Hartz-IV-Anpassung: „Die paar Cent reichen nicht“
Monatlich drei Euro mehr will die Bundesregierung Erwachsenen beim Arbeitslosengeld 2 zum neuen Jahr zugestehen, für Kinder unter 14 Jahren soll es ein Plus von zwei Euro geben. Sibylle Röth, Bundestagskandidatin der Linken im Wahlkreis Konstanz, hält das für viel zu wenig, um das sozio-kulturelle Existenzminimum abzusichern, gerade angesichts der Preissteigerungsrate von 3,8 Prozent.
„Statt derartig lächerlicher Kleinstkorrekturen brauchen wir endlich einen Kurswechsel in der Sozial- und Wirtschaftspolitik, weg von der Agenda 2010 hin zu einer Politik, die den Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit wahrt“, ist die Linke-Politikerin überzeugt. Denn auf den Tag umgerechnet wäre diese Erhöhung gerade mal ein Mehr von 10 Cent. Das könne die aktuelle Inflation keinesfalls auffangen, zumal gerade Dinge des alltäglichen Verbrauchs teuer geworden seien. So würden die Betroffenen, ohnehin schon durch erhöhte Ausgaben infolge der Corona-Pandemie belastet, nun noch ärmer. „Dabei ist Armut in Deutschland beileibe kein Randthema: Durch den ausufernden Niedriglohnsektor hat sie sich mehr und mehr in unsere Gesellschaft gefressen und betrifft mittlerweile breite Bevölkerungsschichten.“
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Wie jüngere Studien zeigten, sei nur ein Viertel der Hartz IV-Beziehenden tatsächlich arbeitslos. Die meisten gingen einer Arbeit nach, nur dass der Lohn nicht zum Leben reiche; andere befänden sich in Aus-, Fort- und Weiterbildung, oder stünden dem Arbeitsmarkt deswegen nicht zur Verfügung, weil sie Kinder erziehen oder Angehörige pflegen müssten. „Das reflexhafte Ressentiment vom faulen Arbeitslosen, der es sich in der sozialen Hängematte bequem macht, hat längst ausgedient“, erklärt Röth angesichts dieser Fakten.
Offenkundig werde das Problem spätestens bei einem Blick auf die Jüngsten. Die Erklärung „Eine für alle – Kindergrundsicherung jetzt!“ verweist darauf, dass aktuell 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland auf staatliche Leistungen zur Existenzsicherung angewiesen sind. 1,6 Millionen davon, obwohl ihre Eltern erwerbstätig sind. Diese Kinder, so Röth, gebe das derzeitige System der Armut und den damit verbundenen negativen Folgen für gesellschaftliche Teilhabe, Bildung und Gesundheit preis. Wie eine breite Mehrheit der Bevölkerung unterstützt sie deshalb die Forderung nach eine Kindergrundsicherung. „Zunächst gilt es, Kinder vor Armut zu schützen, denn hier greift noch nicht einmal die vorgebliche Eigenverantwortung des Einzelnen“, so die LINKEN-Kandidatin. Denn Kinder trügen weder Schuld an ihrer Situation, noch könnten sie etwas dagegen tun.
„Grundsätzlich aber“, so Röth weiter, „muss das ganze unwürdige Sanktionsregime ebenso beseitigt werden, wie das künstliche Knapphalten der staatlichen Unterstützung. Denn für Kinder wie Erwachsene gilt: Auch das sogenannte Existenzminimum muss zu einem Leben reichen, das nicht notwendig zu Frustration, Isolation und Krankheit führt.“
(…) Es ist richtig, dass sich an dem schikanösen Verhalten der Verwaltung nichts geändert hat, nur, dass heute versucht wird aufstockenden Rentner*innen ein Motivationstraining bei einer Sozialeinrichtung oder einem Psychologen zu empfehlen, um sie für den Arbeitsmarkt, wenigstens als Austräger für Werbeblättchen und Prospekte, zu „reaktivieren“.
Es wird immer der Rechtsstaat gelobt, aber wenn es darum geht sein Recht durchsetzen zu können scheitern Betroffene an den Kosten für einen Anwalt, so in einem Fall, indem der Bewilligungsbescheid seit 8 Monaten aussteht, obwohl alle erforderlichen Unterlagen, als Kopie komplett und wiederholt in den Hausbriefkasten gesteckt wurden. Übrigens auch Kosten für Kopien sind richtig teuer.
Ich kann mich nur Dennis Riehle anschließen. Obwohl ich wegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung und einer bipolaren Störung sehr schwer beruflich eingeschränkt bin, verweigert mir das Jobcenter Konstanz im 2.Monat Alg 2. Behauptet ich hätte die Unterlagen nicht eingereicht. Ich muss mir die Miete wieder leihen. Vom Essen ganz zu schweigen. Ohne Antidepressiva weiß ich nicht, wo ich jetzt wäre.
In meiner täglichen Arbeit treffe ich andauernd auf Menschen, welche seit Monaten und Jahren auf das Arbeitslosengeld II angewiesen sind. Ihre Schilderungen sind dabei immer die gleichen: Eine menschenwürdige soziokulturelle Existenzsicherung kann mit Hartz IV nicht geleistet werden. Der Warenkorb zur Berechnung des Regelsatzes und der Mehrbedarfe ist völlig unrealistisch, die Anpassungen – beispielsweise durch die Inflation – erfolgen stets viel zu spät und gleichen die Realverluste nicht aus.
Hartz IV zementiert Langzeitarbeitslosigkeit – wie es die neuesten Statistiken beweisen, wonach eine Vielzahl der Bezugsberechtigten weit über ein Jahr, manches Mal sogar seit Beginn der Schröder’schen Reformen darauf angewiesen sind -, weil es die völlig falschen Anreize setzt. Niedrige Hinzuverdienstgrenzen, großspurige Anrechnung von zusätzlichen Einkünften und nicht zuletzt eine komplett fehlgeschlagene Berufsförderung. Bewerbungstraining zum hundertsten Mal, Coaching für gestandene Persönlichkeiten oder Rechenaufgaben aus der Grundschule zur Förderung der Konzentration: Maßnahmen nach ALG II bevormunden und entmündigen das Individuum mit seiner Berufserfahrung, seiner Biografie und seinem Können.
Wenngleich das Bundesverfassungsgericht die Sanktionen bei „Verstößen“ der Leistungsempfänger zumindest eingegrenzt hat, werden noch immer viel zu viele Kürzungen vorgenommen, welche oftmals ganze Familien – und nicht zuletzt Alleinerziehende – betreffen. Hartz IV ist dafür verantwortlich, dass immer mehr Haushalte in prekären Lebensverhältnissen oder sogar in Armut verharren müssen. Dass immer mehr Bescheide der Ämter fehlerhaft sind und eine steigende Zahl von Klagen anhängig ist, die nicht selten erfolgreich beschieden werden, macht deutlich: ALG II ist zu kompliziert, zu undurchsichtig und zu ungerecht. Der Druck auf die Mitarbeiter der Jobcenter, Ausgaben zu senken, lässt Entscheidungen fehleranfällig werden.
Es braucht eine radikale Abkehr von den Hartz-Reformen. Unterschiedliche Modelle liegen auf dem Tisch, um das missverstandene Prinzip vom „Fördern und Fordern“ endlich abzuschaffen und ein sinnvolles System zu etablieren, welches arbeitslosen Menschen vor allem ihre Freiheit zurückgibt. Schließlich können Kreativität, Motivation und Zielstrebigkeit nur dann wachsen, wenn dem Einzelnen die Fesseln gelöst werden.
Eine bedingungslose Mindestsicherung, durch die sich niemand mehr Gedanken über sein existenzielles Dasein machen muss, sondern sich komplett auf die eigene Weiterentwicklung fokussieren kann, wäre ein mögliches Konzept. Es würde viele Sozialleistungen zusammenfassen, Bürokratie einsparen und Selbstständigkeit unterstützen. Denn die Mär, wonach sich Menschen unter solchen Bedingungen in den Schaukelstuhl zurücklehnen würden, ist seit langem widerlegt. Wir sind von Natur aus darauf ausgerichtet, zu arbeiten.
Wir benötigen die Beschäftigung, um unserem Leben einen Sinn zu geben, unser Eigenbewusstsein zu stärken und uns abzulenken. Es wird immer einige Ausreißer geben, die sich auf die „faule Haut“ legen. Deren einzelnes Fehlverhalten kann aber nicht als Argumentation herhalten, den vielen Bereitwilligen, die am beruflichen Weiterkommen interessiert sind, einen Sockel vorzuenthalten, von dem aus sie sich selbstbestimmt fortentwickeln können.
Im Angesicht eines völligen Umbruchs der Arbeitswelt durch ein Voranschreiten von Digitalisierung und Mechanisierung bedürfen wir alternativer Gedankenkonstrukte, wie wir Menschen künftig beschäftigen können. Viele Berufsbilder werden körperlich weniger anspruchsvoll sein, zahlreiche Stellen werden wegfallen. Insofern braucht es eine Hinwendung zu guter Arbeit, welche uns von den Innovationen der Zukunft profitieren, den Menschen aber nicht unnötig werden lässt. In solch ein Umfeld passt kein „Hartz IV“, das Beschäftigung verhindert und Arbeitslosigkeit zunehmend einbetoniert.