Afghanistan-Abzug: Reaktionen in der Region

Die Niederlage der NATO in Afghanistan ist ein Debakel von historischer Dimension. Nach 20 Jahren Krieg, in dem zehntausende Afghan:innen und auch tausende Besatzungs-Soldat:innen sinnlos gestorben sind, ziehen nun die Taliban als Sieger in Kabul ein. Die Fortschritte, die Bundesregierungen regelmäßig vom Aufbau eines demokratischen Staatswesens vermeldeten, erweisen sich als pure Augenwischerei. Zum Ausmaß des Desasters passt, dass Berlin am Ende selbst darin versagte, für einen geordneten Abzug des eigenen Personals zu sorgen, ganz zu schweigen von den Menschen, die man vor Ort angeheuert hatte. Wenig verwunderlich also, dass sich auch im Konstanzer Landkreis politische Akteur:innen zum Geschehen am Hindukusch und den nötigen Konsequenzen zu Wort melden. Wir dokumentieren Reaktionen aus dem sozialdemokratischen, grünen und linken Lager.


SPD-Fraktion im Gemeinderat der Stadt Konstanz

Offener Brief zur Aufnahme schutzbedürftiger Menschen aus Afghanistan

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,

fast 20 Jahre waren deutsche Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan im Kampf gegen die radikalislamischen Taliban im Einsatz. Spätestens seit dem überstürzten Abzug der internationalen Truppen und der ungehinderten Rückkehr der Taliban nach Kabul ist klar: tausende Menschen, die sich für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Bildung und Frauenrechte stark gemacht haben, sind akut vom Tod bedroht. Darunter sind viele Afghaninnen und Afghanen, die in zwei Jahrzehnten die deutsche Bundeswehr, deutsche Ministerien und Nichtregierungsorganisationen aktiv unterstützt haben. Wir stehen in der Schuld dieser Menschen und müssen alles tun, sie vor dem sicheren Tod zu bewahren.

Unser Land hat diesen Menschen ein Versprechen auf Sicherheit gegeben. Darauf haben sie vertraut. Wir sind gerade dabei, dieses Vertrauen zu verspielen und das weit über Afghanistan hinaus. Wir müssen jetzt ein Zeichen setzen, um die internationale Glaubwürdigkeit unseres Landes nicht noch weiter zu beschädigen. Ein solches Zeichen sollte von allen gesellschaftlichen Ebenen ausgehen. Die Stadt Konstanz hat sich für Bootsflüchtlinge zum sicheren Hafen erklärt. Dies muss auch für Menschen gelten, zu deren Schutz wir verpflichtet sind. Auch wenn nach wie vor völlig unklar ist, ob und wie die Schaffung einer Luftbrücke aus Kabul heraus gelingen kann, fordern wir Sie dazu auf, gegenüber dem Bundesinnenminister, dem Landesinnenminister sowie dem Landrat deutlich zu machen, dass die Stadt Konstanz Menschen aufnehmen kann und will, die sich in Afghanistan für den Aufbau der Demokratie eingesetzt haben.

Wir sind überzeugt: Die Evakuierung so genannter „Ortskräfte“ sowie besonders schutzbedürftiger Menschen wird nicht an den Städten und Kommunen in Deutschland scheitern.

Bereits in den vergangenen sechs Jahren haben Städte und Kommunen gemeinsam mit unzähligen Ehrenamtlichen die Integration von Geflüchteten aus Syrien und dem Irak erfolgreich gemeistert. Gemeinsam werden wir das auch wieder schaffen.


Kreistagsfraktion Bündnis90/Die Grünen Landkreis Konstanz und Gemeinderatsfraktion der Freien Grünen Liste Konstanz:

Offener Brief an den Bundestagsabgeordneten Andreas Jung

Einsatz für eine Luftbrücke

Sehr geehrter Herr Abgeordneter Jung,

Wir sind schockiert über die Entwicklungen in Afghanistan. Es ist ein Versagen auf ganzer Linie: das Versagen der internationalen Gemeinschaft, das Land zu stabilisieren und das Versagen, die Menschen, die beschützt werden müssen, rechtzeitig zu retten!

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Wir hatten Sie mit unserem offenen Brief vom 09.06.2021 um Ihre Unterstützung bei der unbürokratischen Aufnahme der afghanischen Ortskräfte gebeten. Am 23.06. hatte Ihre Bundestagsfraktion einen entsprechenden Antrag von Bündnis90/DIE GRÜNEN abgelehnt! Sie hatten uns Ihre Unterstützung zugesichert. Ihr letztes Schreiben vom 30.07.2021 schließen Sie mit den Worten:

„Wie schon in meinem Schreiben vom 30. Juni deutlich gemacht: Ich unterstütze ausdrücklich die Anstrengungen der Bundesregierung, gefährdeten Ortskräften eine Perspektive in Deutschland zu bieten und auf dem Weg dahin Hürden abzubauen.“ (…)

Sehr geehrter Herr Andreas Jung,

bitte setzen Sie sich wenigstens jetzt, mit der Ihnen zur Verfügung stehenden Macht, für folgende Forderungen ein:

  • Ein Visa-on-arrival-Verfahren, damit Menschen ausgeflogen werden können, die im bürokratischen Irrsinn der letzten Monate noch kein Visum zur Flucht bekommen haben.
  • Der Flughafen in Kabul muss gesichert werden, um Evakuierungsflüge durchführen zu können. Notfalls muss dazu auch mit den Taliban verhandelt werden. Auch darüber, dass der Zugang zum Flughafen ermöglicht wird.
  • Erweiterung der Kriterien für die Evakuierung der Ortskräfte: Wer von den Taliban gefährdet ist, muss ausfliegen können.
  • Die Luftbrücke muss lange genug aufrechterhalten werden, damit alle Gefährdeten die Möglichkeit zur Flucht haben. Allein durch den Einsatz der Bundeswehr sind wahrscheinlich mindestens 100.000 Menschen betroffen. Auch solche, die für Subunternehmer gearbeitet haben, Medienschaffende sowie Frauen- und Menschenrechtsaktivist:innen.
  • Unabhängig der Priorisierung müssen so viele Evakuierungsflüge wie möglich durchgeführt werden.
  • Sofortige Katastrophenhilfe für Binnenflüchtende und Menschen in den angrenzenden Ländern.
  • Unterstützung der Kommunen zur Sicherstellung und bei Bedarf Erweiterung der Aufnahmekapazitäten für Geflüchtete aus Afghanistan.
  • Flucht nach Europa darf nicht kriminalisiert werden. Europa darf sich nicht weiter abschotten und muss den Staaten, die auf den Fluchtrouten aus Afghanistan liegen, signalisieren, dass es bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Alles andere wäre eine gefährliche Signalwirkung an diese, sich ebenfalls abzuschotten.

Es ist beschämend, wie viel Zeit vergeudet wurde, es ist beschämend, dass es nun fast zu spät ist.

Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen gerettet werden. Wir können viel darüber reden, wer wir sein wollen. In den Handlungen der nächsten Tage wird sich zeigen, wer wir sind.


DIE LINKE Kreisvorstand Konstanz und Sibylle Röth, Bundestagskandidatin für den Wahlkreis Konstanz:

Afghanistan: Verantwortung übernehmen – Menschen retten – Konsequenzen ziehen!

Das totale Fiasko ist da. Nach fast 20 Jahren Intervention stehen Bundeswehr und NATO in Afghanistan vor einem Scherbenhaufen. Hunderttausende fliehen und bangen um ihr Leben, darunter auch Menschen, die die Bundeswehr angeworben hat. Die Bundesregierung hat in dieser Krise komplett versagt. In einer fatalen Verkennung der Lage vor Ort gab es weder eine verantwortungsvolle Ausstiegsstrategie, geschweige denn realistische Notfallpläne für notwendige Evakuierungen. Noch letzte Woche wurden Anträge der LINKEN und der Grünen zur unbürokratischen Evakuierung der Ortskräfte und anderer bedrohter Menschen abgelehnt. Es ist eine politische und moralische Bankrotterklärung, dass nach wochenlanger Untätigkeit und bürokratischer Blockade jetzt tausende Helferinnen und Helfer in dem von den Taliban kontrollierten Afghanistan im Stich gelassen werden und um ihr Leben bangen müssen.

Hierzulande haben Union und SPD – offenbar aus Angst vor der ultrarechten Stimmungsmache im Bundestagswahlkampf – die Aufnahme von Menschen so lange wie irgend möglich mit bürokratischen Mitteln verhindert. Abschieben wollte man bis zuletzt, aufnehmen so spät wie möglich. Jetzt bricht in Afghanistan die alte Ordnung zusammen, jetzt wird es für viele Menschen zu spät sein.

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Mehr Scheitern nach 20 Jahren bewaffneten Großeinsatz der Bundeswehr ist schwer vorstellbar. Allein die Bundeswehrpräsenz hat 12,5 Milliarden Euro gekostet. Zehntausende Afghan*innen und auch tausende Soldat*innen aus den NATO-Mitgliedsstaaten sind gestorben, darunter 59 aus Deutschland. Trotzdem sind die islamischen Fundamentalist*innen heute stärker als zuvor: Nach der Kapitulation der von der NATO ausgebildeten und aufgerüsteten afghanischen Armee verfügen die Taliban nun über eine hochgerüstete Streitmacht mit modernstem Kriegsgerät – und über einen Staat.

DIE LINKE hat den Einmarsch der westlichen Armeen in Afghanistan von Beginn an abgelehnt, im Wissen darum, dass Demokratie und Menschenrechte nicht herbeigebombt werden können. Alle deutschen Militäreinsätze müssen beendet werden. Nicht nur, aber auch, weil Afghanistan ein solches Debakel ist.

Die Bundesregierung muss jetzt zumindest dies sicherstellen:

  • Die Menschen retten! So schnell, so unbürokratisch und so viele es geht: Es braucht sofort eine Luftbrücke für eine Massenevakuierung und ein Visa-Notprogramm, damit Flugzeuge ohne komplizierte Anträge betreten werden können. Menschen versuchen, auch über die Grenze in benachbarte Staaten zu fliehen. Wir fordern deshalb die Vergabe humanitärer Visa in den deutschen Botschaften in Afghanistans Nachbarstaaten. Für alle Menschen, die nun in ihrem Leben bedroht sind.
  • Es braucht eine massive Aufstockung des UN-Flüchtlingsfonds für Afghanistan. Es ist jetzt mit einer langandauernden Fluchtbewegung zu rechnen. Bereits Ende 2020 lebten 2,6 Millionen Afghan*innen als Flüchtlinge in den Anrainerstaaten Iran und Pakistan. Mehr als drei Millionen Afghan*innen gelten als Binnenvertriebene im eigenen Land.
  • Wir brauchen ein europäisches Aufnahmeprogramm. Deutschland sollte dabei vorangehen. Viele Länder und Kommunen mit linker Regierungsbeteiligung haben bereits ihre Bereitschaft zur Aufnahme von Geflüchteten aus Afghanistan erklärt! Es braucht jetzt einen konsequenten und sofortigen Flüchtlingsschutz.

red (Bild: Die Linke)