Wolfram Wette: Woher kommt die Kraft zum Widerstand? (Teil 2)
Dass es selbst in der terroristischen NS-Diktatur und in der Gewaltmaschinerie der Wehrmacht Handlungsspielräume gab, aus denen sich extrem unterschiedliche Verhaltensweisen ergaben, zeigte Wolfram Wette im zweiten Teil seines Vortrags „Woher kommt die Kraft zum Widerstand?“ am Beispiel des Feldwebels Anton Schmid (Foto) auf. Er ging dabei der – noch immer aktuellen – Frage nach, was Menschen wie Schmid, der auch darüber nachdachte, welchen Gang die Entwicklung hätte nehmen können, wenn es mehr anständige und mutige Christen wie ihn selbst gegeben hätte, angesichts des NS-Terrors zum Rettungswiderstand motivieren konnte.
Damit komme ich zu meinem angekündigten Thema, das ich so präzisieren möchte: Woher kam bei den wenigen Soldaten, die 1941 in Litauen mit Judenmorden konfrontiert waren und sich dagegen auflehnten, die Kraft zum Widerstand?
Feldwebel Anton Schmid – ein Held der Humanität
Einer dieser Menschen ist den interessierten Zeitgenossen der 1960er Jahre durch den Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 bekannt geworden [25]. Es handelt sich um den Feldwebel der Wehrmacht Anton Schmid. Dieser Mann hätte es verdient, posthum ebenso bekannt zu werden wie die Geschwister Scholl von der studentischen Widerstandsgruppe „Weiße Rose“. Über Anton Schmid habe ich geforscht und ein Buch geschrieben [26]. Es liegt daher nahe, dass ich mich hier darauf beschränke, die Motive, Antriebe und Handlungsspielräume dieses Mannes zu skizzieren.
Anton Schmid, Jahrgang 1900, war ein Handwerker und Kleingewerbetreibender aus Wien, ein Mann ohne höhere Schulbildung, aber von einer ungewöhnlichen Charakterstärke. Alle Menschen, die ihn näher kannten, bezeichneten seine „Herzensgüte“, seine Menschlichkeit, seine Bereitschaft und Fähigkeit, sich in die Einstellungen von verfolgten Mitmenschen einzufühlen („Empathie“), als seine alles andere überstrahlende Charaktereigenschaft. Feldwebel Schmid empörte sich im September 1941 in der deutsch besetzten Stadt Wilna, der Hauptstadt Litauens, über die vor seinen Augen stattfindenden Judenmorde. Sogleich entschloss er sich, das ihm Menschenmögliche zu tun, um den Verfolgten – neben den Juden auch sowjetischen Kriegsgefangenen und versprengten deutschen Soldaten – zu helfen und sie womöglich zu retten. Mehr als 300 Juden sollen ihm ihr Leben verdanken. Schmid wurde denunziert, von einem deutschen Kriegsgericht zum Tode verurteilt – wahrscheinlich wegen Kriegsverrats – und am 13. April 1942 hingerichtet.
Eine der von Schmid Geretteten war die Wilnaer Jüdin Luisa Emaitisaite. Ihr gegenüber hat Anton Schmid einmal ausdrücklich seine christliche Grundierung als wichtigstes Motiv für sein Rettungshandeln benannt [27]. „Wissen Sie, Luisa“, lässt der jüdische Schriftsteller Hermann Adler seinen Freund Anton Schmid in einem 1967 verfassten Text sagen, „ich bin einer, der seinen Kinderglauben an Gott behalten hat. Ich habe nicht die Gewissheit, dass Gott mich beschützen wird, aber ich bin sicher, dass er etwas von mir verlangt. Mit Ihrer Rettung, Luisa, habe ich so etwas wie eine Probe bestanden. Nun gibt es für mich kein Zurück mehr. Es ist mir so, als wenn Jesus selbst im Ghetto wäre und um Hilfe riefe. Jesus ist überall, wo Menschen leiden. Ich bin Christ, Luisa, und Jesus bedeutet mir viel.“[28] Der katholische Kriegspfarrer Fritz Kropp, der Schmid zur Hinrichtung geleitete, sagte: Alles, was dieser kleine Feldwebel getan hat, hat er aus Menschlichkeit getan, und er hat es für „selbstverständlich“ gehalten.[29]
„Wenn es mehr anständige Menschen gäbe …“
Über den Bereich seiner persönlichen Entscheidungen hinaus hat Schmid auch über die politisch relevante Frage nachgedacht, welchen Gang die Entwicklung hätte nehmen können, wenn es mehr anständige und mutige Christen wie ihn selbst gegeben hätte. Hermann Adler überliefert uns den ebenso naiv wie revolutionär klingenden Satz Anton Schmids: „Wenn jeder anständige Christ auch nur einen einzigen Juden zu retten versuchte, kämen unsere Parteiheinis mit ihrer Lösung der Judenfrage in verdammte Schwierigkeiten. Unsere Parteiheinis könnten ganz bestimmt nicht alle anständigen Christen aus dem Verkehr ziehen und ins Loch stecken.“[30]
Für Schmid war das Bild von einem Christen demnach ganz selbstverständlich mit der Vorstellung von menschlichem Anstand verknüpft. Darunter verstand er die Art und Weise, wie jemand mit anderen Menschen umging, wie er ihre Würde, ihre Unversehrtheit, ihr Leben achtete. Seine Auffassung von einem anständigen Christen ließ es nicht zu, dass andere Menschen ausgegrenzt, verfolgt, gedemütigt, misshandelt oder gar ermordet wurden. Alles in ihm sträubte sich daher gegen die alltäglichen Mordaktionen in Wilna, die nahen vor seiner Haustür und die etwas ferneren im Wald von Ponary am Rande der Stadt, von denen ihm laufend berichtet wurde.
Nun war Anton Schmid keineswegs so naiv, zu glauben, er könne seine Wehrmachtskameraden oder die deutschen Polizisten und die Angehörigen der Zivilverwaltung dazu aufrufen, sich auf die christlichen Werte zu besinnen und dem großen Morden Einhalt zu gebieten. Diese Männer hatten großenteils ebenfalls eine christliche Sozialisation erfahren wie er selbst, waren vielleicht sogar langjährige Kirchgänger gewesen, hatten sich aber aus Überzeugung oder aus Furcht vor den Konsequenzen des Nonkonformismus der nationalsozialistischen Rassenideologie verschrieben – oder sie doch als gegeben hingenommen. Schmid wusste, wie die Kameraden redeten und was sie taten, und er sah den Unterschied zu seinen eigenen Überzeugungen. Daher suchte er auch keinen Kontakt zu ihnen und setzte bei seinen Rettungsaktionen nicht auf ihre Hilfe und Unterstützung. Lieber führte er seinen einsamen Kampf ohne Rückendeckung, wohl wissend, dass er dabei ständig Gefahr lief, von diesen „christlichen“ Kameraden entdeckt und denunziert zu werden. Paradoxe Welt: Anton Schmid war es, der wegen der Judenmorde in Wilna ein schlechtes Gewissen hatte, das ihn zum Rettungshandeln führte, und nicht die Funktionäre der Vernichtungsmaschinerie, die es nach christlichem Verständnis eigentlich hätten haben müssen.
Die Kraft zum Widerstand gegen die Judenmorde
Was motivierte Feldwebel Schmid zu seinem Rettungswiderstand? Woher nahm er die Kraft zum Widerstehen? Die Antwort ist in diesem Fall so schwer nicht: Er war ein Mensch, der schon in seiner Kindheit mit der Fähigkeit zur Empathie ausgestattet wurde. In seinem weiteren Leben praktizierte er die christliche Botschaft der Nächstenliebe. Er nahm sie ernst, auch in schweren Zeiten, in denen er alles riskieren musste.
Nun wüssten wir natürlich gerne mehr über die Kraft zum Widerstand, da sich auf diesem Wissen gegebenenfalls ein komplettes Bildungsprogramm entwickeln ließe, das die Erziehung zur Zivilcourage und Mündigkeit in den Mittelpunkt unserer Erziehungsbemühungen stellt. Aber die Historiker, Pädagogen, Psychologen und Soziologen sind bislang nicht in diese Tiefenschicht vorgedrungen. Was wir wissen, ist dieses: Unter den widerständigen Rettern gab es Junge und Alte, Reiche und Arme, Gebildete und weniger Gebildete, Männer und Frauen, Katholiken, Protestanten und religiös nicht Gebundene, politisch Motivierte und unpolitische Menschen.
Beim derzeitigen Wissensstand lässt sich immerhin sagen: Diese Männer wurden nicht als Retter geboren, aber sie bekamen in ihrer Erziehung als Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene eine „humane Grundhaltung“ vermittelt, die ihr Bewusstsein und ihr Gewissen stärker prägte als es die militärischen und rassistischen Zumutungen der Wehrmacht vermochten. Daher reagierten sie angesichts der rassenideologischen Herausforderungen, mit denen sie während des Krieges und der deutschen Besatzungsherrschaft in Polen und in den Ländern der Sowjetunion konfrontiert wurden, anders als die große Mehrheit der Wehrmachtsangehörigen.
Wenn wir von „Rettern in Uniform“ sprechen, so haben wir eine kleine Minderheit im Auge. Um Ihnen die Größenordnung anzudeuten: Dem militärischen und polizeilichen Herrschaftsapparat des NS-Staates gehörten rund 20 Millionen Menschen an. Ihnen stehen die wenigen Helfer und Retter gegenüber. Für den Historiker sind quellenmäßig fassbar bestenfalls 100, was aber nicht heißen muss, dass es nicht auch mehr gegeben haben könnte. Vielleicht kommt es jedoch gar nicht auf die genaue Zahl der widerständigen Retter an, sondern allein auf den Befund, dass es sie überhaupt gegeben hat, dass man also auch in diesem Milieu widerstehen konnte, dass es Handlungsspielräume gab.
Was Haltung bedeutete und erforderte, wusste man allerdings auch schon vor dem Nazi-Terror. Ich möchte schließen mit dem ebenso einfachen wie denkwürdigen Ratschlag, den der Vater von Heinz Drossel seinem Sohn am Tage seiner Erstkommunion gab. Er sagte: „Mein Junge, bleib immer ein anständiger Mensch, auch wenn Du mal in Schwierigkeiten kommst.“[31] Anderntags, erinnert sich Heinz Drossel, habe er sich diesen Rat des Vaters aufgeschrieben und er habe sich dann ein Leben lang an diesen Rat zu halten versucht.
Die Ideen einer humanen Orientierung haben dann 1949 in unserem Grundgesetz ihren Niederschlag gefunden. Die Grundrechte geben den Menschen Regeln für ein gedeihliches Zusammenleben an die Hand. Wer nach ihnen lebt, sich wie Heinz Drossel an den Rat seines Vaters hält, kann dazu beitragen, dass sich das Schlimme der Nazi-Vergangenheit nicht wiederholt. Die Grundrechte nehmen uns aber auch in die Verantwortung, uns für diese Werte in Politik und Gesellschaft zu engagieren.
Vortrag von Professor Dr. phil. Wolfram Wette zur Ausstellung „Temporary Setup“ von Stefanie Höll am Sonntag, 27. Juni 2021 im Georg-Scholz-Haus, Waldkirch, Teil 2
Der erste Teil erschien hier.
Anmerkungen:
[25] Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München, Zürich 9. Aufl. 1999, S. 275 f.
[26] Wolfram Wette: Feldwebel Anton Schmid. Ein Held der Humanität. Frankfurt/M. 2013
[27] Im Folgenden beziehe ich mich auf meine Schmid-Biographie (wie. Anm. 7), Kapitel: Über anständige Christen, Parteiheinis und die Judenmorde.
[28] Hermann Adler: Entwurf zu dem Fernsehspiel „Feldwebel Schmid und seine letzten neun Geretteten“. In: Deutsche Nationalbibliothek Frankfurt. Deutsches Exilarchiv 1939-1945. Nachlass Hermann Adler – EB 2004/38 (NL 193), A.03.01, S. 43.
[29] Ebda., S. 39.
[30] Hermann Adler zitiert diese Sätze in seinem Rundfunkfeature „Der Feldwebel Anton Schmid. Eine Begegnung im Wilnaer Ghetto“, Südwestfunk 9.3.1967.
[31] In der Sendung: Lebensretter im Dritten Reich. In Israel geehrt – in Deutschland verschwiegen. (Rundfunkdiskussion mit Heinz Drossel, Gisela Kuck und Wolfram Wette in: SWR 2 Forum, Freitag, 31.01.2001, 17.05-17.50 Uhr. Redakteur: Werner Witt, Moderator: Eggert Blum.)