Vincenz Oertles braune Welt
Zahlreiche „Hitlerschweizer“ dienten in der Waffen-SS. Dieses Thema ist ebenso brisant wie wenig bekannt. Vinzenz Oertle aus Gais (Kanton Appenzell Ausserrhoden) hat ausgiebig dazu geforscht und soeben ein neues Buch veröffentlicht. Doch der Autor wirft mit seiner unkritischen Einstellung neue Fragen auf. Dem heiklen Stoff jedenfalls wird er nicht gerecht. Denn über Schweizer Nazis wird noch heute nur ungern geredet – warum wohl?
Vincenz Oertle will mit Journalisten nicht reden. Er lehnt eine Interview-Anfrage ab. Es gebe zwei Gruppen, denen er grundsätzlich misstraue: Politiker und Journalisten. Weshalb, das lässt er offen. Er bleibt auch dann bei seiner Weigerung, als ihm erklärt wird, man wolle sein neues Buch «Ein Appenzeller in der Waffen-SS» vorstellen. Öffentlichkeitsscheu ist Oertle ansonsten nicht. Im Gegenteil tritt er oft vor Publikum auf. Der Verlag Druckerei Appenzeller Volksfreund, der seine Bücher heraus gibt, lud kürzlich in Appenzell im kleinen Ratssaal zur Vernissage. Unlängst referierte Oertle in der Bibliothek Widnau und beim Familienforschungsverein in Lachen SZ. Er ist zudem Gast bei Offiziersvereinen. So buchte ihn letztes Jahr die Offiziersgesellschaft Biel-Seeland für einen Vortrag zum Thema «Schweizer in der Fremdenlegion».
Faszination für Legionäre
Eine Frage beantwortet Oertle aber doch, nämlich als was er sich selber sehe – Historiker, Hobbyforscher oder Militärexperte? Der ehemalige Posthalter aus dem zürcherischen Maur, Feldwebel der Panzertruppen, Waffenläufer und seit zehn Jahren Pensionär, sagt dezidiert: «Ich bin Heereskundler.» Gemäß Lexikon ist Heereskunde eine Hilfswissenschaft der Militärgeschichte, die sich mit der Entwicklung der Streitkräfte und insbesondere mit ihrer Organisation, Bekleidung und Ausrüstung befasst. Oertle hat zwar auch Abhandlungen geschrieben, die perfekt in diese Kategorie passen. So zum Beispiel «Vom Remington zum Sturmgewehr 90». Das Buch behandelt die Schusswaffen der päpstlichen Schweizergarde und erschien im Jahr 2001. Es wurde von der Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitschrift als «Standardwerk» gewürdigt. Oertle ist aber vor allem von Schweizern fasziniert, die als Legionäre ihr Glück in fremden Heeren versuchten.
Das erste Buch, mit dem er von sich reden machte, erschien 1997 und trug den Titel «Sollte ich aus Deutschland nicht zurückkehren… Schweizer Freiwillige an deutscher Seite 1939-1945». Es handelt von jenen Schweizern, die im Zweiten Weltkrieg ins Dritte Reich überliefen und sich dort als Freiwillige dem Führer zur Verfügung stellten. Für solche braune Eidgenossen gab es in Stuttgart eine spezielle Empfangsstelle, das so genannte «Panoramaheim». Von dort aus wurde die Nazi-Propaganda gesteuert, und dort trafen sich demokratiemüde Schweizer, die nach einem Hitler-Einmarsch das Führungspersonal im «Gau Schweiz» stellen sollten. Alle Nazifans aus dem Ausland kamen in die Waffen-SS, in der Wehrmacht waren nur deutsche Staatsbürger zugelassen. Gegen 900 Schweizer gingen damals über die Grenze, ein großer Teil davon als überzeugte Nazis und «Fröntler». Manche überlebten das Abenteuer Ostfront nicht und kamen im nationalsozialistischen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion um. Insgesamt, Auslandschweizer und Doppelbürger mitgezählt, taten nahezu 2000 Schweizer Dienst unter Hitlers Befehl.
Bewunderung für Militaria
Oertles Verdienst ist es, dieses dunkle Kapitel aufgegriffen zu haben. Es ist von der akademischen Geschichtswissenschaft allzu lange Zeit rechts liegen gelassen worden, wohl weil man sich daran in Karriere gefährdender Weise die Finger verbrennen konnte. Über Schweizer Nazis wird noch heute ungern geredet, nicht zuletzt weil braune Neigungen in so manch bekannter Familie notorisch waren und beschwiegen werden. Als nebenamtlicher Hobbyforscher kannte Oertle keine akademischen Hemmungen, in diese Dossiers zu schauen. In jahrelangem Aktenstudium im Bundesarchiv in Bern kam vieles zum Vorschein, was noch nirgends zu lesen war.
Und jetzt folgt das große Aber. Oertle entpuppt sich als ein detailversessener Forscher ohne Konzept und Distanz zum Forschungsgegenstand. Im Gegenteil: Seine naive Faszination und Bewunderung für Militaria aller Art ließ ihn schweizerische Nazi-Karrieren so kritiklos und apologetisch darstellen, als wären sie die natürlichste Sache der Welt gewesen. Oertle traktiert überdies seine Leserinnen und Leser mit einer Unzahl von militärischen Details, von Dienstgraden und Truppennamen bis zu Auszeichnungen und Heeresnamen, während die großen politischen Zusammenhänge und die zeitgeschichtliche Einbettung unterbewertet werden bzw. schlicht fehlen. Seine Selbsteinschätzung als «Heereskundler» muss also wörtlich genommen werden.
Verharmlosung des helvetischen Nationalsozialismus
Der verharmlosende Umgang mit dem helvetischen Faschismus trug dem Autor die Kritik ein, mit dem Phänomen zu sympathisieren und damit einer revisionistischen Geschichtsschreibung Vorschub zu leisten. Jürg Frischknecht, Spezialist für Rechtsextremismus, ging noch weiter. Er rückte Oertle im Jahr 1998 in den Dunstkreis der unheimlichen Patrioten und nannte ihn einen «braunen Sympathisanten als Weisswäscher», weil er herausgefunden hatte, dass Oertle in SS-Postillen publizierte und sich in rechtsextremen Kreisen von Dritte-Reich-Nostalgikern bewegte. Einen Skandal löste das Vorwort zu Oertles Buch von Oberauditor Jürg van Wijnkoop aus. Darin nahm Wijnkoop Hitlers Mordtruppe mit den Worten in Schutz, «dass die Waffen-SS zwar nicht zu Unrecht in Nürnberg verurteilt wurde, aber doch nicht hinsichtlich der Gesamtheit ihrer Angehörigen über den gleichen Leisten geschlagen werden kann». Diese deplatzierte Bemerkung verharmlost den helvetischen Nationalsozialismus und zeugt von falscher Solidarität ebenso wie von ungutem Korpsgeist und politischer Blindheit. Armeechef Adolf Ogi musste intervenieren.
Oertles zweite Buchpublikation erschien im Jahr 2007 und befasst sich unter dem Titel «Endstation Algerien» mit den Schweizer Fremdenlegionären, die in Frankreichs kolonialistischem Algerienkrieg (1954-62) eingesetzt wurden. In der Einleitung schildert er, wie ihn als Sekundarschüler in Wattwil der Vortrag eines Fremdenlegionärs, der in Indochina gewesen war, beeindruckte und wie er die schrecklichen Geschichten über in Bambusfallen aufgespießte Legionäre nie mehr vergessen konnte. Auch in diesem Buch sucht man historische Zusammenhänge, die zum Verständnis des Algerienkriegs nötig sind, weitgehend vergeblich. Dafür schafft Oertle wiederum tonnenweise Einzelheiten aus den Militärdossiers des Bundesarchivs und teils auch aus Interviews mit Zeitzeugen oder aus deren Nachlässen ans Licht. Die Lektüre wird unter der Stoffmenge und dem verdrehten Schreibstil des Autors buchstäblich begraben, genau wie im Buch über die Hitler-Anbeter.
Oertles Sympathien mit den armen Kerlen, die sich in den Legionstruppen als Kanonenfutter verheizen ließen, sind offenkundig. Viele von ihnen waren vor der Polizei, dem Richter oder anderen Problemen in die Legion geflüchtet. Geschichte als kollektiver Prozess scheint in Oertles konzeptfreiem Narrativ zwar auf, aber lediglich in individuellen Einzelschicksalen ohne politisch-gesellschaftlichen Horizont. Es fehlt die saubere Begrifflichkeit und damit auch die Wissenschaftlichkeit. Sie geht in der schwindelerregenden Materialfülle unter. Ausufernde Originalabschriften aus Archivalien machen noch keine Geschichtsschreibung. So bezeichnet Oertle die Massenflucht in die Fremdenlegion – noch in den 1950er-Jahren sollen mehrere Tausend Schweizer in französischen Diensten gestanden sein – in Anlehnung an mittelalterliche Praktiken als «Reisläuferei». Dies, obwohl die Fremdenlegionäre der Nachkriegszeit wenig mit dem organisierten Söldnergeschäft der früheren Jahrhunderte zu tun haben.
Ein leidenschaftlicher Nationalsozialist
Im neuen Buch, das im letzten Dezember erschien, porträtiert Oertle den Appenzeller Heinrich Johann Hersche (1889-1971), dessen Eltern den Gasthof Weissbadbrücke in Weissbad führten. Hersche absolvierte eine Banklehre und schlug dann eine militärische Laufbahn im Instruktionsdienst ein, wo er es bis zum Kavalleriemajor brachte. Der Appenzeller war ein typischer Angehöriger der reaktionären Militärkaste, die den Landesstreik von 1918 als «bolschewistischen Aufstand» wahrnahm und die ihrerseits einem präfaschistisch-demokratiefeindlichen Autoritarismus huldigte. So ist das aber bei Oertle nicht zu lesen. Stattdessen scheint der Autor mit zu leiden, wenn er schildern muss, dass Hersche in finanzielle Schieflage geriet und schließlich aus der Armee zwangsausgemustert wurde. Hersche landete bei den Frontisten, wo er als «Organisationsleiter» der Nationalen Bewegung Schweiz (NBS) aktiv war. Der Appenzeller gab später zu, ein «leidenschaftlicher Nationalsozialist» gewesen zu sein, entschuldigte diesen Irrtum aber mit seiner patriotischen Einstellung – eine häufige Ausrede von Nazi-Tätern nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs.
Ende 1941, als Hitler weite Teile Europas besetzt hielt und sich seine Herrschaft dem Zenith näherte, flüchtete Hersche nach Deutschland, wo er sich eine Fortsetzung der militärischen Karriere unter Gleichgesinnten erhoffte. Das war denn auch der Fall: Der Innerrhoder war laut Oertle als Sturmbannführer, was dem Majorsrang entsprach, der zweithöchste Schweizer in der Waffen-SS, wenn auch ohne Fronteinsatz, da er als Instruktor tätig war. Oertles Fokussierung auf den Kommiss und die militärischen Tugenden lässt wiederum vergessen, dass die Waffen-SS unter dem Kommando von Heinrich Himmler die eigentliche Mordtruppe des NS-Regimes und mitverantwortlich für den Holocaust und zahllose Kriegsverbrechen war. Hersche wird als treu sorgender Kommandeur und Ausbilder geschildert, der sich für seine Untergebenen selbstlos aufopferte und nur das Beste wollte. In dieser militaristischen Optik wird ein nationalsozialistischer Täter wieder einmal zum Opfer von ungünstigen Zeitumständen, damit entpolitisiert und moralisch tendenziell entlastet.
Braune Schatten fallen auf den Autoren zurück
Nach der US-Gefangenschaft kam Hersche 1947 vor’s Divisionsgericht St.Gallen, das ihn wegen Ungehorsam und fremdem Militärdienst zu vergleichsweise milden zwölf Monaten Gefängnis verurteilte. Der Schweizer Nazi Eugen Corrodi, der sich ebenfalls der Waffen-SS angeschlossen hatte, war noch zu 30 Monaten Gefängnis verurteilt worden. Hersche saß die Strafe im St.Galler Gefängnis St.Jakob ab. Schon nach einem halben Jahr kam er wieder frei. Als einst bekennender Nazi konnte der zackige Appenzeller trotz seiner Reuebekundungen in der zivilen Schweizer Nachkriegsgesellschaft nicht mehr Fuß fassen. Er starb 1971 in der Innerschweiz. Auch hier blendet Oertles «Heereskunde» die soziale Frage nach der Integration des ehemaligen «Hitlerschweizers» völlig aus. Man erfährt lediglich, dass er mit Frontkameraden in Kontakt stand, die sich in einer feindlichen Umwelt ewige Freundschaft geschworen hatten. Am Schluss der Lektüre bleibt Hersche als ein «durch das Schicksal hart geprüfter Mensch» zurück und mutiert so vom überzeugten Hitler-Anhänger zu einem bedauernswerten Opfer der Zeitläufte.
Hersche war nicht der einzige SS-Freiwillige aus dem Appenzell. Oertle führt mehrere weitere Personen auf, die ihr Heil im Dritten Reich suchten und dort in Kampfverbänden dienten. Einer von ihnen, der Konditor Otto Frischknecht aus Schwellbrunn, fand an der Ostfront in Karelien den «Heldentod im Kampf um die Freiheit unserer geliebten Heimat, getreu seinem Fahneneid für Führer, Volk und Vaterland», wie es in der Kondolenzmitteilung des deutschen Konsulats in St.Gallen an die Hinterbliebenen hieß. Indem Oertle erneut den politischen Kontext der Schweizer SS-Freiwilligen unbeachtet lässt, sie stattdessen auf eine rein militärische Dimension reduziert und dabei noch einen hoch apologetischen Ton anstimmt, fallen die braunen Schatten der Vergangenheit wiederum auf ihn selbst zurück.
Ungute Erinnerungen an eine verunglückte Ausstellung
Das Buch weckt ungute Erinnerungen an die verunglückte Ausstellung «Kälte, Hunger, Heimweh» im St.Galler Historischen Museum Anfang 2009, wo es ebenfalls um Schweizer Nazis in Hitlers Diensten ging. Dort wurden Materialien von Oertle, der auch ein passionierter Sammler von Orden und militärischen Devotionalien ist, unkritisch dem Publikum präsentiert.
Beim Erscheinen seines ersten Buches wurde Oertle vorgeworfen, er betreibe die Verharmlosung von SS-Freiwilligen. Dieser Vorwurf kann ihm auch jetzt nicht erspart bleiben. Oertle ist ein geistiger Legionär und Rechtsaußen geblieben, der die Schweiz für eine «in Völlerei, Konsumrausch, Egoismus und Gleichgültigkeit verkommene Gesellschaft» hält, wie er einmal in einem Leserbrief an die «Schweizer Familie» schrieb. In einem anderen Leserbrief gab er sein militaristisches Credo zum Besten: «Ich taxiere die Schweizer Armee als Ansammlung uniformierter Zivilisten und daher als kriegsuntauglich. Von soldatischem Geist keine Spur, das äußere Erscheinungsbild schreit zum Himmel.»
Autor: Ralph Hug/Saiten
Vor kurzem habe ich Propagandamaterial von und über Vincens Oertle in die Finger bekommen und war erschüttert, in welchen Maße auch die Schweiz, respektive doch mehrere tausend ihrer Bürger in die Verbrechen des Hitlerregimes beteiligt waren Ich selbst, mein Vater ist im KZ umgekommen, habe dreißig Jahre in der Nationalen Volksarmee (Oberstleutnant) der Deutschen Demkratischen Republik gedient und ich bin fassungslos was da, wenn auch spät, zu Tage kommt kommt. Eine Aufarbeitung dieses Themas habe ich bei meinen bisherigen Schweizbesuchen nicht feststellen können. „Neutralität“ ist etwas anderes und „Doppelmoral“ auch !!!