsspitze von SPD und KPD (Maddalena) gemeinsam eine Arbeiter-Großdemonstration organisiert (während die „Christlichen“ es abgelehnt hatten, sich an dieser zu beteiligen). Nach Ende der Veranstaltung zogen einzelne Demonstrierende weiter durch Singen mit dem Ziel, noch immer präsente Symbole der Monarchie zu entfernen. Maddalena gehörte nicht zu den Teilnehmern. Vor der Villa des Major Scherer – in dessen Person als ehemaliger Offizier die Demonstrierenden (wohl nicht ganz unbegründet) einen Gesinnungsfreund der Rathenau-Attentäter sahen –, kam es schließlich zu einer blutigen Auseinandersetzung. Aus Scherers Haus wurden Schüsse auf die ArbeiterInnen abgegeben, unter denen es Verletzte gab, woraufhin einige von ihnen gewaltsam ins Haus eindrangen. Dort kam es zu einem Handgemenge, in dessen Verlauf Scherer durch einen Schuss tödlich verletzt wurde.
Für Singens Arbeiterschaft war der Vorfall fatal: Ein konservatives Mitte-Rechts-Bündnis sicherte sich fortan bis 1933 die politische Mehrheit in der Stadt und prägte Singens Entwicklung maßgeblich. Der Einfluss der ArbeiterInnen in der jungen Arbeiterstadt war geringer denn je.[4] Aber dies ist eine andere, wenngleich ebenso (fast) vergessene Geschichte.
Gegen das Vergessen
„Erinnern ist schaukeln – vor und zurück, in einem Augenblick.
Doch wie erinnern wir uns? Wir legen Stolpersteine gegen das Vergessen.
Ob die Schuhe es lesen können?
„Ich werde nicht in der Harsenstraße 36 wohnen! Ich wohn‘ Max-Maddalena-Straße 36!“ heißt es in Gerd Zahners Stück. Von dieser Straße und ihren Menschen erzählen uns die Kinder der Straße, die – über alle Ängste erhaben –, das Schweigen brechen.
*****
Was: Eine Theaterproduktion des Kulturzentrums GEMS, https://www.diegems.de/theater.html;
Wer: Schauspiel, Choreographie und Konzept: Lisa Maria Funk, Anna Hertz, Leander Kämpf; Musik: Reinhard Stehle.
Wann: 28. und 29. Juli 2021, Beginn: 19.30 Uhr
Wo: Harsenstraße / Ecke Lessing-Straße. Bei Unwetter oder Sturm fällt die Aufführung aus.
Wofür: Einheitspreis: 12.– € / ermäßigt: 9.– € (Preise außerhalb der GEMS zzgl. Gebühren)
Quellen
[1] Käthe Weick, Widerstand und Verfolgung in Singen und Umgebung. Stuttgart 1982, S. 109-114.
[2] Geschichtswerkstatt Singen: „Seid letztmals gegrüßt“ – Biografische Skizzen und Materialien zu den Opfern des Nationalsozialismus in Singen. Singen 2005, S. 33-41.
[3] Landeskundliches Informationssystem Ba-Wü: Max Maddalena: https://www.leo-bw.de/web/guest/detail/-/Detail/details/PERSON/kgl_biographien/13019199X/ dort Biografie: Michael Kitzing (Autor), aus: Badische Biographien NF 6 (2011), S. 262-265.
[4] Gert Zang, Arbeiterleben in einer Randregion. Konstanz 1987, S. 188-202.
Text: Uta Preimesser (Bilder Harsenstraße und Stolpersteine: Dieter Heise; Max-Maddalena 36-Grafik: Kulturzentrum GEMS)
Danke Gerd Zahner und den Theaterleuten.
Sehr sehr gut recherchiert u erfasst. Danke. Gerd Zahner
Erinnern sollte man sich auch an den Allensbacher Maler Otto Marquard, Kapitän Franz und die Zucker-Schmuggler-Gang auf der Fluchtroute Reichenau -Schweizer Seegrenze, die Schweizer Genossen Otti und Gretli Sigerist, der Pfarrer Stückelberger – ein Hauch von Casablanca am Bodensee.