Der Westen und Afghanistan – Geschichte einer Lüge
Am Samstag hielt Wolfram Frommlet in Weingarten eine bemerkenswerte Rede zu Afghanistan. Bemerkenswert insofern, als er daran erinnerte, wie massiv westliche Kolonialherren, die jetzt ihren Abscheu vor den Taliban zur Schau stellen, ihrerseits Menschenrechte mit Füßen zu treten pflegen. Bemerkenswert auch, weil sie die Lüge, die USA und ihre Verbündeten seien einmarschiert, um das Leben der AfghanInnen zu verbessern, klar als Lüge benennt. Hier seine Worte im (fast) unveränderten Klartext.
Ich rede für keine Organisation, wenngleich ich Mitglied bei Reporter ohne Grenzen, verdi, und in Nord-Süd-Initiativen bin – ich werde einfach nur ein paar Anmerkungen vortragen, die die aktuellen Ereignisse in Afghanistan in größere Zusammenhänge einordnen sollen.
Die Gesellschaft für Bedrohte Völker fordert, „dass der Bundestag einen Untersuchungsausschuss bildet. Die verantwortlichen Parteien CDU, CSU und SPD müssen Rede und Antwort stehen. Denn wir fragen uns alle, was schiefgelaufen ist.“
Gut.
Warum erst jetzt? Ich war 1993 beruflich in Ruanda. Da liefen Bundeswehroffiziere in Uniform durch die Hauptstadt Kigali. Wenig später waren sie weg und die UN-Soldaten auch und auf den Straßen lagen etwa eine Million abgeschlachteter Tutsi und einige Hutus. Da hat niemand im Bundestag gefragt, was da schiefgelaufen war. Jüngst erst hat ein politischer Insider verraten, dass Frankreich die Tutsi-Mörder militärisch unterstützt hat.
Konsequenzen? Die französische Rüstungswirtschaft boomt.
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Die Taliban, hören wir, laufen durch Dörfer und Städte und töten willkürlich angebliche Kollaborateure des Regimes sowie zahllose Frauen und Kinder. Dieses Vorgehen haben die Taliban nicht erfunden. In den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts liefen britische Soldaten durch Dörfer in Kenia und erschossen Tausende vermeintliche Terroristen, um den Mau-Mau-Aufstand gegen die Kolonialmacht zu unterdrücken. Manche Leichen hängten sie zur Abschreckung nackt an Bäume.
1824 eroberten die Briten Rangun. Um den Widerstand in der Kolonie Birma niederzuschlagen, brannten sie Hunderte von Dörfern nieder, sie vernichteten die Lebensform dieser Menschen bis in die Grundfesten. Das ist bis heute in keinem Schulbuch zu lesen, aber bei George Orwell in seinen „Burmese Days“. Lehren daraus? Zwei britische Afghanistan-Kriege, mit zigtausenden Toten auf beiden Seiten. Kein Satz darüber in englischen Schulbüchern.
Die Taliban, lesen und hören wir, üben eine unbeschreibliche Gewalt gegen ihre Gegner aus. Den politischen Führer der afghanischen Minderheit, der Hazara, Abdul Ali Mazari, warfen sie angeblich aus einem Helikopter. Dafür gibt es bekannte Vorbilder: dies taten die argentinischen Militärs, die sich ohne die Unterstützung der USA keine vier Wochen an der Macht gehalten hätten, zu Tausenden mit argentinischen Linken. Der Westen – nicht nur die USA – ließ Sozialisten und Demokraten wie Mossadegh im Iran, Jacobo Arbenz in Guatemala, Salvador Allende in Chile wegputschen, er ließ die Visionäre eines autonomen Afrika ermorden wie räudige Hunde. Lumumba wurde ersetzt durch mordlüsterne Marionetten wie Moise Tschombé und Mobutu im Kongo, dem Massenmörder Jean-Bédel Bokassa zahlte Präsident Giscard d’Estaing gar die Kaiserkrönung. Der Jagdfreund von Franz-Josef Strauß, Gnassingbé Eyadéma in Togo, der mit Mord an die Macht kam, die Gefängnisse mit Oppositionellen füllte, bekam Millionen an Entwicklungshilfe und wurde von der Hanns-Seidel-Stiftung der CSU unterstützt. 70% der Bevölkerung leben an der Armutsgrenze, wie in vielen Ländern Afrikas.
Nicht in einem einzigen Land des Südens ging es in den fast 60 Jahren seit der Unabhängigkeit um Menschenrechte, Demokratie, die Befreiung aus der Armut; es ging vielmehr um die Plünderung der Rohstoffe und Absatzmärkte für die Rüstung in Ost wie West. Und nun sollen der Krieg der USA, der Einsatz der Bundeswehr, der deutschen Geheimdienste, des CIA und Wer-weiß-was-wer, das Ziel gehabt haben, Afghanistan aus dem Mittelalter, in dem es bisher lebte, zu erlösen? Es geht auch in Afghanistan um nichts anderes als um die Rohstoffe, riesige Mengen an Lithium, Bauxit, Diamanten, Seltene Erden wie Neodym, Praseodym.
Das ist schiefgelaufen. Für die Produzenten von Cyber-Waffen und Hightech-E-Mobilität.
Oh!! Er war für die Befreiung der Frauen! Wirklich?
Die pakistanische Feministin und Journalistin Rafia Zakaria rückt in der amerikanischen Zeitung „The Nation“ einiges zurecht: Im März 1999 lud Mavis Leno, Frau des Superstars Jay Leno, Hollywoods Schickeria zu einem Wohltätigkeitsdinner ein, um die Kampagne „End Gender Apartheid in Afghanistan“ der Feminist Majority Foundation zu sponsern. Senatorin Hillary Clinton war begeistert. First Lady Laura Bush meinte, ein Krieg in Afghanistan sei für die Befreiung der Frauen. Wow! Zu den Bomben noch ein Frauenprojekt als Dreingabe: „Promote“, ausgestattet mit 418 Millionen Dollar. Jobs und Trainings für 75.000 Frauen.
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Keine einzige afghanische Frauenorganisation wurde gefragt, was sie brauche und für Ziele habe. 2016 waren die Millionen bei einer Evaluierung mittlerweile unauffindbar. White Feminism, schreibt Rafia Zakaria, hatte es geschafft, die autonomen Frauenbewegungen zu vernichten. „Clash of Civilizations“ nennt der Soziologe Samuel Huntington dies. Eine neue afghanische Frauenelite sollte eine Brücke bilden für die amerikanische Upperclass-Culture, mit der korrupten männlichen Elite Kabuls, die an die Macht gehievt wurde und mit der man über den „richtigen“ Fortschritt habe reden können. Die rückständigen Dörfler, die Clanführer wurden in keine Veränderung einbezogen, weder von den sowjetischen noch von den amerikanischen Invasoren. Doch die Feinde meines Feindes, die Taliban, wurden ein militärisches Produkt der USA. Davon war in der weißen US-Frauenbewegung nie die Rede.
Ein Blick zurück. Tausende von Frauen in Vietnam gebaren Kinder ohne Augen, ohne Arme, hatten missgebildete Föten im Körper, als Folge von Agent Orange und Orange Blue des amerikanischen Chemiegiganten Dow Chemicals (ich sah dies im Kriegsmuseum in Hanoi). Wen haben diese Menschen interessiert? Kein Gericht in den USA, an Kompensationen war gar nicht erst zu denken.
Was ist mit der Befreiung der Frauen in Saudi-Arabien, das von 2010-2020 Waffenexporte aus Deutschland im Wert von 3.600 Millionen Euro bekam? Was kümmern die Herren der internationalen Fußballclique die Rechte der Frauen in Qatar, wo Sklavenarbeiter aus Indien und Nepal die Stadien für die WM 2022 oft mit Todesfolgen erschuften?
Was kümmern sich diese Herren, die nach wie vor in Syrien und Irak bomben lassen, um all die Frauen, deren Männer in den Gefängnissen des Massenmörders Assad zu Tode gefoltert wurden?
Wo, außer in Afghanistan, ist da sonst noch etwas falsch gelaufen? Julian Assange hatte in Wikileaks Antworten darauf. Dafür sitzt er auf Druck der USA, auch unter Joe Bidens Präsidentschaft, im Schwerverbrechergefängnis Belmarsh in London. Todesstrafe auf Raten. For freedom and democracy.
Es wird alles gut. Der Rüstungshit FCAS, Future Combat Air System, von Dassault, Airbus und Indra Sistemas, mit Entwicklungskosten von 100 Milliarden Euro, wird mit Tarnkappenjets, Drohnengeschwadern, atomar bestückbar, jedes Talibanversteck ausmerzen, egal wo. Ganz human, ohne zivile Opfer. Ich bin optimistisch – in zehn Jahren gibt es in Kabul nicht nur Dior, sondern auch Wal Mart, H&M, RTL und Barbara Schöneberger – für alle, die es sich leisten können.
Text: Wolfram Frommlet (Bild: David Mark auf Pixabay)
Wie immer lesenswert auch der Kommentar von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam zum Thema:
https://publikumskonferenz.de/blog/2021/09/02/trauerspiel-afghanistan-zweiter-akt/