Bundestagswahl: Echt verführerisch
Heiß sei ab sofort der Wahlkampf, wird erklärt, der Kampf um Stimmen nähere sich der Zielgeraden, die Urne sei in Sicht: Plakate, wohin man auch schaut, Fernsehspots unterschiedlichster Güte, Trielle. Und ausgerechnet jetzt mehren sich zwischen Kiel und Konstanz die Hinweise: Die vielen Menschen draußen im Lande verstehen die zu wählenden (in den politischen Machtzentren lebenden) Menschen gar nicht. Woran liegt das, fragt sich auch unser Autor.
Professor Frank Brettschneider, Universität Hohenheim, hat mit vielen anderen Wissenschaftlern die Störung erforscht: Noch nie waren die Wahlprogramme so lang wie 2021; im Schnitt 44.000 Wörter, 1949 waren es noch knapp 5.500. Und nur 1994 waren sie noch unverständlicher. Die Hohenheimer Experten wissen das, denn sie vergleichen: 83 Wahlprogramme haben sie, seit 1949, auf formale Verständlichkeit angeschaut; die Software stürzt sich vor allem auf überlange Sätze, Anglizismen, Nominalisierungen und Fachbegriffe. Die AfD kommt aktuell auf Bandwurmsätze mit bis zu 79 Wörtern. Die anderen Parteien legen ihrem Publikum Wortungetüme wie „Quellentelekommunikationsüberwachung“ (FDP, Linke), Fachbegriffe wie „Cell-Broadcasting-Technologie“ (CDU/CSU), „Cybergrooming“ (Grüne) oder „Life-Chain“ (SPD) vor. Noch ein paar Happen: „Fact-Finding-Mission“ (Grüne), „Agri-FoodTech-Wagniskapitalfonds“ (CDU/CSU), „supranationale Remigrationsagenda“ (AfD), „Antiziganismus“ (Die Linke), „Edge-Computing“ (SPD), „Carbon Leakage-Schutz“ (FDP), „eHealth-Roadmap“ (CDU/CSU), „Network Slicing“ (FDP). Jetzt reicht‘s.
Das ist bei den Plakaten ganz anders: ein Foto, ein paar Buchstaben, da kann nichts schiefgehen. In der Tat.
Zwei für Deutschland. Deutschland Aber normal. Zuhören und Zutrauen. Bereit, weil Ihr es seid. Kompetenz für Deutschland. Klima und Wirtschaft ohne Krise. Nie gab es mehr zu tun. Gemeinsam für ein modernes Deutschland. Soziale Gerechtigkeit wählen. Klimaschutz mit Wirkung: Sichere Arbeitsplätze. Aus Liebe zur Freiheit.
Sie wollen wissen, was von wem ist? Und wenn Sie gerade beim Raten sind: Aus welchem Jahr stammen diese Slogans: 2021, 2017, 2009, 1998? Richtig. Sie können aus 2021 sein, müssen aber nicht.
Natürlich gibt es auch dieses Mal bemerkenswerte Feinheiten. So plakatiert Die Linke zu dem von ihr wenig geliebten Thema Umwelt: „Klimaziel: Bus und Bahn überall und kostenlos.“ Die pro-europäische Partei Volt ist zum selben Thema betriebswirtschaftlich deutlich präziser: Sie ist für „fahrscheinfreies“ Fahren in Bus und Bahnen, weiß sie doch, dass öffentliche Angebote nie kostenlos sind. Und sehr feinfühlig schenkt die FDP der Baumarkt-Atmosphäre aus früheren Lockdown-Zeiten ein ganzes Plakat: „Es gab noch nie so viel zu tun.“ Die Grünen, die „für das historisch beste grüne Ergebnis aller Zeiten und die Führung in der nächsten Regierung“ kämpfen, versuchen es sogar kryptisch: „Bereit, weil Ihr es seid.“
[the_ad id=“79559″]
Und dann natürlich noch Olaf Scholz, der in diesen Tagen als gefühlt-neuer Kanzler über Wasser geht. Der traut sich eben auch was. Ein echter Genosse duzt („Respekt für dich“), und er ist ein echter Genosse; egal was Saskia meckert. Aber wer will sich von dem schon duzen lassen? Offensichtlich immer mehr. Ob ihm dabei hilft, dass er in Medien die Raute bildet, dass er aus dem Archiv Helmut Schmidt als politische Gehhilfe entwendet, dass er in Zeiten des Changierens zwischen Mensch und Maschine, in Zeiten von Künstlicher Intelligenz und intelligenten Cobots als „Scholz-o-mat“ mehr als Laschet und Barbock das neue digitale Deutschland zu verkörpern vermag … Aber das ist eine andere Geschichte.
Wichtiger ist doch zu klären: Wozu Plakate? Die schaut doch niemand an. Deshalb haben diese Slogans auch nichts zu sagen. Rausgeworfenes Geld! Dagegen sagen die Wahlkampfexperten: Plakate sind unentbehrlich, um die eigenen Leute zu mobilisieren, ihnen Selbstbewusstsein einzuflößen, Deine Partei ist präsent, Du bist nicht allein. Und dann sollen sie Aufmerksamkeit stiften bei allen anderen, diese einladen: Beschäftige Dich (Scholz; Laschet: Beschäftigen Sie sich bitte …) mit uns …
Und deshalb haben die Slogans viel zu sagen, deshalb brüten monatelang zahllose hochintelligente Analysten, Meinungsforscher, Spin-Doktoren über zig Untersuchungen (wie fühlt sich meine Hauptzielgruppe, was will sie, weiß sie, was sie will, wissen wir, was sie will, wie geht es meinen sieben Nebenzielgruppen etc.) über hunderten Vorschlägen, versuchen die jeweilige politische Botschaft in ein, zwei Worten zu verdichten.
Das Ergebnis: Die Berater sagen den Kanzlerkandidaten, am besten machen wir es doch wie immer (siehe oben). Egal wie die Wirklichkeit ist. Klar, wir wissen, die ist so, wie sie ist:
[the_ad id=“78703″]
Da gab/gibt es so eine Pandemie (die Alten sterben, Pech, digital läuft`s auch nicht) und auch noch eine Klimakatastrophe (Alternative: Überflutung oder 45 Grad im Schatten, da sterben die alten Menschen eben in aller Stille in ihren schlecht isolierten Wohnungen), alle reden deshalb von der Energie-, Digital-, Landwirtschafts- und Mobilitätswende, von Umsteuern und Aufbruch. Aber doch nicht im Wahlkampf. Der ist doch dazu da, damit sich die Menschen wenigstens einige Wochen vom Alltag erholen können. Mal abschalten, an nichts denken. Einfach nur Scholz in die Augen kucken, sich von ihm duzen lassen, die Fettnäpfchen von Baerbock und Laschet genießen …, dann gibt`s sogar noch einen Urnengang.
Also machen wir es wie immer: bloß niemanden aufregen. Die AfD plakatiert das normale Deutschland und wir behaupten es. Alles ganz normal, eigentlich beschaulich, alles unter Kontrolle, keine hässlichen Zielkonflikte, es gibt Wohlstand und bezahlbare Wohnungen und höhere Löhne und Klimaschutz und sichere Arbeit und … , was das Herz begehrt. Was nach der Wahl ist …
Hat am Ende Professor Hans-Jürgen Arlt, Kommunikationswissenschaftler an der Universität der Künste in Berlin, doch recht: „Wahlkämpfe sind auch Festivals gezielter Irreführung und strategischer Verführung.“ Offen ist, ob das „auch“ doch noch gestrichen werden muss.
Wolfgang Storz (Bild: O. Pugliese)
Der Beitrag erschien zuerst auf www.bruchstuecke.info
Ein schöner Satz aus einem Teaser der Süddeutschen Zeitung zum aktuellen Wahlkrampf:
„Warum sich die Menschen in Deutschland jetzt die SPD schönsaufen…“