Unser Viertel, unsere Stadt!
Wie sieht ein Viertel aus, das sich seine Bewohner:innen selbst aneignen? Was zeichnet Formen kollektiver Kooperation und Partizipation in gemeinschaftlichen Bürgerprojekten aus? Wie lassen sich städtische Quartiere und Nachbarschaften als aktivierende Zentren bürgerlichen Engagements und solidarischer Unterstützung ausgestalten? Wo und wann entstehen Probleme und Reibungspunkte, wie lassen sie sich vermeiden?
Im Rahmen eines Thementags zu Fragen sozialer Stadtgestaltungen wandten sich Sibylle Röth und Luigi Pantisano an die Bewohner:innen der Chérisy, um von diesem Bürgerprojekt zu lernen und Antworten auf die obigen Fragen zu erhalten. Dabei stand das Projekt selbst, seine Geschichte und seine Biographien im Zentrum des Interesses, denen in der Konstanzer Öffentlichkeit nicht die Aufmerksamkeit und Anerkennung zuteilwird, die ihnen gebührt.
Die Chérisy und der Geist der Gründung
Am Anfang war die Besetzung: Vor nunmehr fast vierzig Jahren suchten junge Menschen einen Ort in Konstanz, an dem sie sein und den sie zu ihrem machen konnten. Die leerstehenden Gebäude der ehemaligen französischen Kaserne boten sich da an, lagen sie doch der Stadt noch etwas ferner als heute. Ohne Hilfe von außen war gleichwohl viel zu tun, um aus den Mannschaftsstuben und Gemeinschaftsräumen lebenswerte Wohnungen zu machen und auf den freien Flächen Gärten, Spielplätze und Orte des Austauschs anzulegen. Letztlich erwuchs aus einer prekären Besetzung eine enge Nachbarschaft, die nicht nur die jeweiligen Wohnungen zusammen instandsetzte, sondern auch gemeinsam genutzte Einrichtungen wie eine Kindertagesstätte schuf und die Strukturen ihrer Eigenverwaltung entwickelte und Leben erfüllte.
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Die Aufbruchsstimmung der Gründungsphase gab der Wohngemeinschaft den Halt, die Probleme und Unwägbarkeiten auszuhalten, die immer auch ein Teil der Geschichte der Chérisy waren und sind. Dem Idealismus, dem Engagement und der Widerborstigkeit der Anwohner:innen stand und steht der rigide Formalismus einer Bürokratie gegenüber, die sich dabei eher als Hemmnis denn als hilfreicher Unterstützer ausnimmt. Banken erkannten und erkennen in einem gemeinwohlorientierten, dem kapitalistischen Profitstreben enthobenen Bürgerprojekt nicht den Sinn, dem die Chérisyaner:innen in ihm zu finden vermögen. Aber auch im Heute lassen sich die neuen Modelle des Lebens und Wirtschaftens, die den Menschen eine ort- und gemeinschaftslose Flexibilität aufoktroyieren, nur schwer mit der langfristigen, bürgerschaftlichen Ausrichtung von Wohn- und Arbeitsprojekten wie jenem der Chérisy verbinden: Hier gilt es noch Strukturen zu finden, die den Geist der Gründung in die neuen Zeiten übersetzen.
Eine Idee findet ihre Form
Die Chérisy besteht trotz aller widrigen Umstände bis heute fort, die Wohnungen werden Stück für Stück saniert, das Quartier beständig den Bedürfnissen und Vorstellungen seiner Bewohner:innen angepasst. Auch befindet sich die Anlage mittlerweile zu siebzig Prozent im Besitz der Anwohner:innen, dass heißt jeder Mietende ist gleichzeitig Teilhaber:in und ebenso berechtigt, mitzubestimmen. Es mag noch etwas dauern, aber letztendlich wird die Chérisy gänzlich jenen gehören, die in ihr leben.
Noch heute gibt die Chérisy unterschiedlichen Menschen ein Heim und eröffnet ihren Bewohner:innen zugleich die Räume für verschiedene Modelle des Zusammenlebens. Die Pluralität ist ein Merkmal, das Konstanz zu verlieren droht, werden doch durch den hohen Mietdruck und das touristische Primat alternative Lebensformen mehr und mehr aus dem Stadtbild verdrängt. Die Stadt könnte aber die Chérisy – und sollte es auch – als Vorbild eines erfolgreichen Bürgerprojekts als Teil des eigenen Selbst verstehen und würdigen.
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Indes geht die Geschichte der Chérisy weiter, die die Anwohner:innen vor neue Herausforderungen stellt, ihnen aber auch immer wieder neue Möglichkeiten des Handelns bietet. Das Bürgerprojekt steht vor der Aufgabe, sich im Sinn der Gründung zu erneuern und dabei die verschiedenen Generationen der Anwohner:innen zusammenzuhalten. Die Übergabe und Übernahme von Verantwortung verlangt Respekt und Vertrauen von beiden Seiten: Gerade in Anbetracht des langen Weges der Besetzung und des beständigen Kampfes ist es verständlich, wie schwer es fallen mag, die Kontrolle in andere Hände zu geben. Die jüngere Generation möchte Verantwortung übernehmen und sich selbst einbringen, gewiss in anderen Formen und Formaten als jene der Altvorderen, aber dennoch deren Ansinnen nicht unverbunden. Wie jedoch in den Ausführungen der Nachbarschaft deutlich wurde, bleibt der Geist einer fortwährenden, gemeinsamen Gründung das verbindende Fundament der Chérisy und ihrer Bewohner:innen, die sich immer wieder aufmachen und anstrengen, zusammen Wege in die Zukunft zu finden.
Der Rahmen politischer Unterstützung
Sibylle Röth und Luigi Pantisano konnten in ihrem Gespräch genau das mitnehmen: Ein Bild von engagierten, selbstbewussten Bürgern, die ihr Viertel auch langfristig gemeinsam gestalten wollen. Beide Gäste waren sich mit den Anwohner:innen darin einig, dass Projekte wie jene der Chérisy von Institutionen von der Stadt über den Kreis bishin zum Land eher kooperative Unterstützung als Desinteresse und bürokratische Hürden erfahren sollten. Zugleich ist für ein konstruktives Verhältnis zentral, dass die politische Seite die Autonomie des Projektes bewahrt, und sie bestenfalls auch vor Übergriffen aus der Wirtschaft schützt. So wäre eine Politik dienlich, die Schneisen in den dichten Dschungel der Fördermaßnahmen schlägt, das Nützliche herausstellt und beim Stellen von Anträgen hilfreich zur Seite steht.
Konstanz kann von der Chérisy nicht nur lernen, wie Strukturen basisdemokratischer Selbstorganisation im Rahmen kollektiver Eigenverantwortung aussehen können, sondern auch, dass lebenswertes Wohnen in Konstanz zu Preisen möglich ist, die den Mietspiegel als mehr um die Hälfte unterbieten. Auch wenn der Idealismus sowie das Engagement der Bewohner:innen der Chérisy sicher nicht generalisierbar sind, können diese letztlich doch als Beispiel dafür dienen, welcher Aufwand, aber auch welcher Sinn darin liegt, sich ein Viertel anzueignen und zu einem gemeinsamen Ort der Nachbarschaft zu machen. Da es nicht einmal die Legionen an Stechmücken vermögen, die Chérisyaner:innen zu vertreiben, können wir sicher sein: Die Chérisy wird bleiben, stets anders, aber gleich.
Text & Bilder: Tobias Braun
Ein wunderbarer Abend – trotz Mückeninvasion – der eindrucksvoll zeigte, dass das Grundbedürfnis „Wohnen“ mitten in Konstanz, umgeben von Mietwucher, Grundstücksspekulation, Leerstand, Immobilienhaien und Vonovia-Ausbeutung, zu vernünftigen Konditionen erfüllbar ist. Voraussetzung dafür ist der politische Wille, solche Projekte zu ermöglichen und die Bewohner*innen bei der Gestaltung zu unterstützen.